Rezension über:

Marcel van Ackeren: Die Philosophie Marc Aurels. Band 1: Textform - Stilmerkmale - Selbstdialog; Band 2: Themen - Begriffe - Argumente (= Quellen und Studien zur Philosophie; Bd. 103/1 + 103/2), Berlin: de Gruyter 2011, 2 Bde., XII + 763 S., ISBN 978-3-11-025542-3, EUR 129,95
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Rezension von:
Angelo Giavatto
Département de Philosophie, Université de Nantes
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Angelo Giavatto: Rezension von: Marcel van Ackeren: Die Philosophie Marc Aurels. Band 1: Textform - Stilmerkmale - Selbstdialog; Band 2: Themen - Begriffe - Argumente, Berlin: de Gruyter 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/06/20802.html


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Marcel van Ackeren: Die Philosophie Marc Aurels

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Das zweibändige Buch von Marcel van Ackeren - eine überarbeitete Version der von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln im Frühjahr 2010 als Habilitationsschrift angenommenen Arbeit - bietet eine systematische Analyse des Stils und des Inhalts der Selbstbetrachtungen, der philosophischen Schrift des Kaisers Marc Aurel. Die Teilung in zwei Bände spiegelt die Unterscheidung von förmlicher (Band 1) und inhaltlicher (Band 2) Analyse wider, was aber, wie van Ackeren selbst präzisiert (20), nicht im Widerspruch mit dem Kernkonzept des Buches betrachtet werden soll, dass nämlich die beiden Aspekte untrennbar sind und eine gegenseitige Erklärung fordern.

Nach einer Einleitung (1-38), die die Methode der Analyse und den Stand der Forschung vorstellt - unter der emphatischen Betonung der Neuigkeit und der Vollständigkeit der vorliegenden Untersuchung im Vergleich mit der vorigen Forschung - folgt im Band 1 die traditionelle Herangehensweise der stilistischen Analysen der Selbstbetrachtungen (siehe insbesondere J. Dalfen: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, diss. München 1967): allgemeine Merkmale (Wahl des Griechischen, Titel, Datierung und Aufbau des Werkes, 42-58); Buch 1, das van Ackeren als eine nur teilweise von der vorigen Literatur beeinflusste Beschreibung der relevanten philosophischen Tugenden betrachtet, die im Laufe des Restes des Werkes weiter erörtert und aktualisiert werden (59-87); mögliche literarische Einflüsse, und zwar der Autobiographie (wenn man von Autobiographie als einer tatsächlichen Gattung in der Antike sprechen darf) (87-114), der Paränese (114-146), der Konsolation (146-180), der Diatribe (180-206, mit einer ausführlichen Diskussion über Epiktet und die dialogischen Aspekte der Diatriben). Kern dieses Bandes ist aber die Diskussion des Begriffes 'Selbstdialog' (206-287), in der van Ackeren das traditionelle Konzept vom 'Selbstgespräch' als exegetischem Schlüssel der Selbstbetrachtungen (siehe R. Hirzel: Der Dialog: Ein literarhistorischer Versuch, 2. Band, Leipzig 1895, 264ff. und das obengenannten Werk von J. Dalfen, Kapitel V, Teil 1 "Sind die Selbstbetrachtungen Selbstgespräche? ", 204-217) korrigiert, präzisiert und vertieft. van Ackeren erforscht die Entwicklung dieser Praxis in der gesamten antiken Tradition (Homer, Epiktet, Seneca) und beweist die Einmaligkeit der Verwendung des Selbstdialoges bei Marc Aurel unter Rückverweis auf die zeitgenössische Debatte über die Persönlichkeit in der philosophischen und literarischen Tradition (Gill) und als reinen Begriff (Dennet, Frankfurt). Bei Marc Aurel ist der Selbstdialog keine bloße 'Kopie' des Gespräches bei der Anwesenheit eines Gesprächspartners, sondern eine Begleiterscheinung der seelischen Autarkie und eine Art Vollendung der Selbsterkenntnis. Der Selbstdialog ist ein Ausdruck der innerlichen Anachorese, und zwar eine Art "Rückzug von körperlichen Regungen hin zur eigenen Seele von Nöten" (279). Das erste Band schließt eine Diskussion des Status der Rhetorik und der rhetorischen Mittel (287-316) und des Schreibens (316-345) in den Selbstbetrachtungen; van Ackeren formuliert hier die gut vertretbare These "dass Marc Aurel vorrangig für sich selbst geschrieben hat" (316).

