Rezension über:

Franz Adlgasser (Hg.): Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg. Tagebücher 1839-1858 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs; Bd. 98), Wien: Böhlau 2011, 3 Bde., 1919 S., ISBN 978-3-205-78612-2, EUR 149,00
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Rezension von:
Dieter Langewiesche
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Rezension von: Franz Adlgasser (Hg.): Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg. Tagebücher 1839-1858, Wien: Böhlau 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/19351.html


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Franz Adlgasser (Hg.): Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg

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"Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste, es wird sie kennen, achten und lieben lernen, und die Zeit wird kommen, so hoffe ich, wo ich auf den Schwingen der öffentlichen Meinung auf den Platz gelangen werde, welcher mir gebührt, zu dem ich mich berufen fühle."

Dieses exaltierte Selbstbild, das er am 20. September 1840 seinem Tagebuch anvertraute, grundiert sein Leben. Als er im März 1849 zurückblickte, notierte er als "Hauptfacit", es habe sich bestätigt "daß ich zum Befehlen, zum absoluten Minister tauge, nicht aber dorthin, wo ich mich schmiegen und winden muß." Diese ersehnte Position erreichte er nie. Im Staatsdienst blieb er auf unbesoldeten Stellungen. Sie als Sprungbrett in die Diplomatie oder in eine zentrale Behörde zu nutzen, misslang. Vermutlich auch, weil er sich häufig lange Urlaube gönnte, überzeugt, "dieses dumme Bureauleben zersplittert meine kostbare Zeit ohne Rettung." Als ihm 1848 die Stelle des österreichischen Bundespräsidialgesandten angeboten wurde, lehnte er ab, weil er in Frankfurt als Abgeordneter bessere Wirkungsmöglichkeiten für sich sah. Diese Fehleinschätzung ließ sich nicht mehr korrigieren. Den Weg zurück in den Staatsdienst versperrte ihm die Reaktionsstimmung in der Bürokratie, nachdem er zuvor, als die politische Situation noch nicht so verhärtet gewesen war, die Aussicht auf eine Stelle in der Provinz abgelehnt hatte. Danach war es zu spät für ihn. 1854 wurde er schließlich noch seiner "hohen Würde als Kammerherr entsetzt". Sollte er eine hoffähige Frau heiraten, teilte man ihm mit, würde auch sie nicht zum Hofe zugelassen. Audienzen bei Kaiser halfen nichts, auch nicht die Fürsprache von Gönnern.

Als Mitte der 1850er Jahre der Eisenbahnboom einsetzte, vermittelte ihm Finanzminister Bruck zwar lukrative Stellen in Verwaltungsräten von Eisenbahngesellschaften, doch sein Traum blieb eine Spitzenposition im Staatsdienst. In der Wirtschaft wähnte er sich von Spekulanten umgeben. Aktiengesellschaft = Spekulation = jüdisch, davon war er überzeugt. Er lebe in einer "Periode der Jüdeley", in der ihm die Aufgabe des Gegengewichts zum "jüdischen, speculativen Elemente" zufalle.

Seine Verachtung gegenüber Juden fügt sich ein in seine Überzeugung, von Dummheit und Unfähigkeit umgeben zu sein. Ein "auf einen zudringlichen kriechenden Juden gepfropfter kleinlicher Büreaukrat" - diese Charakterisierung eines Sektionschefs im Finanzministerium bündelt seine Feindbilder. In deren Kern sitzt die Verwaltung. "Municipalfreyheit, Intelligenz und Aristokratie habe ich für die Grundpfeiler der Monarchie erklärt, und die Bureaukratie für ihren Ruin." Für diese Überzeugung warb er, für sie wollte er wirken.

"Nur zwei Zwecke kann das menschliche Leben haben, genießen oder handeln". Er wollte genießend Handeln. Dazu bedarf es eines hohen Staatsamtes, denn nur der Staat könne politisch handeln. Darauf gründet er seinen Lebensentwurf. Alles andere - sein Wirken als Schriftsteller und als Journalist, als Abgeordneter und als Kristallisationspunkt von Opposition, schließlich als Gründer von Eisenbahngesellschaften - sah er nur als Wegmarken zu seinem Lebensziel: ganz oben staatliches Handeln lenken. Doch sein "Traum, Oesterreichs Stein zu werden," blieb unerfüllt. Nicht den Hauch einer Chance, ihn zu verwirklichen, gab es.

Andrian-Werburg blieb zeit seines Lebens ein Projektemacher, ein "eitler, dabei ganz verschuldeter Mensch", wie Hofkammerpräsident Kübeck von Kübau 1847 gegenüber Metternich urteilte. [1] Warum sollte man fast 1.700 gedruckte Tagebuchseiten dieses an seinen Ansprüchen ständig Scheiternden lesen? Nicht weil sie neue Informationen über die Politik in der Habsburgermonarchie zwischen Vormärz und Neoabsolutismus böten. Sie entrollen ein Sittengemälde, wie man es früher genannt hätte, aus der Sicht eines gebildeten Adligen, der nach Wegen sucht, seine Lebenswelt zu bewahren und dennoch den Staat und die Gesellschaft dem Neuen zu öffnen.

