Rezension über:

Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin: Akademie Verlag 2012, 181 S., ISBN 978-3-05-005683-8, EUR 29,80
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Rezension von:
Claudia Zey
Historisches Seminar, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Zey: Rezension von: Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin: Akademie Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [15.01.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/01/21869.html


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Johannes Fried: Canossa

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Johannes Frieds Streitschrift ist "ein nicht unpolemischer Beitrag zur historischen Methodologie" (7), konkret der historischen Memorik, einem neurologisch und anthropologisch basierten Ansatz, der die Leistungskraft des menschlichen Gedächtnisses zum Angelpunkt für Überlegungen zum historischen Wissen und zu historiografischen Quellen macht. Dieser Ansatz hat den bestechenden Reiz, etablierte historische Methoden zum Umgang mit Quellen an viel grundsätzlichere Fragen menschlichen Seins und ihrer biologischen Determinanten anzubinden und einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Insofern ist er ein Plädoyer dafür, mittelalterliche Quellen nicht losgelöst von den existentiellen Bedingungen ihrer Autoren zu analysieren. Weitere Verformungen, so will Fried uns beispielhaft zeigen, verstellen den Blick auf Neuinterpretationen. Die "hermeneutischen Prädispositionen heute lehrender Historiker" (7) sind bezogen auf Heinrichs IV. 'Gang nach Canossa' als schicksalhafte Wende der hochmittelalterlichen deutschen und europäischen Geschichte besonders ausgeprägt, weswegen sie ausführlich thematisiert werden (Kap. 2.1-2.3 und 4), ebenso wie die im Ergebnis nicht "vertrauenswürdigen Geschichtsschreiber" Lampert von Hersfeld, der Sachse Bruno und der Schwabe Berthold (Kap. 5).

Welche Autoren aber können alternativ in den Zeugenstand gerufen werden, um uns einen unverstellten Blick auf die verschneiten Ereignisse von Canossa zu ermöglichen (Kap 6: Rekonstruktionen)? Zunächst wird ein Augen- und Ohrenzeuge der Triburer Fürstenversammlung vom Oktober 1076 aufgerufen, der das vereinbarte Treffen zwischen Papst Gregor VII. und den deutschen Fürsten nicht auf den 2. Februar 1077, sondern bereits auf den 6. Januar 1077 datiert. Eingehende quellenkritische Prüfungen bleiben bei diesem sogenannten 'Königsberger Fragment' allerdings außen vor, denn sein Verfasser kann nicht sicher bestimmt und das Fragment keiner Autopsie mehr unterzogen werden, da die unikale Handschrift als Kriegsverlust gelten muss. Fried hat es dennoch zum Ausgangspunkt diffiziler Überlegungen zu Reisewegen und Reisegeschwindigkeiten genommen, um einen deutlich früheren Aufbruch Gregors VII. von Rom Richtung Norditalien und Süddeutschland postulieren zu können (Kap. 2.5 und 2.6).

Gründe zu der für Fried zentralen Annahme, dass von hochrangigen Vermittlern angeregte Friedensverhandlungen zwischen dem Papst, dem gebannten König und den oppositionellen Fürsten Gregors frühen Aufbruch veranlasst haben, bietet der "in seinem Wert unterschätzte und immer wieder falsch übersetzte Mailänder Chronist Arnulf" (32). Das erste Urteil überzeugt nicht, muss Arnulf - auch mit Blick auf jüngere Kontroversen zum Investiturstreit - doch als derjenige ausgemacht werden, der mit seiner singulären Meldung eines frühen, wohl 1075 zu datierenden päpstlichen Investiturverbots für den römisch-deutschen König der historischen Forschung eine Knacknuss oder besser einen Zankapfel par excellence geboten hat. Nicht zum ersten Mal also findet sich dieser Quellenautor mit seinem Bericht im "Zentrum des Streits". [1] Die Hochschätzung seines Liber gestorum recentium durch Johannes Fried in der Canossa-Frage resultiert aus der zeitlichen und örtlichen Nähe Arnulfs zu den Geschehnissen. Die Abfassung des fünften Buches dürfte 1077, spätestens 1078 erfolgt sein. [2] Sie stand sichtlich unter dem Einfluss der reichsgeschichtlichen Entwicklungen, denen Arnulf in diesem letzten Buch seines Werkes mehr Raum gab als in den vorangehenden Büchern. Da ihn diese (auch für ihn persönlich und seine Stadt umwälzenden) Ereignisse sogar zum Knotenpunkt des Geschehens führten, hat Arnulf nach herkömmlichen Regeln der Quellenkritik als sehr gut informiert zu gelten. Sicher war er aber nicht, wie Fried mehrfach suggeriert, Augenzeuge des Geschilderten (34, 57, 102, 109). Arnulf lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Mailänder in Kenntnis der Vorgänge von Canossa von ihrem Erzbischof Tedald, einem ehemaligen königlichen Hofkaplan, den Gregor VII. auf der Fastensynode 1076 exkommuniziert hatte, distanzierten und mit einer Gesandtschaft, welcher Arnulf angehörte, um Absolution für den Umgang mit dem Exkommunizierten baten. Wann und wo genau sich diese Legation bei Gregor VII. einfand, ist vollkommen offen. Gregor VII. hielt sich noch die gesamte erste Jahreshälfte 1077 auf den Besitzungen der Markgräfin Mathilde von Tuszien auf. Allenfalls legt die Binnenchronologie von Arnulfs Bericht nahe, dass sich die Mailänder Delegation bald nach Gregors und Heinrichs Aufeinandertreffen in Canossa auf den Weg gemacht hat.

