Rezension über:

Volkmar Billig / Julia Fabritius / Martin Roth (Hgg.): Im Sog der Kunst. Museen neu denken, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 242 S., ISBN 978-3-412-20740-3, EUR 24,90
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Rezension von:
Peter Keller
Dommuseum zu Salzburg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Peter Keller: Rezension von: Volkmar Billig / Julia Fabritius / Martin Roth (Hgg.): Im Sog der Kunst. Museen neu denken, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/07/21429.html


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Volkmar Billig / Julia Fabritius / Martin Roth (Hgg.): Im Sog der Kunst

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Der Band Im Sog der Kunst. Museen neu denken versammelt die Vorträge einer Reihe, die 2009-2011 anlässlich des Umbaus des Albertinums in Dresden stattfand. Museumsdirektoren aus Deutschland und der Welt waren eingeladen, "dem Dialog über zeitgemäße Museumskonzeptionen neue Impulse zu geben" (7).

Museen neu denken war auch der Titel einer Tagung zu Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit in Köln 2004. Ähnliche Ziele verfolgen zudem die jüngsten Initiativen europäischer Museumsverbände wie Museums 2020 in Großbritannien oder Agenda 2026 in den Niederlanden. [1] Denn das Ende des Museumsbooms und das Schrumpfen der öffentlichen Haushalte in Europa sowie die Entstehung neuer Museen und Konzepte in Arabien, China und Lateinamerika stellen die Institution in Europa in Frage.

Martin Roths Beitrag gibt einen guten Überblick über die Entwicklung in Deutschland, von der "Musealisierung unserer Gesellschaft" in den 70ern (21) über den Boom der 80er und 90er bis zum Verlust der "Deutungsmacht" heute (23). Damit einher ging ein "Paradigmenwechsel [...] vom Museum als Ort der Erbauung und des Lernens hin zum Eventbetrieb" (35). Durch die Ausgliederung der Museen in Stiftungen, GmbHs oder Public Private Partnerships gibt der Staat, so Roth, seine Verantwortung auf (29). Zugleich verliert der Museumsleiter an Einfluss gegenüber der Politik und wird zum "Verkäufer" (30f.). Der Kurator wird vom Begleiter des Künstlers zu dessen "Zwitter" (32). Die Gefahren der engen Zusammenarbeit von Museum, Künstler, Sammler und Händler (33, vgl. Kittelmann 147) zeigen sich in diesen Tagen an der umstrittenen Ausstellung der Sammlung Grothe in der Bundeskunsthalle und dem damit verbundenen Rücktritt von deren Leiter Robert Fleck. [2]

Die rasante Entwicklung der Museen in Arabien fasst Roger Mandles Beitrag gut zusammen. Er macht die hohen Ansprüche und die Mittel deutlich, die die arabischen Staaten stellen und einsetzen (184). So holen sie sich Werke des Louvre oder des Guggenheim und Fachleute wie den Autor, den ehemaligen Chefkurator der National Gallery in Washington.

Die Entwicklung in China und Lateinamerika wird hingegen in dem Band nicht behandelt. Die Regierung von Shanghai meint, dass zivilisierte Länder über ein Museum je 20.000 Einwohner verfügen und dass die Stadt, die 23 Mio. Einwohner hat, deshalb in den nächsten zehn Jahren 1.000 Museen braucht. Brasilien verfügt zwar außerhalb Sao Paulos nicht über bedeutende Kunstsammlungen, aber seine jungen, gut ausgebildeten Museumsleute verfolgen innovatorische Konzepte, die stark auf die Teilhabe der Gesellschaft setzen.

Im Ganzen gibt der Band kein umfassendes Bild, aus mehreren Gründen: Erstens beschränkt er den Blick, ohne es zu hinterfragen (außer Kittelmann 146), auf Museen moderner und zeitgenössischer Kunst. Alte Kunst dient nur als Bezugspunkt der Moderne, zur Belebung der Dauerausstellung (115, 141, 199-202). Dies entspricht zwar dem Anlass der Vorträge, Kunstwerke sind aber nicht "die einzigen Bedeutungsträger, die uns über unsere Vergangenheit Auskunft geben" (Bischof 13).

Zweitens beschränkt sich die Auswahl der Autoren auf Museumsdirektoren, statt Vertreter der genannten Verbände oder Wissenschaftler zu einem "Dialog" einzuladen. Dadurch verengt sich die Perspektive weiter, auf das Thema "Ausstellen" (Ackermann, Rainbird, Groos, Kittelmann, Teitelbaum). Zugleich klagen Rainbird, Bischof, Roth und Kittelmann jedoch über den "Teufelskreis" der Wechselausstellungen (123, vgl. 15, 27, 35, 159).

Drittens sind die meisten AutorInnen KunsthistorikerInnen und ziehen sich auf eine ästhetische Position zurück. Nur der Kulturwissenschaftler und ehemalige Leiter des Hygienemuseums, Roth, reflektiert die gesellschaftliche Rolle des Museums.

Und die übrigen Aufgaben, die ein Museum gemäß der Definition des Internationalen Museumsbunds (ICOM) zu erfüllen hat, bleiben mehr oder weniger außer Acht. [3] Nur Carola Kraus behandelt "Sammeln", "Ausstellen" und "Vermitteln" systematisch und legt eine entsprechende Strategie dar (232-236). Rainbird, Groos und Kittelmann analysieren eingehend die Räume und/oder Sammlungen ihrer Museen und die daraus sich ergebenden Ziele (113, 121, 131-141, 148-152).

"Bewahren" und "Forschen" sind hingegen kaum Thema (außer Roth 40, Kraus 228), obwohl z.B. die Erhaltung einer Videoinstallation Nam June Paiks eine konservatorische Herausforderung darstellt, obwohl die Stadt Bochum zuletzt ihr Kunstmuseum schließen wollte und obwohl Museumsinventare, -kataloge und -tagungen oft Grundlagenforschung leisten. [4]

Der Band gibt aber einen guten Einblick in die Schwierigkeiten "zeitgemäßer Museumskonzeptionen". Rainbird beschreibt die internen Widerstände gegen strukturelle Veränderungen, z.B. gegen die Datenerfassung und die Mischung der Gattungen in der Dauerausstellung (110f.). Ackermann rühmt die Kunstsammlung NRW als "heimliche Nationalgalerie" (88), Schuster das Neue Museum als "Wunder" (60); beide geben sich, wie Roth es nennt, als "Verkäufer". Rainbird hat inzwischen seine Stelle aufgegeben. [5]


Anmerkungen:

[1] Hartmut John / Anja Dauschek (Hgg.): Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld 2008; http://www.museumsassociation.org/campaigns/museums2020; http://www.museumvereniging.nl/Devereniging/Agenda2026.aspx; http://www.museumsbund.at/MuseumSelbstbewusst.pdf.

[2] "Süddeutsche Zeitung" 22. und 26. Juni 2012, "Berliner Zeitung" 26. Juni 2012.

[3] Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln, http://www.icom-deutschland.de/client/media/364/icom_ethische_richtlinien_d_2010.pdf.

[4] "Die Welt" 26. Febr. 2012.

[5] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.staatsgalerie-in-stuttgart-freiheit-und-verantwortung-auch-fuer-das-museum.e6428796-9e31-467c-a84a-f4fd71842bf5.html (24. März 2012).

Peter Keller