Politisches Vorbild ist ihm England. Wie die dortige Aristokratie ihre politische Position trotz Parlamentarisierung behauptet hat, bewundert er. "Provincial-Stände, Municipalfreyheit, Brechung der Bureaucratie, ein Adel nach englischem Muster, und Preßfreyheit" - nur so lasse sich die habsburgische Monarchie erhalten. Den "Absolutismus als Staatsidee in jeder Form" beseitigen. Seine Vorstellungen, was konkret zu geschehen habe, änderten sich, nicht aber dieses Ziel. Sein Buch "Österreich und dessen Zukunft", 1843 erstmals erschienen, hatte ihm die Chance zu einer Karriere im österreichischen Staatsdienst genommen, doch er sah sich in allem, was er politisch tat, im Dienst der Monarchie, die er reformieren wollte, um sie zu stärken. Auch 1848/49, als ihm deutlich wurde, dass eine Trennung von Deutschland notwendig sei, um die habsburgische Monarchie zu bewahren. Wenn er wieder einmal mit der österreichischen Politik unzufrieden war, und das war er fast immer, begann er seine "Luftschlösser", die er in seinem Tagebuch entwarf, gerne mit: ich als Minister, ich als Kaiser täte nun.... Er konnte nicht anders: In seinen Imaginationen stand er immer oben, alles kreiste um ihn.

Nicht minder aufschlussreich als die vielen Eintragungen eines Österreichers, der an Österreichs Politik leidet - er sprach von der "österreichischen Erbdummheit", dem "Schlendrian Austriae Fundamentum" und dem "tremor senectutis" der Behörden -, sind seine vielen Notizen über die Gesellschaft, in der er sich bewegte. "Ich lebe hier so recht als Müßiggänger und thue gar nichts, ennuyire mich auch wohl zuweilen." Mit diesen Worten formulierte er am 19. Januar 1847 in München ein weiteres Leitmotiv seines Lebens. Er wollte geistreich unterhalten sein, danach beurteilte er alle, mit denen er gesellig zusammen kam. Männer und Frauen.

Frauen waren für seinen Lebensstil zentral. Er heiratete nicht, obwohl er manchmal an eine "Convenienzehe" dachte, wenn sein Erbe das aufwendige Leben, das er führte, nicht mehr zu tragen schien. Doch letztlich ging es auch ohne Ehe und lange ohne Amt. Viele ausgedehnte, nicht selten mehrmonatige Reisen durch Europa und bis in den Vorderen Orient, stets von einem Lohndiener begleitet, lange Aufenthalte in den Kurorten, in denen sich der Adel mit Macht und Vermögen traf, Karneval in Venedig, Hofbälle - alles, was zum adligen Leben gehörte, konnte er sich leisten. Das letzte Familiengut, das ihm geblieben war, musste er allerdings verkaufen und gegen Lebensende in jene Wirtschaftswelt eintreten, die er "der Jüdeley und dem Schacherwesen" zurechnete. Dort fand er nicht das, was er brauchte: die "geistreiche, leichthin gleitenden Frau, welche meinen Geist anregt, mir die Frische und Heiterkeit des Humors erhält und nebstdem durch ihre äußere Erscheinung meinem tiefgewurzeltem Bedürfnisse nach Eleganz und meinem Schönheitssinn wohlthut." Er verlangte "Kenntniß der Welt" und "das good breeding", "lieber etwas weniger Tugend und mehr Geist".

Allein zu sein, deprimierte ihn, auf Reisen und wo er sich niederließ. Er brauchte den geselligen Kreis im Salon, den nur Frauen mit Leben erfüllen können. Davon war er überzeugt. "Krähwinkel" beginnt, wo die "angenehme Frauengesellschaft" fehlt. Manchmal sprach man dort "sogar vom Heirathen, natürlich nur als Discurs, Gott weiß aber, daß ich nichts sehnlicher wünschen würde." Doch lieber war ihm der Wechsel, den die Rolle des "amant en titre" bot, natürlich stadtbekannt, sonst gäbe es kein Ansehen in der "großen Welt", der er sich zugehörig wußte. Wenn die Dame, der er den Hof machte, ihm "das Letzte" aus Furcht vor einer Schwangerschaft verweigerte, machte er "die nöthigen Emplettes", um ihr Sicherheit zu geben.

Andrian-Werburg jammert über das "Unausstehliche meiner spießbürgerlichen Existenz" und erzählt von der Begeisterung, die eine Verdi-Oper in Mailand auslöste, berichtet von einer Ackerbaukolonie bei Straßburg, die er besichtigte, und höhnt über den "gekrönten Hanswurst in Berlin", erkennt die "Omnipotenz des Staates" als den "Krebsschaden des Continents" und ruft nach Reformdiktatur und "Bluttaufe", klagt über den "Grabgesang meiner bisherigen Träume von Größe und Ruhm" und sehnte sich nach "Nachruhm und Unsterblichkeit". Vielleicht stiftet sie ihm diese Edition. Seine Angst vor dem "Vergessenwerden" richtete sich allerdings an seine Gegenwart. In ihr wollte er "l'héros du jour" sein.


Anmerkung:

[1] Abgedruckt in: Madeleine Rietra (Hg.): Wirkungsgeschichte als Kulturgeschichte. Viktor von Andrian-Werburgs Rezeption im Vormärz. Mit Einleitung, Kommentar und einer Neuausgabe von "Österreich und dessen Zukunft (1843)". Amsterdam 2001, 84f.

Dieter Langewiesche