Rezension über:

Shulamit Volkov: Walther Rathenau. Weimar's Fallen Statesman, New Haven / London: Yale University Press 2012, IX + 240 S., ISBN 978-0-300-14431-4, USD 25,00
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Rezension von:
Christian Schölzel
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Christian Schölzel: Rezension von: Shulamit Volkov: Walther Rathenau. Weimar's Fallen Statesman, New Haven / London: Yale University Press 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/05/20477.html


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Shulamit Volkov: Walther Rathenau

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"Welches Fressen werde ich für den Privatdozenten von 1950 sein!", notierte Walther Rathenau (1867-1922) einmal in seinem Tagebuch. [1] Nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten sich viele Autor/innen mit dem bereits zu Lebzeiten weltberühmten Industriellen, Bankier, Staatsmann, Philosophen und Künstler. [2] Nun hat sich keine geringere als die Grande Dame der Sozialgeschichtsschreibung zum deutschen Judentum der Neuzeit, Shulamit Volkov, emeritierte Professorin für Moderne europäische Geschichte an der Universität Tel Aviv, dieser vielseitigen Person angenommen.

Gleich zu Beginn ihres Buches (VIIf.) betont Volkov die Offenheit einer jeden Biographie. Kein Lebenslauf dürfe retrospektiv von seinem Ende her gedacht werden. Mit dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit stemmt sich Volkov zu Recht gegen eine überbordende Fülle bereits fest in das kollektive Gedächtnis eingeschriebener Rathenaubilder, die jede(n) zu überwältigen drohen, der sich mit Rathenau befassen will. Ob die Kategorie des "Tragischen", wie von Volkov heran gezogen (IX), dabei heuristischen Wert beanspruchen darf, mag bezweifelt werden.

War Walther Rathenaus Leben wie von Volkov dargestellt die Essenz der deutsch-jüdischen Geschichte? Zu vielfältig waren und sind jüdische Lebenswelten, als dass diesem Diktum allgemeine Gültigkeit zugebilligt werden könnte. Anschaulich beschreibt Volkov Rathenaus Geburt in eine großbürgerliche Familie, deren Selbstverständnis als Juden dem, Konzept einer weitgehenden Akkulturation an die nicht-jüdische Umwelt folgte. Vom Vater, Emil Rathenau, auf eine Karriere in der Industrie gedrängt, meisterte der Sohn Walther die Karrierestufen bis in das Direktorium der maßgeblich vom Vater mit gegründeten Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG) kurz vor der Jahrhundertwende. Seine Bemühungen um ein politisches Amt scheiterten vor dem Ersten Weltkrieg zunächst noch.

Als Organisator der Kriegsrohstoff-Abteilung im Preußischen Kriegsministerium gelangte Rathenau erstmals in eine staatliche Funktion. In der jungen Weimarer Republik sollte Walther Rathenau zum Finanz- und Außenpolitiker avancieren. Als Wiederaufbauminister 1921 und als Reichsaußenminister im Jahr wirkte er an wichtigen Weichenstellungen für verständnisorientierte deutsche Außenpolitik gegenüber den Siegermächten des Ersten Weltkrieges mit, die Volkov komprimiert darstellt. Seine Ermordung wurde zeitgenössisch als Fanal empfunden.

Bei Volkov tritt der Geschichts- und Gesellschaftsphilosoph Rathenau, mit seinen vom Rassismus der Zeit beeinflussten Konstruktionen an Menschentypen, deutlich hinter den Politiker und abgeschwächt auch den Unternehmer zurück. Während sie betont, dass Rathenau die Konversion von Juden ablehnte (49f.) - was in dieser Absolutierung nicht stimmt, denn eine Konversion aus Glaubensgründen gestattete er seinen Zeitgenossen - wird die große Werkteile durchziehende Internalisierung antisemitischer Topoi kaum in Augenschein genommen. Sie wird erst verständlich, wenn man sich des Rathenau umgebenden und auch traktierenden Alltagsantisemitismus bereits in dessen Jugendjahren vergegenwärtigt.

Zudem sieht Volkov Rathenau in einer Entweder-Oder-Entscheidung zwischen Politik oder Privatwirtschaft (79f.). Sie verkennt, dass es nicht Entscheidungsschwäche oder Angst vor dem Neuen war, die Rathenau nicht ad hoc zu einem Politiker werden ließen. Vielmehr war er, wie viele andere Industrielle oder Bankiers seiner Zeit, darauf angewiesen, mit dem für die eigene Tätigkeit so wichtigen Staatsapparat eine enge Vernetzung zu unterhalten. Dass in einer späteren Lebensphase, nach dem Ersten Weltkrieg, Rathenau den Staat, seine eigene Tätigkeit dort, auch als Probebühne zur Umsetzung seiner gesellschaftsphilosophischen Entwürfe verstand, sei hier nur angemerkt. Immer wieder erwähnt Volkov in ihrer Darstellung zu Recht die in so viele gesellschaftlichen Bereiche sich erstreckenden Netzwerke Rathenaus.

Wer eine lebendige Darstellung des so vielfältigen Lebenswerkes von Walther Rathenau auf der Basis der bestehenden Forschungsliteratur in englischer Sprache sucht, wird aus Volkovs flüssig geschriebenem Buch Nutzen ziehen können.


Anmerkungen:

[1] Walther Rathenau: Tagebuch 1907-1922. Herausgegeben und kommentiert von Hartmut Pogge von Strandmann. Mit einem Beitrag von James Joll und einem Geleitwort von Fritz Fischer, Düsseldorf 1967, S. 159.

[2] Hier nur: Harry Graf Kessler: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster, Frankfurt a.M. 1988. [zuerst erschienen: 1928]; Peter Berglar: Walther Rathenau. Ein Leben zwischen Philosophie und Politik, Graz u.a. 1987. [erste Auflage: 1970]; Rudolf Kallner: Herzl und Rathenau. Wege jüdischer Existenz an der Wende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1976; Ernst Schulin: Walther Rathenau. Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit, Zürich u.a. 1979; Thomas P. Hughes u.a. (Hgg.): Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Moderne, Berlin 1990; Hans Wilderotter u.a. (Hgg.): Walther Rathenau 1867-1922. Die Extreme berühren sich. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute, New York / Berlin 1993; Martin Sabrow: Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994; Karl-Heinz Hense u.a. (Hgg.): Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau, Berlin 2003; Christian Schölzel: Walther Rathenau. Eine Biographie, Paderborn u.a. 2006; Lothar Gall: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009.

Christian Schölzel