Rezension über:

Roberto Zapperi: Eine italienische Kindheit, München: C.H.Beck 2011, 176 S., 31 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-62092-8, EUR 19,95
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Rezension von:
Hans Woller
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hans Woller: Rezension von: Roberto Zapperi: Eine italienische Kindheit, München: C.H.Beck 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/03/20573.html


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Roberto Zapperi: Eine italienische Kindheit

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In den letzten Jahren war mit Blick auf die italienisch-deutschen Beziehungen immer wieder von einer "Entfremdung" die Rede, die angeblich auf leisen Sohlen daher kam und deshalb auch als schleichend bezeichnet wurde. [1] Eine ganz andere, ja schockartige Entfremdung beschreibt der große italienische Gelehrte Roberto Zapperi, der 1945/46 aus allen Wolken fiel, als ihm das ganze Ausmaß der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, auch und gerade im verbündeten Italien, bekannt wurde.

Der 1932 in Catania geborene und in kleinen Verhältnissen aufgewachsene Zapperi fasste noch als Kind eine tiefe Sympathie für die Deutschen, die ihm in Gestalt eines Soldaten erstmals begegneten und ihm sofort als Verkörperung der Moderne erschienen - technisch versiert, diszipliniert und effizient, so dass der Gegensatz zum Menschenschlag in seiner engen bigott-provinziellen Heimat größer kaum ausfallen konnte. Vor diesem Hintergrund naiv-kindlicher Bewunderung gedieh auch eine stupende Affinität zur deutschen Kultur, die in Goethe und Heine ihre Fluchtpunkte hatte. Diese Wertschätzung blieb auch 1943 bis 1945 ungebrochen, als die Deutschen eine rohe Besatzungsherrschaft in Italien errichteten und dennoch Niederlage auf Niederlage hinnehmen mussten, die ihren Nimbus eigentlich hätten zerstören müssen. Zapperi, noch ein halbes Kind, das von seinen Eltern in der Nähe von Lucca, in Rom und später im Mezzogiorno - so gut es ging - abgeschirmt wurde, wollte von diesen militärischen Rückschlägen und ihren grauenvollen Begleiterscheinungen nichts wissen. "Für mich waren sie [die Deutschen] gut und tüchtig, vor allem aber ausgezeichnete Soldaten, korrekt gegenüber den Frauen, nüchtern und nicht solche Trunkenbolde wie die Amerikaner."

Die Augen öffneten sich ihm erst nach dem Krieg, als er die neorealistischen Filme von Roberto Rossellini zu sehen und die ersten Erzählungen über den Holocaust und die Massaker der Waffen-SS in Italien zu hören bekam. Zapperis idealisiertes, gegen jede Evidenz konserviertes altes Deutschlandbild brach nun total zusammen und lag lange in Trümmern. Ein neues, in dem auch die alte Sympathie in geläuterter Form ihren Platz hatte, bildete sich erst langsam heraus, wobei die Lektüre von Meinecke und Ranke und die ersten Kontakte zum Deutschen Historischen Institut in Rom eine besonders fördernde Rolle spielten. Namentlich Heinrich Lutz und - mehr noch - Helmut Goetz, ein ebenso kultivierter wie feiner Historikerkollege [2], der so gar nichts Teutonisches an sich hatte, erleichterten diese Wiederanknüpfung, die schließlich zu einer Versöhnung und zu einer späten fulminanten Karriere in Deutschland führte: Zapperi war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und Gastprofessor in Hamburg; seit 2008 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Die bewegende Biographie Zapperis, die alle Aspekte der neueren deutsch-italienischen Kooperations- und Konfliktgeschichte in sich birgt, hätte reichlich Potential für eine große Erzählung - aber eben nur das Potential. Zapperi ist nämlich kein Erzähler, seine Geschichten haben keine Farben und seine Protagonisten keine Gesichter. Sie lassen nirgendwo "das Leben einfacher Leute im Italien der Vierzigerjahre wieder aufleben", wie es im Klappentext versprochen wird. Mitunter zitiert Zapperi sogar aus der Literatur oder er berichtet von Begebenheiten, die er nicht selbst erlebt hat, sondern nur vom fernen Hörensagen oder aus späteren Schilderungen kennt - mit all den Risiken für Fehler und Ungereimtheiten, die damit verbunden sind.

Gänzlich unklar bleibt, wie der aufgeweckte Junge mit seinem großen Faible für das Deutsche Reich und die Wehrmacht den Faschisten begegnete, die mit "seinen" Deutschen in der "Achse" verbündet waren. Die Balilla, das Gegenstück zur Hitlerjugend, sei eine "lächerliche paramilitärische Organisation" gewesen, der er sich ebenso leicht zu entziehen vermochte wie der ubiquitären Indokrination in der Grundschule, wo ihm ein nonkonformistischer Lehrer natürlich "seine antifaschistischen Überzeugungen" vermittelt habe.

Passt das zusammen? Und wie fügt es sich, wenn der Faschismus als "totalitäres [...] Regime" bezeichnet wird, wenn zugleich vom "operettenhaften Imperialismus" in Afrika die Rede ist und wenn die "großspurigen militärischen Parolen" von Mussolini erwähnt werden, die niemand "verführten"? Kein Wort zu den faschistischen Großverbrechen in Abessinien, nichts über die mörderische Zusammenarbeit von Faschisten und Nationalsozialisten auf dem Balkan, aber auch in Italien selbst, keine Silbe über Mussolinis Charisma und die enorme Attraktivität seiner Politik, die beträchtliche Teile der italienischen Gesellschaft lange mittrugen.

Zapperi enttäuscht seine deutschen Leser, er führt sie aber auch in die Irre, wenn er ihnen die von der Forschung längst widerlegte Legende vom letztlich doch harmlosen Faschismus im scheinbar authentischen Gewand einer Kindheitserinnerung neu auftischt. Schade.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Gian Enrico Rusconi / Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer, 2. Aufl., München 2009.

[2] Vgl. Helmut Goetz: Der freie Geist und seine Widersacher. Die Eidverweigerer an den italienischen Universitäten im Jahre 1931, Frankfurt/M. 1993.

Hans Woller