Rezension über:

Gabriele Schor: Cindy Sherman. Das Frühwerk 1975-1977. Catalogue Raisonné, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, 376 S., ca. 288 Abb, ISBN 978-3-7757-2980-2, EUR 49,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Hanne Loreck
Hochschule für bildende Künste, Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Stefan Gronert
Empfohlene Zitierweise:
Hanne Loreck: Rezension von: Gabriele Schor: Cindy Sherman. Das Frühwerk 1975-1977. Catalogue Raisonné, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [15.01.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/01/21346.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Gabriele Schor: Cindy Sherman

Textgröße: A A A

Bis vor nicht allzu langer Zeit konnten selbst die Kunstinformierten annehmen, Cindy Shermans Werk begönne mit den legendären Untitled Film Stills der Jahre 1977 bis 1980. Ab dem Jahr 2000 sickerten dann frühere fotografisch-performative Arbeiten in die Kunstöffentlichkeit und den Kunstdiskurs, wesentlich solche aus dem späten Studium am State University College at Buffalo und der frühen New Yorker Zeit. Und nun ist es amtlich: "Cindy Sherman. Das Frühwerk 1975-1977" ist in diesem Jahr erschienen, zeitgleich mit der großen Cindy Sherman-Retrospektive im MoMA in New York, aber auch zeitgleich mit der Ausstellung "That's me - That's not me. Frühe Werke von Cindy Sherman" der SAMMLUNG VERBUND in Wien. Deren Leiterin, die österreichische Publizistin und Kunsthistorikerin Gabriele Schor, hat den Catalogue raisonné wissenschaftlich aufbereitet und herausgegeben. Insgesamt 59, auch mehrteilige Einträge können, so die Herausgeberin, "ein überzeugendes Frühwerk" belegen, "das trotz seiner Vielfalt eine erstaunliche Homogenität aufweist und sowohl Shermans intuitive als auch entschieden konzeptuelle Arbeitsweise zeigt." (7)

Solch Geste lässt sich öfter beobachten: Ist ein künstlerisches Werk erst etabliert und in jede Richtung abgesichert - spielen also Kunstmarkt, Kunstkritik und möglicherweise sogar Kunsttheorie reibungslos zusammen -, so können die Versuche "vor dem Beginn" einer großartigen Karriere das anerkannte Werk noch einmal im Licht des Labors erscheinen lassen. Da das Publikum weiß, wohin die Arbeitsweise geführt hat, wird also aus den Arbeiten der Studentin und gerade Graduierten nachträglich ein Frühwerk. Das also, was zunächst aus nachvollziehbaren Gründen als noch vorläufig und als Testfall erachtet wurde, erhält nun einen eigenen, ja einen formativen Status. Niemals wird ein solches Frühwerk der Künstlerin oder dem Künstler schaden. Im Gegenteil, die Kunstkritik wird darin eine Anlage dessen erkennen, was sich später klar und deutlich zeigen wird, wobei das Wort "Anlage" hier durchaus doppelt verstanden werden kann, denn die einzelnen, nach und nach zum Vorschein kommenden Arbeiten sind nicht nur Ausdruck einer Begabung, sie sind auch Gold wert.

Überlegungen rezeptionstheoretischer Art spielen für Gabriele Schor freilich keine Rolle. Die Autorin und Herausgeberin geht eher untheoretisch vor und stellt den Bilddaten des kritischen Werkkatalogs eine Nacherzählung der biografisch-zeitgeschichtlichen Hintergründe voran (Cindy Sherman - Die frühen Jahre in Buffalo (11-38)) und kommentiert anschließend Die frühen Werke. 1975-1977 (39-85). Dabei förderte die umfängliche Recherche der frühen Rezeption die feuilletonistische Atmosphäre jener Jahre zu Tage; Shermans aktuelle Antworten auf konkrete Fragen in Gesprächen und Emails mit der Autorin konkretisieren vornehmlich Arbeitsmaterialien und technische Prozesse. Shermans Sachlichkeit angesichts der Erfindung ihrer Figuren stellt dabei den wohltuenden Gegenpol dar zum längst schon stereotyp gewordenen und auch hier bemühten Diskurs, alles in allem handele ihre Arbeit von (weiblichen) Stereotypen.

Schors mit Erinnerungen bemerkenswert vieler Zeitzeugen plastisch gestaltete, ja geradezu unterhaltsame Schilderung der zweieinhalb Jahre beginnt mit Shermans hinlänglich bekanntem erstem Fotografiekurs im Frühjahr 1975 samt seiner Alptraumaufgabe, sich gegenseitig nackt im Wald zu fotografieren und reicht bis zu ihrem Umzug nach New York im Juli 1977.

