Rezension über:

Ann Goldberg: Honor, Politics and the Law in Imperial Germany, 1871-1914 (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2010, XI + 215 S., ISBN 978-0-521-19832-5, GBP 55,00
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Rezension von:
Martin Kohlrausch
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Martin Kohlrausch: Rezension von: Ann Goldberg: Honor, Politics and the Law in Imperial Germany, 1871-1914, Cambridge: Cambridge University Press 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 2 [15.02.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/02/17861.html


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Ann Goldberg: Honor, Politics and the Law in Imperial Germany, 1871-1914

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Die Vermischung von Politik, Ehre und Recht, bis hin zu vermeintlich getönten Haaransätzen des Bundeskanzlers, ist bis heute ein umkämpfter Bereich. Ann Goldberg, Historikerin an der University of California, Riverside, erkennt im rechtlichen Umgang mit der Ehre sogar ein wichtiges Kontinuitätsmoment der deutschen Geschichte, einen Sonderweg, - wenn auch keinen direkten und geraden und nicht im Sinne der "klassischen Lehre". Ihre Studie widmet sich den Zusammenhängen von Recht, Ehre und Politik, die bisher vor allem durch die umfangreiche Literatur zu Duellen untersucht wurden. Goldberg konzentriert sich auf das Kaiserreich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs - aus Sicht der Autorin sowohl Höhepunkt der 'Kultur' der Verleumdungsklagen - mit gut 84.000 im Jahr 1910 - als auch deren wichtigste Transformationsphase.

Die Studie zeichnet zunächst die rechtliche Entwicklung des Ehrbegriffs seit der frühen Neuzeit nach. Goldberg geht davon aus, dass - entgegen gängiger Annahmen - in Deutschland keineswegs mit der Modernisierung der Gesellschaft die Kategorie Ehre an Bedeutung verlor, sondern - wie das moderne Instrument der Privatklage zeigt - in vielfältiger Weise mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft verbunden und der spezifischen deutschen Ausprägung des Rechtsstaats verbunden war. Dabei geht es der Studie nicht in erster Linie darum zu zeigen, wie trotz des Ausbaus des Rechtsstaates und der formalen Rechtsgleichheit der Bürger überkommene soziale Hierarchien - und damit auch Statusdifferenzen, die dem Konzept der Ehre zugrunde lagen - konserviert und mit neuen Mitteln abgesichert wurden. Vielmehr geht es darum, wie die Kategorie Ehre in neuen Kontexten Bedeutung erlangte. Entscheidende Bedeutung misst Goldberg hierbei der Wiederentdeckung der Privatklage zu. Der klassische Liberalismus des 19. Jahrhunderts hatte im Recht jedes Bürgers, seinen Fall auch jenseits des staatlichen Anklägers vor Gericht zu bringen, ein wirkmächtiges Instrument gegen staatliche Willkür gesehen. Die Strafprozessordnung von 1877 sah tatsächlich umfassende Klagemöglichkeiten für 'gekränkte' Bürger vor und vermischte dabei in eigenartiger Weise zivil- und strafrechtliche Aspekte. Anders als etwa in Frankreich, wo die die fraglichen Probleme regelmäßig außerhalb des Gerichtssaals behandelt wurden, entwickelte sich die über eine Privatklage verteidigte Ehre in der Folge zu einem äußerst populären Instrument in Deutschland.

Nach der Skizzierung der rechtlichen Entwicklung verfolgt Goldberg, etwas collagenhaft, das Auftreten von Privatklagen im Zusammenhang mit Ehrfragen im Alltag des Kaiserreichs. Das Instrument diente den herrschenden Schichten - denen die Gerichte hierin regelmäßig folgten - zur Absicherung ihres vermeintlich herausgeforderten Status. Allerdings konnten derartige Klagen auch bestehende Hierarchien und Geschlechterrollen herausfordern. Insbesondere am Beispiel neu errichteter berufsständischer Ehrengerichte im Zuge der Professionalisierung - also als genuin neuzeitliche Einrichtungen und nicht als traditionelle Relikte - kann Goldberg überzeugend die neuen Dimensionen der Kategorie Ehre belegen.

