Rezension über:

Peter Toohey: Boredom. A Lively History, New Haven / London: Yale University Press 2011, VIII + 211 S., ISBN 978-0-300-14110-8, GBP 18,00
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Rezension von:
Benno Gammerl
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Benno Gammerl: Rezension von: Peter Toohey: Boredom. A Lively History, New Haven / London: Yale University Press 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 11 [15.11.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/11/19512.html


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Peter Toohey: Boredom

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Der Altphilologe Peter Toohey von der University of Calgary hat ein Buch mit dem passenden Titel Boredom geschrieben. In sechs Kapiteln und auf knapp 200 Seiten skizziert Toohey ein thematisch wie disziplinär beeindruckend breites Panorama, das die frühchristlichen Wüstenväter und die französischen Existenzialisten ebenso umspannt wie ethnologische Forschungen zu den australischen Aborigines, neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur Rolle des insulären Kortex sowie Anmerkungen zu Bildern von Albrecht Dürer bis René Magritte und zu Texten von Aristoteles bis Henrik Ibsen. Leider stellt sich recht rasch der Eindruck ein, dass sich der Autor mit diesem essayistischen Parforceritt übernommen hat. Nur sehr vereinzelt erreichen Beispielauswahl, Hypothesen und Formulierungen jenes sprachlich rasante und argumentativ überraschende Niveau, welches allein ein solches Buch, das keinerlei Anspruch auf systematische Vollständigkeit erheben kann, lesenswert machen würde.

Zunächst (Kapitel 1 bis 3) umreißt Toohey die Konturen des komplexen Phänomens Langeweile. Dabei betont er die Bedeutung zeitlicher - Dauer und Wiederholung - und räumlicher Dimensionen - Enge und Unentrinnbarkeit. Außerdem verweist er auf die Infantilität oder Senilität des Sich-Langweilens, auf dessen körperliche Ausdrucksformen, vor allem das in die Hand gestützte Kinn, auf die Fähigkeit menschlicher und nicht-menschlicher Tiere zur Langeweile, auf deren Zusammenhang mit Ekel und Ärger sowie auf das vermeintliche Potenzial von Drogenkonsum, Reisen und Sex als Fluchtwegen aus dem Stumpfsinn.

Zudem unterscheidet Toohey zwischen einfacher und existenzieller Langeweile (Kapitel 4). Letztere resultiere aus der Erkenntnis der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit menschlichen Seins, sei eng mit den Phänomenen Melancholie und Depression verwandt und sei paradigmatisch in Jean-Paul Sartres Roman "Nausea" von 1938 formuliert worden. Diese existentielle Form der Langeweile genießt nicht die Sympathien Tooheys, der sie als eine nutzlose Folge einer Überdosis Intellektualität betrachtet, die - im Unterschied zur einfachen Langeweile - keinerlei evolutionären Sinn mache.

Das Stichwort Evolution verweist zugleich auf die zwei zentralen Positionen, die Toohey mit seinem Buch untermauern möchte. Zum einen zielt er - an den gesunden Menschenverstand appellierend - auf eine Rehabilitierung der einfachen Langeweile (Kapitel 6). Deren weit verbreitetes Negativimage sei letztlich unbegründet, denn, so Toohey, ihre "adaptive capacity" (185) diene dem Schutz vor potenziell schädlichen sozialen Situationen. Deswegen solle man dem großmütterlichen Rat folgen und, sobald einem langweilig werde, nach einer "variety in experience" (175) streben. Auf diese Weise fördere die Langeweile die Kreativität und intensiviere die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung.

Zum anderen vertritt Toohey mittels soziobiologischer und psychologischer Argumente den Standpunkt, dass es sich bei der Langeweile um eine universale Emotion handle. In seiner Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Langeweile eine Geschichte habe (Kapitel 5), vertritt er eine dezidiert essentialistische Position - "the nature of boredom has never changed" (145) - und wendet sich zugleich gegen die konstruktivistische Annahme, Menschen seien - in seinen Worten - "walled in [...] within the experiential or even knowledge systems of their eras" (147).

