Rezension über:

Jörg Fisch (Hg.): Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker (= Schriften des Historischen Kollegs; 79), München: Oldenbourg 2011, XXI + 344 S., ISBN 978-3-486-70384-9, EUR 69,80
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Rezension von:
Daniel Damler
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Damler: Rezension von: Jörg Fisch (Hg.): Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, München: Oldenbourg 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/02/19762.html


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Jörg Fisch (Hg.): Die Verteilung der Welt

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Die in diesem Sammelband vereinigten Beiträge gehen auf ein 2008 im Historischen Kolleg gehaltenes Kolloquium zum Thema "Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsrecht: Errungenschaft der Moderne oder kollektive Illusion?" zurück. Der Band gliedert sich in fünf thematische Einheiten. In dem ersten Teil "Grundlagen" untersucht Georg Kohler das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Selbstbestimmung. In Anschluss daran gibt Onuma Yasuaki einen kurzen Überblick über die Genese des Selbstbestimmungsrechts aus globalgeschichtlicher Perspektive. Im zweiten Teil befassen sich Heinz Duchhardt, Heinhard Steiger und Jörg Fisch mit "der Frühen Neuzeit, der Französischen Revolution und den Folgen". Der dritte Teil ist dem 20. Jahrhundert gewidmet. Jost Dülffer skizziert den Aufstieg des "Selbstimmungsrechts" zum agitatorischen Schlüsselbegriff gegen Ende und nach dem Ersten Weltkrieg. Mit einem Sonderfall, dem Verhältnis Italiens zu seinen Nachbarn im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, beschäftigen sich Marina Cattaruzza und Sacha Zala. Marc Frey beleuchtet schließlich den widersprüchlichen Umgang mit dem Prinzip der Selbstbestimmung in der amerikanischen Außenpolitik zwischen 1917 und 1950. Der vierte Teil führt in das Völkerrecht der Gegenwart ein. Peter Hilpold verweist auf den Zusammenhang zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht der humanitären Intervention. Ramon Leemann erinnert daran, dass es sich bei dem Selbstbestimmungsrecht auch um ein Individualrecht handelt, und untersucht vor diesem Hintergrund die Individualbeschwerde vor dem UNO-Menschenrechtsausschuss. Hans-Joachim Heintze arbeitet die Rückwirkungen des Selbstbestimmungsdiskurses auf den Status der indigenen Völker heraus. Im fünften und letzten Teil stellen Stefan Wolff ("Resolving Self-Determination Conflicts: The Emerging Practice of Complex Power Sharing"), Kristina Roepstorff ("Understanding Self-Determination as Non-Domination: Calling for a Shift from Government to Governance?") und Wolfgang Danspeckgruber ("Self-Determination in Our Time: Reflections on Perception, Globalization, and Change") politikwissenschaftliche Ansätze zur Erklärung aktueller Entwicklungen zur Diskussion.

Exemplarisch für die Vielfalt der Perspektiven, die diesen Sammelband auszeichnet, seien die Beiträge hervorgehoben, die den Prozess der Ausformung des Selbstbestimmungsrechts im 18. und 19. Jahrhundert zum Gegenstand haben. Heinz Duchhardt legt anhand zweier klug gewählter Beispiele die Gelenkstelle zwischen der überkommenen frühneuzeitlichen Sichtweise und der Formierung eines "Selbstbestimmungsbewusstseins" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts frei. Der Übergang des Herzogtums Lothringen von seinem angestammten Herrscherhaus an die Krone Frankreichs in den 1730er Jahren verlief noch in den traditionellen Bahnen des dynastischen Ländertauschs. Die lothringische Territorialveränderung vollzog sich weitgehend geräuschlos und rief keine Proteste oder gar Aufstände der Betroffenen hervor. Emotionale Bindungen und Loyalitäten der Bevölkerungen wurden weder berücksichtigt noch artikuliert. Hingegen meldete sich im Falle des Verkaufs Korsikas aus genuesischem Besitz an Frankreich - nur wenige Jahrzehnte später - eine das Recht der Korsen auf Selbstbestimmung propagierende Bewegung zu Wort (der Begriff selbst fand freilich noch keine Verwendung). Als Gründe für den Wandel nennt Duchhardt insbesondere die Verbreitung des Volkssouveränitätsgedankens zunächst durch die vorrevolutionäre Aufklärungsphilosophie, dann durch die Parteigänger der Französischen Revolution. Die französischen Debatten der Revolutionszeit über Krieg und Volkssouveränität zeichnet im Anschluss an Duchhardt en detail Heinhard Steiger nach. Er gelangt zum Ergebnis, dass zwar das Prinzip der "souveraineté des peuples" zunächst ausschließlich auf die Freiheit nach innen, auf die Befreiung von der Despotie eines Alleinherrschers, gerichtet gewesen sei, doch insoweit den "Urgrund" des Selbstbestimmungsrechts - der Freiheit nach außen - darstelle, als auch der Anspruch auf einen eigenen Staat das Recht des Volkes voraussetze, sich überhaupt politisch-rechtlich zu organisieren. In einem Spannungsverhältnis zu den Beiträgen von Duchhardt und Steiger stehen die Ausführungen von Jörg Fisch, der im Grunde schon definitorisch eine genuin europäische Tradition des Selbstbestimmungsdiskurses ausschließt und daher Fälle wie den von Duchhardt erörterten korsischen Separatismus ausblendet. Für Fisch ist das Recht auf Selbstbestimmung ein Produkt der Entkolonialisierung jenseits des Atlantiks. Eine Schlüsselrolle kommt nach Fisch nicht so sehr der (nord-) amerikanischen "Declaration of Independence" zu, die sich primär gegen eine als tyrannisch empfundene Herrschaft richtet, als der hispano-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, die das Recht auf Eigenständigkeit schlicht aus der Eigenschaft eines Kollektivs ableitet, ein Volk zu sein.

Schon dieser kurze Überblick macht deutlich, dass sich das Werk schlecht als Einführung in das komplexe Thema eignet. Zu verschieden sind die definitorischen Ausgangpunkte und fachlichen Zugänge. Das Problem stellt sich natürlich bei jeder Publikation, die Beiträge verschiedener Autoren vereinigt, doch bei einem so problematischen, ja schillernden Begriff wie dem der "Selbstbestimmung" macht sich das Fehlen eines verbindenden analytischen Rahmens besonders bemerkbar. Wer indes das Werk als Ergänzung zu der bahnbrechenden, nahezu zeitgleich erschienenen und thematisch identischen Monographie des Herausgebers [1] begreift, wie dies dem Konzept der Kolloquien des Historischen Kollegs entspricht, der wird die Aufsätze mit großem Gewinn lesen, nicht obwohl, sondern gerade weil sie Alternativen aufzeigen und dadurch eine kritische Auseinandersetzung befördern. Ein Register, das auch Sachbegriffe einbezieht, erleichtert die Orientierung und erlaubt das Auffinden von Schnittstellen zwischen den historischen, juristischen und politikwissenschaftlichen Analysen.


Anmerkung:

[1] Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker: die Domestizierung einer Illusion, München 2010.

Daniel Damler