Rezension über:

Thekla Kleindienst: Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 22), Marburg: Herder-Institut 2009, XII + 434 S., ISBN 978-3-87969-358-0, EUR 49,00
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Rezension von:
Stefan Lehr
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Lehr: Rezension von: Thekla Kleindienst: Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, Marburg: Herder-Institut 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 7/8 [15.07.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/07/20212.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Thekla Kleindienst: Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik

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In den letzten Jahren lag ein Schwerpunkt der Historiografie-Forschung auf der kritischen Aufarbeitung der deutschen "Ostforschung" in der Zeit des "Dritten Reiches". Dabei fragten die Autoren auch nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Es ging unter anderem um die Verstrickungen von Historikern in die nationalsozialistische Politik, die in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg eine besonders brutale und verbrecherische Form annahm. Diese Arbeiten befassten sich verständlicherweise nur am Rande mit der Nachkriegszeit. Wenn sie es taten, konzentrierten sie sich auf die personellen und methodischen Kontinuitäten in den ersten Jahren nach dem Krieg, ohne die weitere Entwicklung der deutschen Osteuropaforschung in der Bundesrepublik Deutschland zu behandeln.

Umso mehr ist die hier vorliegende Arbeit zu begrüßen. Sie setzt sich das Ziel, die außeruniversitäre Osteuropaforschung in der Bundesrepublik von den 1950er bis in die 1990er Jahre hinein zu untersuchen. Mögen bezüglich des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in der demokratischen Bundesrepublik im Unterschied zur Hitlerdiktatur auch wenig spektakuläre Ergebnisse zu erwarten sein, so ist die Frage nach Vorgaben und Beeinflussung der Forschung durch Politiker sowie vice versa doch von allgemeinem Interesse.

Die an der Universität Rostock entstandene Dissertation verfolgt in drei großen, chronologisch angelegten Kapiteln die institutionelle Entwicklung der außeruniversitären Osteuropaforschung unter jeweils veränderten politischen Verhältnissen. Nach Einleitung und Begriffserklärungen betrachtet Thekla Kleindienst den Neu- und Wiederaufbau der "Ostforschung" in den 1950er-Jahren, der im Zeichen des Kalten Krieges und ideologischer Blockkonfrontation erfolgte (Kapitel 3). Daran schließt sich ein Abschnitt zu den ausgehenden 1960er und den 1970er Jahren mit der neuen Ostpolitik Willy Brandts an (Kapitel 4). Ein weiterer Teil ist den Umstrukturierungen der Osteuropa-Institute in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa gewidmet (Kapitel 5). Diese drei großen Kapitel schildern zusammenfassend zunächst die politischen Beziehungen der Bundesrepublik zu den Ländern Osteuropas. Anschließend gehen sie auf die Auswirkungen für die Osteuropaforschung ein. Für die beiden letzten Abschnitte des Buches sind die Gutachten des Bundesrechnungshofs über die Osteuropa-Institute aus den Jahren 1974 und 1996 und deren Folgen für die Osteuropaforschung zentral. Zudem rezipiert Kleindienst die Diskussion über die Osteuropaforschung unter den Osteuropahistorikern, wie sie sich in den 1990er Jahren vor allem in der Zeitschrift Osteuropa widerspiegelte. Das sechste Kapitel behandelt schließlich die Politikberatung am Beispiel des Verhältnisses zwischen den Trägern der Osteuropaforschung und den Bundesministerien.

