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Susanne Lachenicht: Atlantische Geschichte. Einführung, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 11 [15.11.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/11/forum/atlantische-geschichte-159/

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Atlantische Geschichte

Einführung

Von Susanne Lachenicht

Nachdem wir in der Januarausgabe 2012 der sehepunkte das Konzept Atlantische Geschichte, seine Bedeutung für die Frühneuzeitforschung bzw. für ein besseres Verständnis der Genese einer "westlichen Welt" vorgestellt hatten (http://www.sehepunkte.de/2012/01/), widmet sich das FORUM der Novemberausgabe der sehepunkte wieder diesem Forschungsfeld. Die fünf hier vorgestellten Arbeiten zur Atlantischen Geschichte machen erneut das weite Spektrum der behandelten Themen deutlich, ebenso aber auch, dass Atlantische Geschichte oder Atlantic Studies sich im Unterschied zu den Transatlantic Studies nicht als bilateral, sondern als multilateral und reziprok verstehen und die entangledness von Transformationsprozessen auch über den atlantischen Raum hinaus in den Blick nehmen.

Ein Beispiel für die für die Atlantische Geschichte typischen Verschiebungen von Fokus und Bedeutungshorizont ist der von Claudia Schnurmann (Hamburg) besprochene Band Napoleon's Atlantic. The Impact of Napoleonic Empire in the Atlantic World. Die Herausgeber, Christophe Belaubre, Jordana Dym und John Savage, lenken den Blick weg von Frankreich bzw. von den Auswirkungen der napoleonischen Kriege auf dem europäischen Kontinent hin auf die schon bei Jacques Godechot und Robert Palmer in den 1950er und 1960er Jahren aufgeworfene Frage nach der Entstehung von Freiheit und Demokratie in einem gemeinsamen nordatlantischen Raum bzw. der so genannten westlichen Welt. Im Unterschied zu Godechot und Palmer ist der Zugriff auf das Thema jedoch nicht auf die Wechselbeziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich beschränkt, sondern weitet den Fokus in Richtung Karibik, Mittel- und Südamerika und Spanien. Damit wird zwar nicht die weltgeschichtliche Deutung der napoleonischen Politik ins Zentrum des Interesses gerückt, aber der Blick sehr viel mehr geweitet, als dies vor allem deutsch- und französischsprachige Studien zum Thema Napoleon in den letzten Jahrzehnten getan haben.

Der von Raphael Hörmann (Gießen) vorgestellte Routledge Companion to Anglophone Caribbean Literature widmet sich einer Weltregion, die nicht nur im 17. und 18. Jahrhundert zu einem der Zentren der Entstehung einer globalen Wirtschaft wurde, sondern deren Diasporen afro-amerikanische, amerikanische und europäische Literaturen und Kulturen geprägt haben: die Karibik. Der Band versteht sich nicht als Überblick über die literarische Produktion karibischer Autoren, sondern versucht ihren Entstehungskontext und ihre politischen, sozialen und kulturellen Implikationen in den Blick zu nehmen, ein Anspruch, den die einzelnen Autoren, wie Raphael Hörmann schreibt, nur zum Teil erfüllen.

Mit Daniel Careys und Christopher Finlays The Empire of Credit liegt ein typischer Beitrag zum British Atlantic vor, der an Aktualität jedoch kaum zu übertreffen ist. Die Autoren des Bandes diskutieren, wie Anne-Sophie Overkamp (Frankfurt/Oder, Bayreuth) zeigt, die Entstehung des atlantischen Finanz- und Wirtschaftssystems, aus dem sich die globalisierte Finanz- und Wirtschaftswelt des 21. Jahrhundert (u.a.) entwickelte. Die Beiträge widmen sich der Gründung von nationalen Banken, unterschiedlichen Finanz- und Wirtschaftsphilosophien, den Auswirkungen der amerikanischen Unabhängigkeit auf Geldströme und -systeme, aber auch der Inklusion und Exklusion von Staaten in die entstehenden atlantischen bzw. globalen Finanzimperien.

Ebenso aktuell kommt der von José Luis Gasch-Tomás (EUI, Florenz) besprochene Band daher, der sich mit Handels- bzw. Kaufmannsnetzwerken im atlantischen Raum befasst, den Schwerpunkt aber im Vergleich zu vielen anderen neueren Studien wie die von David Hancock auf den mittel- und südatlantischen Raum richtet. Die von Nikolaus Böttcher, Bernd Hausberger und Antonio Ibarra herausgegebenen Redes y Negocios Globales en el Mundo Ibérico, Siglos XVI-XVIII diskutieren die für die frühneuzeitliche europäische und nordatlantische Wirtschaftsgeschichte relevanten Begriffe wie Netzwerke, Vertrauen, Informationen, Gerüchte, weak und strong ties anhand von Beispielen, die der Forschung bislang weniger bekannt waren und die für die Entstehung von Märkten in der Frühen Neuzeit bereits vorhandene Typologien und Konzepte bestätigen bzw. verfeinern helfen.

Dem Thema Religion widmet sich der von Ulrike Kirchberger (Bayreuth) besprochene Mastering Christianity. Missionary Anglicanism and Slavery in the Atlantic World. Travis Glasson macht darin deutlich, dass nicht nur Jesuiten und Pietisten inklusive Herrnhuter bereits vor dem 19. Jahrhundert über geographisch weit gespannte bzw. sogar globale Netzwerke verfügten, sondern dass dies durchaus für nationale protestantische Kirchen wie die anglikanische und ihren Missionsarm, die Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts (SPG), galt; ein weiteres Beispiel für den fruchtbringenden transnationalen bzw. multilateralen Ansatz in der Analyse von Strukturen und Organisationen in der Frühneuzeitforschung.

Atlantische Geschichte als fruchtbares Forschungsfeld, das nicht nur dem besseren Verständnis der Frühen Neuzeit jenseits des Alten Reichs und Europas dient, sondern auch der Vernetzung von Forschern weltweit zum Ziel hat, hat weiterhin Konjunktur, wie auch die vom 13.-15. Dezember in Bayreuth tagende European Early American Studies Association mit ihrem diesjährigen Thema Empire and Imagination in Early America and the Atlantic World zeigt (http://www2.warwick.ac.uk/fac/arts/cas/eeasa/conferences/bayreuth2012/). Weitere Buchvorstellungen werden in den sehepunkten folgen.

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