Im Wesentlichen sind es drei Stellen im achten Kapitel des fünften Buches, auf die Fried seine These eines von langer Hand geplanten, an den Absichten der Fürsten vorbei geschlossenen Friedensvertrages zwischen Papst und König stützt.

1. Der mit einem unbestimmten Interim (bezogen auf die moralischen Anklagen der Fürsten gegen Heinrich IV.) eingeleitete Satz über die Initiative (conscilium) Hugos von Cluny, der Königsmutter Agnes sowie der überaus weisen Mathilde zu einem generale colloquium zwischen den Fürsten, dem König und dem Papst um des Friedens und der Gerechtigkeit willen.

2. Der Nachsatz zum Bußakt Heinrichs IV., dass dieser die von seinen Getreuen geschlossenen Eide unter der Bedingung herzustellender Gerechtigkeit bestätigt habe (suorum iuramenta fidelium pacta confirmans sub condictione iustitie faciende).

3. Der Abschluss der Canossa-Schilderung, dass durch die große Klugheit Mathildes deren (Heinrichs IV. und des Papstes) Friedensvereinbarungen bekräftigt worden sind (consolidata sunt pacis eorum federa), während die Bischöfe weiter feindlich und streitbar blieben.

Bei der Interpretation legt Fried zu Recht großen Wert auf die semantische Analyse von Arnulfs Text. Dabei bezieht er sich auf lexikalische Standards und allgemeine Untersuchungen zum mittelalterlichen Wortgebrauch, beachtet unverständlicherweise aber nicht Arnulfs eigenen Sprachgebrauch im gesamten Werk, was mit Hilfe des Wortregisters oder der elektronischen Suchoptionen in der Edition leicht möglich gewesen wäre. [3] Allerdings hätte er seine Thesen dann wohl nicht mehr so dezidiert vertreten können.

Entschieden verwirft Fried die Ansicht, bei dem von Arnulf erwähnten generale colloquium habe es sich um die in anderen Quellen genannte Gerichtssitzung gehandelt, zu der die opponierenden Fürsten Gregor VII. nach Deutschland eingeladen haben. Ein generale colloquium, so Fried an mehreren Stellen (besonders 122-124), stünde jeder Gerichtsassoziation fern, sei vielmehr als Aussprache zwischen den drei gleichberechtigten Vertragspartner zu verstehen. Arnulfs Gebrauch dieses Terminus technicus spricht aber eine andere Sprache, denn in beiden Fällen, in denen Arnulf in vorangehenden Kapiteln ein generale colloquium erwähnt, geht es unzweifelhaft um allgemeine (Hof- oder Reichs-)Versammlungen, bei denen gerichtlich verhandelt und geurteilt wurde. [4] Dass es in Heinrichs Fall - die Fürsten, so Arnulf, hätten ihn vieler Verbrechen angeklagt (!) und mit Schande gebrandmarkt / mit Schmach beschimpft - um Frieden und Gerechtigkeit gehen sollte (pacis et iustitiae causa), schließt gerichtliche Verfahrensschritte keinesfalls aus. Im römisch-kanonischen Verfahren wurde nicht die Sentenz, sondern der Vergleich angestrebt. Genau diese beiden Alternativen sind im Eidschwur Heinrichs IV. als Ergebnis der Verhandlungen von Canossa genannt: Entweder sollte Heinrich innerhalb einer von Gregor festgesetzten Frist Gerechtigkeit gemäß dessen Urteil schaffen oder Eintracht gemäß dessen Rat; allerdings nur, wenn ihm oder dem Papst nicht ein eindeutiges Hindernis im Weg sei. Das war der taktische Vorteil, den Heinrich erreicht hatte, indem er sich der in seiner Heimat anberaumten Versammlung einstweilen entzogen hatte. [5] Arnulf kennt nur dieses colloquium.

