Rezension über:

Stephan Kemperdick: Deutsche und böhmische Gemälde 1230-1430. Gemäldegalerie Berlin - Kritischer Bestandskatalog, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2010, 256 S., Mittlerweile erschienen UF, ISBN 978-3-86568-525-4, EUR 69,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Christian Hecht
Institut für Kunstgeschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Christian Hecht: Rezension von: Stephan Kemperdick: Deutsche und böhmische Gemälde 1230-1430. Gemäldegalerie Berlin - Kritischer Bestandskatalog, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 3 [15.03.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/03/19024.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Stephan Kemperdick: Deutsche und böhmische Gemälde 1230-1430

Textgröße: A A A

Die mittelalterliche Malerei Deutschlands und Böhmens bildet einen der nicht wenigen Sammlungsschwerpunkte der Berliner Gemäldegalerie. Nach heutiger Zählung handelt es sich um 33 Objekte. Fünf weitere müssen als Kriegsverluste gelten. Sie alle werden von Stephan Kemperdick im vorliegenden Katalog untersucht - und zwar mit bisher unerreichter wissenschaftlicher Tiefenschärfe.

Geordnet sind die Werke nach ihrer Entstehungszeit. Jede Katalognummer behandelt zuerst den materiellen Bestand, dann werden Angaben zur Provenienz gemacht. Es folgen die gemäldetechnologischen Befunde. Ihnen schließen sich eine Beschreibung an sowie ein ausführlicher Kommentar. Für die meisten Katalognummern sind die gemäldetechnologischen Befunde zentral, die durch aussagekräftige Abbildungen ergänzt werden. Vor allem dank der Dendrochronologie werden für viele Werke erstmals Datierungen vorgelegt, die als weitgehend gesichert gelten können. Bloße Befunde aber reichen nicht, sie brauchen Interpretation. Daher begnügt sich der Katalog nicht mit nackten Jahresringen und Fälldaten, sondern stellt diese immer in kunsthistorische Zusammenhänge.

Am Beginn stehen die beiden älteren Retabel der Soester Kirche St. Maria zur Wiese. Das Kreuzigungsretabel (10-21) datiert Kemperdick auf "um 1240" das Gnadenstuhlretabel (22-29) auf "um 1250/60". Bei der Behandlung dieser epochalen Werke wartet Stephan Kemperdick gleich mit mehreren Sensationen auf. Eindeutig weist er die Provenienz der beiden Tafeln aus St. Maria in palude nach, dem Vorgängerbau der Wiesenkirche. Beide Tafeln standen jedoch nicht isoliert auf ihren Altären, sondern gehörten zu Altarensembles. Diese Tatsache kann kaum überschätzt werden. Unbezweifelbar besaß jedes der beiden Retabel einen großen Altarbogen. Beide sind noch in Soest vorhanden (Abb. 7-9 und Abb. 19-21). Man wird einen solchen Bogen als "flächenhafte Variante eines Altarbaldachins" (15) verstehen müssen. Die Zusammengehörigkeit dieser Objekte war hin und wieder schon vermutet worden, doch fehlten bisher genaue Vermessungen, die diese Vermutung bestätigt hätten. Daher konnten selbst profunde Kenner der Soester Tafeln von ihnen nur ein eingeschränktes Bild haben, das mehr durch die museale Präsentation als durch die ursprünglichen liturgischen Verhältnisse bestimmt war. Dank der vorurteilsfreien Analyse von Stephan Kemperdick lassen sich diese Verhältnisse nunmehr ziemlich genau verstehen. Es geht nicht um eine Randnotiz zu zwei, wenn auch wichtigen Tafelbildern, sondern um eine wesentliche neue Erkenntnis zur Geschichte des Retabels überhaupt. Diese Geschichte wird umgeschrieben werden müssen - man kann es nicht anders sagen. Vor allem sieht man nun, wie eng die Beziehung von Baldachin und Retabel ist. Das hätte man z. B. mit Blick auf einige schwedische, bogengekrönte Retabel schon ahnen können, aber bei diesen und ähnlichen Werken schien es sich doch um Ausnahmen zu handeln. Wie nun die Soester Retabel belegen, waren sie das sicher nicht. Es dürfte sich um übliche Kombinationen handeln. So hat es vor einiger Zeit bereits Verena Fuchß in ihrer Dissertation "Das Altarensemble" gesehen (21). Die Linien ließen sich, was hier nur angedeutet werden kann, noch erheblich weiter ausziehen. So dürften die Soester Retabel auch für die Geschichte der Bilderverehrung von Bedeutung sein. Ebenso wird man sie bei der Frage nach den Anfängen des Lettners berücksichtigen müssen. Doch damit nicht genug. Auch für das dritte aus der Wiesenkirche stammende Retabel kann Kemperdick neue Erkenntnisse vorlegen (52-57). Das Werk ist "um 1340/50" entstanden. Es zeigt eine Majestas Domini und acht stehende Heilige. Nachdem bis jetzt nicht völlig sicher war, ob es sich wirklich um ein Retabel handelt, sind dank eines genauen Abgleichs mit Mensa und Stipes daran nun keine Zweifel mehr möglich. Die Geschichte der Altarausstattung der Wiesenkirche dürfte Kemperdick geklärt haben.

