Rezension über:

Marcus Conrad: Geschichte(n) und Geschäfte. Die Publikation der "Allgemeinen Welthistorie" im Verlag Gebauer in Halle (1744-1814) (= Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München; Bd. 81), Wiesbaden: Harrassowitz 2010, X + 391 S., ISBN 978-3-447-06225-1, EUR 68,00
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Rezension von:
Dirk Moldenhauer
Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Moldenhauer: Rezension von: Marcus Conrad: Geschichte(n) und Geschäfte. Die Publikation der "Allgemeinen Welthistorie" im Verlag Gebauer in Halle (1744-1814), Wiesbaden: Harrassowitz 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/12/20677.html


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Marcus Conrad: Geschichte(n) und Geschäfte

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Die diesem Buch zugrunde liegende Dissertation wurde von Manfred Beetz und Daniel Fulda im Fachbereich Germanistische Literaturwissenschaft der Uni Halle-Wittenberg betreut und hier im Wintersemester 2008/09 eingereicht. Sie basiert ganz wesentlich auf dem Verlagsarchiv Gebauer-Schwetschke, an dessen wissenschaftlicher Erschließung der Autor federführend mitarbeitet. Zielstellung ist es laut Vorbemerkung, die in diesem Verlag publizierte "Allgemeine Welthistorie" (fortan abgekürzt als AWH) als paradigmatisches Beispiel "für das Verhältnis von Verlegerinitiative, Publikumsinteresse und wissenschaftlichem Verfahren, mithin für das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Sozial- und Geistesgeschichte" zu untersuchen. Im Klappentext angekündigt werden darüber hinaus "aufschlussreiche Zusammenhänge, die in der historiographiegeschichtlichen Forschung zumeist übersehen [...] wurden" und die Verdeutlichung des "essentiellen Zusammenhangs von Wissenschafts- und Buchhandelsgeschichte [...], der bislang viel zu wenig Beachtung gefunden hat."

Bislang gab es tatsächlich keine Detailuntersuchungen zur AWH. So kommt es, dass jeder, der sich mit der Geschichtsschreibung des späten 18. Jahrhunderts beschäftigt, zwar zwangsläufig von der AWH hört oder liest, bei näherer Berührung aber schier daran verzweifeln möchte. Das Werk ist ein kolossales Monstrum, das über einen Zeitraum von 70 Jahren unter verschiedenen Herausgebern in verschiedenen Ausgaben und verschiedenen Formaten unter verschiedenen Serientiteln erschien: "Übersetzung der Allgemeinen Welthistorie" / "Fortsetzung der Allgemeinen Welthistorie" / "Die Allgemeine Welthistorie [...] in einem [...] Auszuge" (für die Alte und Neue Geschichte) / "Fortsetzung des Auszugs" etc. Und um die Unübersichtlichkeit noch zu erhöhen, erschien bei der Konkurrenz in Leipzig (Weidmanns Erben) im gleichen Zeitraum eine "Allgemeine Weltgeschichte" (1765-1808), die auf dem gleichen britischen Ursprung basierte und an dem ebenso wie bei der Hallischen Schwester einige der bedeutendsten deutschen Wissenschaftler mitwirkten. Kein Wunder, dass es immer wieder zu Verwechslungen kam und kommt.

Höchste Zeit für Aufklärung! Der am gleichen Fachbereich wie Conrad wirkende Hans-Joachim Kertscher machte dem orientierungslosen Liebhaber der Aufklärungshistorie bereits 1998 in seiner Monographie zum Verlagshaus Gebauer Hoffnung [1]: das Verlagsarchiv sei für den fraglichen Zeitraum nicht nur weitestgehend intakt, sondern enthalte einen dichten Quellenbestand zur AWH. An dieser Stelle übernimmt Conrad, der seine Arbeit in sieben Abschnitte gliedert: von der "englischen Weltgeschichte" (Kap. 1) über die frühen Phasen unter den Herausgebern Baumgarten (Kap. 2) und Semler (Kap. 3) und den 1766 verorteten "Konzeptionswechsel" (Kap. 4) hin zu den nachgelagerten "Auszügen" (Kap. 5) und späteren Einzelbänden (Kap. 6-7). Der Hauptteil schließt mit einem Unterabschnitt "Zur historischen Ideenleere" (289 ff.), der allerdings nicht so recht zum Rest passen möchte; auf den folgenden 63 Seiten sind ausgewählte Quellen abgedruckt.

Dieser 'biographische' Aufbau geht leider zu Lasten der angekündigten Analyse, die unter dem dichten Schleier der überwiegend deskriptiven Quellenarbeit kaum hervortreten kann. In der mit dreieinhalb Seiten und acht Fußnoten recht knappen Einleitung fehlen ausführlichere Angaben zur Aufgabenstellung, zum Forschungsstand, zur Quellenlage und vor allem zur Methodik und davon abhängigen Vorgehensweise. Allenfalls Andeutungen sind erkennbar, selbst zur Domäne des Autors - den Quellen. Der Leser erfährt, dass der Unternehmensnachlass Gebauer-Schwetschke in 210 Kartons verwahrt wird, von dem "reichlich die Hälfte Geschäftsunterlagen zum 18. und frühen 19. Jahrhundert" sind (7). Worum es sich dabei im Einzelnen handelt - Briefe vom oder an den Verlag, Konzepte, Verträge, Subskribentenverzeichnisse, Abrechnungen, Bilanzen und ähnliches - findet man hier ebenso wenig wie einführende Details über den heute weitgehend vergessenen Verlag und seine Inhaber. Gerade in diesem Bereich hätte man vom Autor ausführlichere Angaben erwarten dürfen, wenn nicht müssen.