Schor legt ihren Schwerpunkt auf kollektive Aktivitäten, voran das Ende 1974 aus der Taufe gehobenen Hallwalls Contemporary Art Center in Buffalo: im oberen Stockwerk die WG von Sherman, Robert Longo und einem weiteren Künstler, unten "drei Ausstellungsräume, ein Performancebereich, eine Projektionskabine, eine Dunkelkammer, eine Bibliothek, Büros und ein Gemeinschaftsraum" (20). Sichtlich war die nichtkommerzielle Galerie damals medial orientiert (im Kontrast zum Zeitzeugnis eines Malereiprofessors aus Shermans Anfängen, der mir einmal sagte, das hochschulische Umfeld hätte damals noch immer dem Greenberg'schen Medienreinheits- und Abstraktionsdiktat gehorcht). Schor weist nach, dass unter den nach Hallwalls und in die Albright-Knox Art Gallery in Buffalo geladenen Gästen Positionen wie Acconcis oder Burdens Body-Art Eindruck auf Sherman machten (33), dass aber ebenso die etwa eine Generation älteren feministischen Künstlerinnen von Eleanor Antin über Lynda Benglis zu Adrian Piper Einfluss ausgeübt hätten. Sie taten dies freilich weniger inhaltlich als im identitären Sinn der Stärkung der Position einer weiblichen Künstlerin (35).

Schors Fokussierung auf Konzeption und Umsetzung gemeinschaftlicher Projekte gelingt in der Nachzeichnung der Zeit dann aufschlussreich, wenn deutlich wird, wie spontan, informiert und vernetzt die Provinz in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre war, obgleich oder gerade weil die Kids von der - in Relation zum damaligen Kunstzentrum NYC - Peripherie ihre Fragen nicht unbedingt schon von zu Hause mitbrachten, sondern blitzschnell ihre Lektion lernten.

Schließlich verfährt Schor bei der inhaltlichen Kontextualisierung der wichtigsten der 59 Katalognummern ähnlich wie bei dem biografischen Part; auch hier suggeriert die Darlegung im Präsens Lebendigkeit und Dynamik. So meint die Leserin, an lauter kleinen Bildherstellungsabenteuern teilzuhaben. Sie wird jedoch anhand der ästhetisch-theoretischen Kontextualisierungen ziemlich ernüchtert, wenn ein Leporello von 1975 aus aneinander genähten (Selbst)Porträts unter der Überschrift Faltung des Subjekts (44) an Deleuze's Barockdiskurs angeschlossen wird - wir suchen das Zitat vom "zur Falte gewordenen Subjekt" (47) leider vergeblich in seinem Leibniz-Buch an der von Schor angegebenen Stelle -, um mit folgendem Orakel zur Urszene von Shermans metamorphotischem System stilisiert zu werden: "Denn zukünftig wird das Unteilbare [...] seine Vorsilbe verlieren und zum teilbaren Subjekt." (47) Den Zeitraum abschließend, in dem das Frühwerk entstand, heißt es dann bezüglich der diversen Methoden der Verwandlung: "In den Jahren in Buffalo lotet die Künstlerin aus, wie es sich anfühlt, in eine Rolle zu schlüpfen und sich von ihrem Selbst zu entfernen. Sherman findet in dieser Zeit ihren künstlerischen Weg, indem sie die 'Spaltung des Subjekts' und die 'Transformation des Subjekts' vielseitig inszeniert." (85) Wie, bitte, gehen Faltung und Spaltung und Transformation zusammen, zumal sie in das esoterische Schlussurteil münden, Cindy Shermans Frühwerk sei nicht "im Sinne des 'Simulacrums' postmodern, sondern zutiefst wahrhaftig" (85)?

Nicht lediglich bedauerlich, sondern regelrecht ärgerlich ist, dass auch dieses sorgfältig zusammengetragene und ebenso edierte Handbuch fortschreibt, was fast alle Publikationen zur Künstlerin ausmacht: Unabhängig von ihrer Art - ob Katalog, kunstkritischer oder wissenschaftlicher Essay - spiegelt sich immer wieder von neuem eine schwer erklärbare Ignoranz gegenüber der deutschsprachigen Rezeption der Künstlerin, sobald sie das Register der Kunstkritik verlässt. Dessen ungeachtet erfüllt das Buch alle Forderungen, die die Wissenschaftlerin an ein Werkverzeichnis stellt: eine plausible (nämlich chronologische) Ordnung der Arbeiten, einmal Blatt für Blatt in ausgezeichneter Reproduktionsqualität, einmal nach gängigem Muster vollständig bezeichnet und kritisch annotiert. Letzteres hat Ema Rajkovic zuverlässig besorgt, die auch unter dem Blickwinkel des Frühwerks ein Ausstellungsverzeichnis erarbeitete und kommentierte. Mit seinem schweren Luxosamt Art-Papier, auf dem die Abbildungen eine Spur nostalgisch stehen, ist der Catalogue raisonné repräsentativ gestaltet, mithin gleichermaßen als Nachschlagewerk für die künftige Forschung nützlich wie als Buchobjekt ästhetisch ansprechend.

Hanne Loreck