Während es hier darum ging, Autonomie gegenüber dem Staat zu gewinnen bzw. zu sichern, traten staatliche Organe selbst in hohem Maße als Einkläger einer vermeintlich herausgeforderten Ehre auf. Zwar war die Beamtenbeleidigung formal nicht mehr Bestandteil der Strafgesetzgebung des Reiches, faktisch gedeckt durch höchstrichterliche Rechtsprechung klagten Amtsträger aber regelmäßig erfolgreich unter Berufung auf ihre offizielle Funktion. Vorreiter dieser extensiven Auslegung war Reichskanzler Otto v. Bismarck selbst, dem kaum ein Anlass zu nichtig für eine Klage war. Goldberg unterstreicht aber, dass spätestens mit Bismarcks Abgang ein staatlicher Lernprozess einsetzte, der in einer massiven Ernüchterung gründete. Angesichts einer immer kritischeren und potenteren Massenpresse, hatte sich Bismarcks Instrument der Wahl nicht nur als stumpfes Schwert erwiesen. Vielmehr richteten die fraglichen Prozesse zunehmend mehr Schaden als Nutzen für die Regierung an. Die Öffentlichkeit wurde durch Klageerhebung überhaupt erst auf Regelverstöße aufmerksam und die rechtliche Vorkehrung des Wahrheitsbeweises gab der Verteidigung Mittel in die Hand, die Regierung bzw. staatliche Stellen vorzuführen.

Am eindrücklichsten zeigte sich diese Ambivalenz im Eulenburgskandal. Goldberg stellt heraus, wie es der Beklagte und später klagende Journalist Maximilian Harden verstand, die Rechtsmittel im Zusammenspiel mit der veröffentlichten Meinung virtuos zu nutzen. Trotz massiver Eingriffe der Staatsspitze gelang es dieser nicht, eine öffentliche Bloßstellung hoher Staatsrepräsentanten - zuvorderst des Vertrauten des Kaisers, Philipp Fürst Eulenburgs - zu verhindern. Goldberg unterstreicht, wie sehr es dieser Skandal war, der die Reichsleitung dazu brachte, die einschlägigen rechtlichen Instrumentarien zu überprüfen. Der von den Gegnern unmittelbar als "Lex Eulenburg" erkannte und attackierte Gesetzentwurf wurde allerdings nie verabschiedet. Während die Reichsleitung versuchte, den Wahrheitsbeweis einzuschränken - und damit, wie Goldberg anmerkt, letztlich Deutschland in Einklang mit dem europäischen Mainstream der Gesetzgebung zu bringen - waren es vor allem sozialdemokratische und liberale Kräfte, die zu recht den Eulenburgskandal und dessen unliebsame Auswirkungen als Regierungsmotiv vermuteten und schärfere Zensurmaßnahmen fürchteten. Die einschlägigen Reichtagsdebatten zeigen deutlich, wie ambivalent die Materie war und dass sich die jeweiligen juristischen Positionen keineswegs eindeutig politischen Strömungen zuordnen lassen.

In einem abschließenden Kapitel zur juristischen Mobilisierung der Ehre durch marginalisierte Gruppen, am Beispiel von Juden und Psychiatrieopfern, zeigt Goldberg diese Ambivalenz noch einmal auf. Der "Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" nutzte etwa systematisch die Gesetzgebung gegen Diffamierung, um gegen Antisemiten vorzugehen. Allerdings kassierte das Reichsgericht 1881 eine Rechtsprechung, die die kollektive Beleidigung der Juden sanktionierte - mit langfristig fatalen Folgen. Im Zuge der vielfältigen Bewegung zur "Irrenrechtsreform" nutzten Psychiatrieopfer die Klagemöglichkeiten im Zusammenspiel mit der Veröffentlichung ihrer Schicksale in Pamphletform, um die eigene Sache bzw. die der Bewegung zu befördern. Die angegriffenen Stellen reagierten hierauf wiederum mit der Evozierung der neuen Diagnose des "Querulantenwahnsinns", die nahelegte, dass das übermäßige Heranziehen juristischer Mittel als solches den Kläger bereits als unzurechnungsfähig entlarve.

Nach diesen Maßstäben, stellt man die zahlreichen Beispiele der Studie in Rechnung, hätte sich noch ein weitaus größerer Teil der Deutschen um 1900 an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn bewegt. Goldberg zeigt überzeugend auf, dass die Fälle, die oftmals Heinrich Manns Untertan wie ein mildes Porträt erscheinen lassen, nicht auf das 'Querulantische' reduziert werden sollten. Vielmehr fungiert das Wechselspiel des sich ausdehnenden Rechtsstaates und seiner Inkorporierung der Ehre als signifikantes Beispiel des spezifisch deutschen Weges in die Moderne, als oftmals unbeholfene Antwort auf Mobilisierungsprozesse und soziale Verwerfungen. Dieser Weg war, wie Goldberg überzeugend herausarbeitet, nicht zuletzt dadurch geprägt, dass rechtliche Besitzstände zivilgesellschaftliche und politische Freiheiten substituierten.

Martin Kohlrausch