Unabhängig davon erfolgt kaum ein Abgleich des AWH-Projekts mit den intensiven, zu Vergleichszwecken bestens geeigneten Forschungen rund um Popularisierung der Wissenschaften und Strukturen des Buchmarkts nach 1750. Diese sucht man vergeblich im Anmerkungsapparat und Literaturverzeichnis - und dass, obwohl das Gebauer-Erschließungsprojekt im "Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung" angesiedelt ist.

In den Abschnitten 2 und 3, die sich mit der Frühphase der AWH unter Baumgarten und Semler befassen, verdichtet sich rasch der Eindruck, dass das deskriptive Element dominiert. Angesichts des Ziels, "eine umfassende Rekonstruktion des Publikationsprozesses" der AWH zu liefern (2), zu deren deutscher Ausgabe "je nach Blickwinkel zwischen 80 und 117 umfangreiche Bände" gehörten, wäre eine schlichte Übersicht über sämtliche hinzuzuzählende Bände mit allen wichtigen bibliographischen Daten (darunter, falls verfügbar, auch die Preise und Auflagen) nicht nur wünschenswert, sondern zur Nachvollziehbarkeit der in vielen Fußnoten verstreuten Einzelangaben zwingend erforderlich gewesen. Die uneinheitliche Zitierweise im Quellenverzeichnis, in dem die Werke mal unter dem Titel, mal unter dem Autor oder Herausgeber aufgelistet sind, ist einem schnellen Überblick auch nicht förderlich.

Die Grenzen der linear-deskriptiven Vorgehensweise werden besonders bei der Erklärung des "Konzeptionswechsels 1766" (149 ff.) sichtbar. Bereits im vorhergehenden Abschnitt "Zur Rezeption" (109 ff.) - warum schon hier? - wird zwar auf den möglichen Zusammenhang mit dem Siebenjährigen Krieg hingewiesen, aber was letztlich den Ausschlag gab, bleibt offen: War es die "Münzverwirrung" (124 ff.), die Kritik an den fehlerhaften Übersetzungen (128 ff.), waren es die neuen Impulse aus Göttingen (von Gatterer etc.) infolge der Politisierung (149 ff.) oder doch eher die Konkurrenz aus Leipzig (seit 1765)?

In den Kapiteln 5 bis 7 folgt der Autor dem weiteren Gang der Publikation, wobei er sich größtenteils auf Briefe der Herausgeber und Autoren an den Verlags stützt, während die Verleger selbst so gut wie nie zu Wort kommen. Wie hilfreich ein solcher Perspektivenwechsel gewesen wäre, zeigt der auf Seite 332 ff. abgedruckte Brief des Juniorverlegers Johann Jacob Gebauer an den säumigen Autor J.G. Meusel vom 22.11.1771. Hier wird - fast paradigmatisch - ein Element erkennbar, das über den Erfolg oder Misserfolg eines solchen Unternehmens wesentlich mitentscheidet: die kontinuierliche Steuerung durch einen erfahrenen Marktkenner.

Nach der Lektüre des Hauptteils bleiben viele Fragen offen: Welchen Einfluss hatten die wechselnden Qualifikationen der Herausgeber und Bearbeiter - erst waren es Theologen, dann 'Reichspublicisten' und 'Schulleute' und am Ende Historiker - auf die AWH? Welche Rolle spielte die zunächst enge Anbindung an die Göttinger Gelehrten-Schule(n)? War es von Vorteil für die Einführung und Umsetzung des Projekts, dass Gebauer ausgebildeter Drucker war? Wie konnte der Verleger sein laut Kertscher ungewöhnlich großes Pränumeranten-Netz aufbauen - zweifellos das Rückgrat der AWH? Erwies sich das Unternehmen als gewinnbringend für den Verlag oder war es ein Zuschussprojekt? Waren die Konkurrenzangebote erfolgreicher? Hing die fast nicht wahrnehmbare Beendigung der AWH mit der Buchhandelskrise 1813/14 zusammen oder mit ihrem von Zeitgenossen zunehmend beklagten überholten Charakter? War die AWH überhaupt ein Werk oder nicht eher eine Aneinanderreihung verschiedener Projekte unter einem 'Markendach', welches durch den Titel und das unveränderte Äußere gepflegt wurde und sich positiv auf den Sammeleffekt ausgewirkt haben könnte? Antworten sucht man vergeblich, wie auch eine Zusammenfassung. Der Wert der vorliegenden Arbeit liegt deshalb primär in der Zusammenstellung vieler Fakten aus dem unüberschaubaren Gebauer-Nachlass, die andere Forscher dankbar nutzen werden.


Anmerkung:

[1] Hans-Joachim Kertscher: Der Verleger Johann Justinus Gebauer. Mit einem Anhang: Ungedruckte Briefe aus dem Geschäftsnachlaß der Druckerei Gebauer & Schwetschke u.a., Halle/S. 1998.

Dirk Moldenhauer