In diesem Kontext diskutiert Toohey, wenn auch eher eingängig als eingehend, die entsprechenden Debatten unter Historikerinnen und Historikern, welche die Geschichte der Gefühle ins Zentrum ihres Interesses rücken. Allerdings hindert ihn sein Beharren auf der Universalität der Langeweile daran, sich von diesen Beiträgen inspirieren zu lassen. So blendet er die Frage nach einem qualitativen Wandel der Langeweile vollkommen aus. In seinem Beispielreigen zitiert Toohey verschiedenste Begriffe und Metaphern und beschreibt mannigfaltige sozio-kulturelle Situationen für die Erfahrung von Langeweile: von den "taedia", welche die Bewohner des antiken Benevent plagten (144), über die "acedia" des Eremiten Evagrius (108) bis zur "prevalence of dull work and commercialized leisure" im 20. Jahrhundert (152). Die Fragen, was die jeweiligen Akteure darunter verstanden, wie sie Langeweile auf je besondere Weise empfanden und mit ihr umgingen, diese spannenden Fragen bleiben jedoch unbeantwortet.

Dabei hätte Toohey ihnen auch nachgehen können, ohne von seiner Überzeugung abzuweichen, dass die einfache Langeweile eine "natural, biological basis" (161) habe. Stattdessen beschränkt er sich darauf, mittels seiner Beispiele zu behaupten, dass Lebewesen immer und überall die Fähigkeit hätten, sich zu langweilen. Dort wo viele Historikerinnen / Historiker und Kulturwissenschaftlerinnen / Kulturwissenschaftler die Langeweile als ein spezifisch modernes Phänomen beschreiben, so Toohey, verwechseln sie die einfache mit der existentiellen Langeweile. Nur letztere könne möglicherweise als moderne Erfindung betrachtet werden. Lediglich hinsichtlich der Zeit, die verschiedene Gesellschaftsformen den Menschen lassen, um sich zu langweilen, sieht Toohey historische Veränderungen. Den Jägern und Sammlern vorschriftlicher Gesellschaften hätte ihre von einem rituellen Zeitverständnis geprägte Kultur wenig Gelegenheiten zum Sich-Langweilen geboten, während die heutigen Arbeits- und Freizeitumstände uns mit zahlreichen langweiligen Situationen konfrontierten. Sicherlich lässt sich über die Überzeugungskraft dieses Arguments für einen rein quantitativen Wandel streiten. Überraschen kann es jedoch allenfalls aufgrund seiner Schlichtheit.

Zudem verweist diese Argumentation auf das vermutlich größte Problem, an dem Tooheys 3000-jährige Geschichte der Langeweile krankt: Das abgesteckte, zweifellos riesige Terrain bearbeitet er allzu spärlich, um seine These von der Universalität des Stumpfsinns plausibel zu belegen. Die Beispiele aus dem Bereich seiner Expertise, der europäischen Antike, sind leider eher spärlich gesät, während er zahlreiche Fälle aus anderen Epochen und Gegenden andeutungsweise anführt, ohne die von ihm selbst aufgeworfenen Fragen gründlich zu erörtern. Zudem klaffen große Lücken in seiner Geschichte. Insbesondere das weitgehende Schweigen zum Mittelalter und zu nicht-europäischen Kontexten überrascht angesichts Tooheys zentraler Universalitäts-These.

Daneben fallen einige kleinere Unzulänglichkeiten negativ ins Gewicht. Die meist aus dem Kanon der europäischen Hochkultur stammenden Bilder und Texte, die Toohey mitunter auf ziemlich spekulative und für den Rezensenten nicht immer nachvollziehbare Weise interpretiert, hätten weniger vereinnahmende und vielschichtigere Lektüren durchaus verdient. Ungünstig wirkt sich ferner auch der Verzicht auf ein alphabetisch geordnetes Literaturverzeichnis aus. Bibliographische Angaben müssen sich die Lesenden aus kurzen Überblickstexten zur verwendeten Literatur am Ende des Buches relativ mühsam heraussuchen.

Trotz seiner eher essayistischen Gesamtanlage, so lässt sich zusammenfassend feststellen, schafft es das Buch nicht, die mangelnde Gründlichkeit durch Freude am Formulieren, am Argumentieren und am Aufstellen überraschender Hypothesen wettzumachen. Über weite Strecken, so der Eindruck des Rezensenten, erzählt das Buch keine - wie der Untertitel verspricht - "lively", sondern eher eine langweilige Geschichte der Langeweile.

Benno Gammerl