Der zweite Band handelt von den philosophischen Themen, Begriffen und Argumenten der Selbstbetrachtungen. Nach einer methodologischen Einleitung, die sich mit dem Mangel an klarer Struktur im Werk Marc Aurels auseinandersetzt und die verschiedenen Einteilungsmöglichkeiten bespricht, folgt van Ackeren seiner Entscheidung, seine Analyse durch die traditionelle stoische Einteilung der Philosophie in Physik, Logik und Ethik zu artikulieren. Die Analysen, die im Rahmen der Physik vorgeführt sind (361-553), betreffen den Begriff der 'Natur des Ganzen' (physis tôn holôn), die Prinzipien- und Elementenlehre, die Theorie der Kausalität, der Vorsehung (und des Schicksals), die Nebenfolge (epigennêmata) und "Vorsehung oder Atome", die bekannte und umstrittene, in den Selbstbetrachtungen häufig erörterte Alternative, die van Ackeren in Zusammenhang mit der Verbindung von Physik und Ethik im Stoizismus bringt. Er schließt: "Marc Aurels Beschreibung des Kosmos ist jedoch nicht nur als eine Grundlage für seine Ethik von Belang, vielmehr verwendet die Beschreibung der kosmischen Vorgänge selbst Begrifflichkeiten, die zum ethischen Bereich gehören" (443), die Religion und die Theologie, die Anthropologie, und zwar die Körper-Seele Verbindung, den Vernunft und das (politische) Handeln und die Oikeiôsislehre. Die Besprechung der Logik (553-610) betrifft die klassischen Themen der stoischen Erkenntnistheorie: Sinneswahrnehmung, phantasia, hypolêpsis, katalêpsis, synkatathesis, Analysis und Wahrheit, Rhetorik in Verbindung mit dem Vernunftgebrauch. Der Teil über Ethik (610-697) betrifft schließlich folgende Themen: Ziel (und zwar Übereinstimmung mit der Natur), Theorie des Guten, Handlung und Antrieb, Leidenschaften und positive Affekte (eupatheiai), angemessene Handlungen (kathêkonta). Im Fall von allen drei Gebieten der Philosophie - und bei allen einzelnen erwähnten Themen - zeigt van Ackeren, dass Marc Aurel sich darüber äußert und sie in sein philosophisches Projekt integriert. Zwei Ergebnisse dieses Bandes, der unzweifelhaft die umfangreichste Beschreibung des philosophischen Inhaltes der Selbstbetrachtungen ist, sind von höchster Bedeutung: die Unabhängigkeit der Selbstbetrachtungen von Epiktet - der Kaiser wurde lang als eine Art 'konzeptuelle Kopie' des Sklaven betrachtet - und die Orthodoxie des Stoizismus Marc Aurels, was die traditionelle Idee von einer Präsenz von platonischen und sogar epikureischen Elementen in den Selbstbetrachtungen widerlegt. Die Darstellungsmethode im zweiten Band ist äußerst deskriptiv und systematisch, was wirkungsvoll ist, denn der Leser bekommt eine präzise Vorstellung der philosophischen Weite der Selbstbetrachtungen vermittelt. Trotzdem hinterlässt die Lektüre den Eindruck, dass die Einheit der formalen und inhaltlichen Analyse im Vergleich mit dem ersten Band hier weniger greifbar ist; konkrete Bezüge auf die Ergebnisse des ersten Bandes sind in der Tat ziemlich spärlich (siehe z.B. 382-383 und 587-589).

Das Buch schließen eine Schlussbemerkungen (698-713), die eine allgemeine Zusammenfassung (klare und regelmäßige Zusammenfassungen begleiten den Leser durch die Lektüre des ganzen Buches) und eine kritische Diskussion der Legitimität der Einschließung der Selbstbetrachtungen in die Geschichte der Philosophie enthält, ein reiches Literaturverzeichnis (714-744) [1], ein Personenregister (745-753) und ein Sachregister (755-763). Im Rahmen einer Analyse, die an die Form und an den Text der Selbstbetrachtungen interessiert ist, wäre ein Stellenregister wünschenswert gewesen.

Marc Aurel erlebt heute eine Zeit von erneutem, kritischem und fruchtbarem Interesse. Durch die Enthüllung der Komplexität der philosophischen Themen in den Selbstbetrachtungen spielt dieses Buch unzweifelhaft eine wesentliche Rolle in diesem lange erwarteten Wiederaufleben.


Anmerkung:

[1] Einige nicht in der Arbeit vorhandene Beiträge hätten zusätzliche Anstöße in die Analyse bringen können, z.B. G. Cortassa: Il filosofo, i libri, la memoria. Poeti e filosofi nei Pensieri di Marco Aurelio, Torino: Tirrenia 1979 und M. Alexandre: "Le travail de la sentence chez Marc Aurèle: philosophie et rhétorique", in Formes brèves. De la gnômê à la pointe: métamorphose de la sententia, La Licorne 3, 1979, 125-158, der geholfen hätte, die philosophische Bedeutung der Iteration und Variation vertiefter zu erklären (307-308).

Angelo Giavatto