Aus der Menge der übrigen Werke können nur wenige herausgegriffen werden. Besonders verwiesen sei auf die "Kaufmann'sche Kreuzigung" (68-77) bei deren Behandlung die vorsichtig abwägende Vorgehensweise Kemperdicks gut deutlich wird. Das singuläre Werk wird nicht mit Gewalt auf einen Punkt lokalisiert, sondern es wird in dem böhmisch-österreichischen Großraum eingeordnet, in dem es "um 1340/50" entstanden sein dürfte.

Weiterhin sei auf die Nürnberger Kunstproduktion verwiesen. Sie ist in Berlin durch eine wichtige Tafel (88-97) vertreten, die Beziehungen zu Werken westlicher Herkunft aufweist, die aber vor allem in nächster Nähe zum Nürnberger Jakobiretabel steht, das seit seiner letzten Restaurierung wieder lesbarer geworden ist. Kemperdick betont die Verbindung zu diesem Werk sowie zum Nürnberger Klarenaltar. Ähnlich tat er es bereits 2002 im Katalog der Frankfurter Kabinettausstellung "Avantgarde 1360" und 2005 im Katalog der Ausstellung "Krone und Schleier". Damals trat er noch entschiedener für eine Herkunft der Tafel aus dem Nürnberger Klarenkloster ein (94). Seine Argumente für eine Herkunft aus diesem Konvent sind weiterhin überzeugend, zumal es in der Region kein anderes bedeutendes Klarissinnenkloster gab. Es bleibt jedoch die Schwierigkeit, das Retabel mit einem bestimmten Altar in Beziehung zu bringen.

Ein überraschende Neuzuschreibung nimmt Kemperdick bei einem kleinen Diptychon (Kat.-Nr. 1620) vor, das bisher meist als "französisch, um 1400" galt und nunmehr nach Niedersachsen lokalisiert wird (124-129). Man staunt. Doch dann erweisen sich Kemperdicks Argumente als hieb- und stichfest. Seine Arbeitsweise, die naturwissenschaftliche Untersuchungsergebnisse mit kunsthistorischen Erkenntnissen kombiniert, bewährt sich bestens. Besonders überzeugt der Vergleich mit einem in Hannover befindlichen Diptychon, das ein Nachfolger des Meisters des Göttinger Jacobikirchenaltars geschaffen hat. Als "französisch" waren die Täfelchen keine besondere Sensation, aber jetzt erweisen sie sich als Zeugen einer ansonsten weitgehend verlorenen hochqualitätvollen Kunstproduktion des nord- und mitteldeutschen Raums.

Der vorliegende Katalog liefert bei allen Nummern Informationen zur Ikonografie. Diese Passagen, die souverän Quellentexte und aktuelle Forschungsliteratur rezipieren, sind eine Stärke des Katalogs, denn Kemperdick wird sowohl einem Fachpublikum gerecht als auch den vielbeschworenen interessierten Laien. Er konzentriert sich auf Informationen, die direkt auf die Bilder bezogenen sind. Natürlich werden auch alle Inschriften ediert und übersetzt. Beispielhaft erwähnt seien die Ausführungen zur komplexen Wormelner Tafel (98-105), die "Maria als Thron Salominis" zeigt. Kemperdick erzwingt keine Antworten, sondern begnügt sich nötigenfalls mit Deutungsvorschlägen. Nicht völlig gelöst wird das Problem der unter der Gottesmutter gezeigten "tumba gygantis" (Grab des Riesen). Kemperdick sieht in dem Riesen eine Kollektivperson, die die gesamte Menschheit vertritt. Schwierig bleibt aber die Inschrift. Vielleicht gibt es dennoch einen Bezug zu Christus, der in der Menschwerdung aus einem "Riesen" zu einem "Zwerg" wurde, wie etwa Konrad von Würzburg in der "Goldenen Schmiede" schrieb. Ein Mönch war der Tote jedenfalls nicht, denn ihm fehlt die Tonsur. Er war höchstens ein Laie, der im Mönchsgewand beigesetzt wurde. Doch wäre dann wohl der Habit deutlicher gekennzeichnet.

Die Stärken des vorliegenden Katalogs sind damit noch keineswegs alle aufgezählt. Überragend ist die Qualität der Abbildungen. Besonders dankbar ist man für die Rückseiten, für die Details, die Infrarotflektografien und Röntgenaufnahmen, die Vergleichsabbildungen, einige Rekonstruktionen usw. Sehr nützlich ist ferner die Zusammenstellung der "veränderten Zuschreibungen gegenüber dem Verzeichnis von 1996" (244).

Trotz der Vielzahl der gebotenen Informationen wird der Katalog nie weitschweifig. Auch aus diesem Grund bleibt er ein handliches Buch, das man problemlos vor den Objekten benutzen kann. Mit einem Wort: Ein wissenschaftlicher Katalog, wie man ihn sich nicht besser wünschen kann.

Christian Hecht