Im Sinne des Verfahrens ist auch Arnulfs knappe Zusammenfassung des Bußakts von Canossa zu verstehen: Heinrich büßte vor dem Papst, bat um Verzeihung und bekräftigte die von seinen Getreuen geleisteten Eide unter der Bedingung wieder herzustellender Gerechtigkeit (sub conditione iustitiae faciende). Damit ist aber keine Entlastung Heinrichs gemeint, sondern eine Auflage, die in der schon zitierten Eidformel klarer und deutlicher fixiert ist, und der sich Heinrich nur entziehen konnte, wenn er eindeutig daran gehindert würde.

Auch zur Deutung der von Fried zu einem elaborierten Vertragswerk aufgewerteten federa pacis empfiehlt sich der Blick auf Arnulfs Sprachgebrauch. Die verschiedenen Situationen, in denen Arnulf den Abschluss von Konflikten mit diesen Worten beschreibt, legen keine schriftliche Fixierung einer Friedensvereinbarung nahe, sondern eher das mündlich und zeremoniell bekräftigte Ende eines Konflikts. [6]

Da Arnulf keine eindeutigen Argumente für einen "Pakt von Canossa" liefert, taugt er nicht zur Schlüsselfigur im Kronzeugenstand, zu dem Fried ihn im Sinne seiner These aufbauen möchte. Ob Abt Donizo von Canossa, dem Fried ebenfalls hohen Stellenwert einräumt (34 und öfter), Entscheidendes zur "Entlarvung einer Legende" beizutragen vermag, ist äußerst zweifelhaft, brachte er seine poetische Lebensbeschreibung Mathildes doch erst um 1115 zu Pergament.

Johannes Frieds Beitrag ist zweifellos originell, weil er die Vorgänge von Canossa unter die Lupe der historischen Memorik gelegt und die Diskussion damit aus einer völlig neuen Perspektive belebt hat. In den Kernthesen hingegen vermag er nicht zu überzeugen, weil die bekannten Quellen zu selektiv nur im Sinne seiner These und Methode interpretiert werden.


Anmerkungen:

[1] Claudia Zey: Im Zentrum des Streits. Mailand und die oberitalienischen Kommunen zwischen regnum und sacerdotium, in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschung, hg. von Jörg Jarnut / Matthias Wemhoff (= Mittelalter-Studien; 13), München 2006, 595-611.

[2] Ausführlicher zur Abfassungszeit in der Editionseinleitung: Arnulf von Mailand: Liber gestorum recentium, ed. Claudia Zey (= MGH SS rer. Germ.; 67), Hannover 1994, 20f.

[3] Als Beispiel für die Nutzung der Suchoptionen in den dmgh sei die URL für colloquium im Liber gestorum recentium angegeben [Zugriff am 30.12.2012]: http://www.dmgh.de/de/fs1/object/context/bsb00000715_meta:titlePage.html?context=colloquium&sortIndex=010%3A070%3A0067%3A010%3A00%3A00&contextSort=sortKey&contextOrder=descending&contextType=scan&action=Finden.

[4] Vgl. Arnulf: Liber gestorum (wie Anm. 2) I 2, 120 über den Streit König Hugos von Arles mit den Mailändern über den angeblichen Plan des Königs, den alten Erzbischof Arderich aus dem Weg zu schaffen; ibid. II 12, 156 zur Gefangennahme des Mailänder Erzbischofs Aribert durch Konrad II. im Rahmen eines generale colloquium in Pavia. Vgl. Wipo: Gesta Chuonradi, in: Die Werke Wipos, hg. von Harry Bresslau (= MGH SS rer. Germ. [; 61]), Hannover 1915, 1-62, hier cap. 35, 55, der ausführlich ein Gerichtsverfahren mit Anklage, Verteidigung und Urteil auf demselben generale colloquium in Pavia beschreibt.

[5] Vgl. Das Register Gregors VII., ed. Erich Caspar (= MGH Epp. sel.; 2, 1), Berlin 1920, IV 12a, 315: aut iustitiam secundum iudicium eius aut concordiam secundum consilium eius faciam.

[6] Vgl. Arnulf: Liber gestorum (wie Anm. 2) II 17, S. 162; III 1, 169; III 20, 198.

Claudia Zey