Bei den Neu- und Wiedergründungen in den 1950er Jahren handelte es sich institutionell um das Osteuropa-Institut, das Institut für Ostrecht, das Südost-Institut und das Collegium Carolinum in München, den Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat beziehungsweise das Herder-Institut in Marburg und die Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung in Göttingen und Tübingen. 1961 kam das Kölner Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOST) hinzu, bis 1966 unter dem Namen "Bundesinstitut zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für Sowjetologie) ". Diese Neugründung sollte sich explizit mit dem Kommunismus beschäftigen. Das BIOST unterschied sich durch neue Forschungsansätze und -methoden von den älteren, überwiegend auf die historische Forschung ausgerichteten Einrichtungen. Größere Änderungen im Institutionsgefüge erfolgten erst auf Anregungen eines Gutachtens des Bundesrechnungshofs von 1996. So gingen das BIOST und die gegenwartsbezogene Abteilung des Südost-Instituts 2001 im Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin auf. Der Fokus dieser Institution liegt auf praxisrelevanter und gegenwartsbezogener Forschung. Auch in Bayern konnte man mit der 2007 erfolgten Vereinigung des Osteuropa-Instituts, des Instituts für Ostrecht und der geschichtlichen Abteilung des Südost-Instituts zum Wissenschaftszentrum Ost- und Südosteuropa und dessen Übersiedlung nach Regensburg einen Trend zur Zusammenlegung von benachbarten Instituten beobachten.

Die Verfasserin zeichnet überzeugend einen tiefgreifenden Wandel nach: von der überwiegend auf das Deutschtum bezogenen und als "politischen Abwehrkampf" (34) betriebenen "Ostforschung" der 1940er und 1950er Jahre hin zu einer modernen, international ausgerichteten Osteuropaforschung. Deren Durchsetzung in den 1970er Jahren sei eine Folge sowohl der neuen Ostpolitik als auch eines Generationswechsels gewesen.

Kleindienst geht von einer "stetigen Kausalität" zwischen politischen Ereignissen und Umstrukturierungen der Osteuropa-Forschungslandschaft aus (324). Sie macht deutlich, dass die Vorgaben von der Politik kamen, nicht umgekehrt. Deren Akteure forderten immer wieder eine politikberatende, politiknahe Forschung. Auch die institutionellen Veränderungen erfolgten stets auf politischen Druck, woraus Kleindienst eine "mangelnde Erneuerungs- und Reformfähigkeit" der Osteuropaforschung ableitet (325).

Die vorliegende Untersuchung hat einen meist deskriptiven Charakter und konzentriert sich vorwiegend auf finanzielle, verwaltungstechnische und institutionelle Aspekte. Solide Informationen erhält der Leser bezüglich der Ressortzugehörigkeit der Institute, der ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel und ihres Personalbestands sowie der diesbezüglichen Veränderungen im Untersuchungszeitraum. Außerdem werden die Auseinandersetzungen hinsichtlich der Finanzierung der Münchener Institute zwischen dem Bund und dem Land Bayern dargestellt. Die wissenschaftlichen Forschungstätigkeiten und Leistungen der Mitarbeiter der untersuchten Einrichtungen behandelt Kleindienst leider nur am Rande. Auf die Beschäftigung mit der deutschen Ost(europa)forschung in Ostmitteleuropa und von Seiten des osteuropäischen Exils wird nicht eingegangen.

Die zahlreichen Doppelungen und Wiederholungen der Kurzbiografien (beispielsweise 11 und 397 f.) und Tabellen (190 und 227) hätten sich vermeiden lassen. Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, über die bisher weitgehend unbekannten Lebensläufe leitender Wissenschaftler der Osteuropaforschung mehr zu erfahren. Warum fehlen beispielsweise Personen wie Roderich Schmidt oder Bernhard Stasiewski bei den Lebensbildern (und übrigens auch im Personenregister, obwohl sie auf Seite 207 als Direktor beziehungsweise Vorstandsvorsitzender des Herder-Instituts beziehungsweise -Forschungsrats in den Jahren 1972-1990 genannt sind)? Wie ist die Auswahl der Kurzbiografien im Anhang (394-401) begründet? Hilfreich wäre es auch gewesen, mehr über die Bedeutung der politischen Zugehörigkeit der einzelnen leitenden Osteuropahistoriker zu erfahren. Diese punktuellen Defizite dürften jedoch dem institutionellen Ansatz sowie Schutzfristen beim Aktenzugang geschuldet sein.

Insgesamt liefert die Arbeit einen interessanten Überblick über die wechselvolle institutionelle Entwicklung der außeruniversitären Osteuropaforschung.

Stefan Lehr