Rezension über:

Jörg Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR. Sachsen in der Ära Ulbricht (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; Bd. 48), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 379 S., ISBN 978-3-525-36959-3, EUR 64,99
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Rezension von:
Tobias Wunschik
Abteilung Bildung und Forschung, BStU, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Wunschik: Rezension von: Jörg Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR. Sachsen in der Ära Ulbricht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4 [15.04.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/04/22463.html


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Jörg Müller: Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR

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Der DDR-Strafvollzug wurde seit der Öffnung der Archive vor mehr als zwanzig Jahren zumeist mit dem Fokus auf einzelne Haftanstalten (etwa in Bautzen oder Halle) untersucht. Auch Teilaspekte (wie der Häftlingsfreikauf oder der Arbeitseinsatz) wurden erforscht sowie Momentaufnahmen (etwa vom Endzustand von 1989) angefertigt. Eine Überblicksdarstellung über das ostdeutsche Gefängniswesen stand hingegen noch aus, so dass die Arbeit von Gerhard Finn und Karl Wilhelm Fricke [1] aus dem Jahr 1981 zu Recht noch häufig zitiert wurde.

Eine detaillierte, quellengestützte Gesamtdarstellung bietet nun Jörg Müller, der unzählige Akten bezirklicher und zentraler Provenienz sichtete. Aus diesen zitiert er vielfach wörtlich, leistet aber sorgsame Quellenkritik und geht in der Analyse ein paar Schritte weiter: So wagt er einen Vergleich mit dem Strafvollzug der Nationalsozialisten und dem der Bundesrepublik. Den zentralen Begriff des politischen Gefangenen diskutiert der Autor ebenfalls, dehnt ihn aber auf sämtliche Verfolgten des SED-Regimes aus, unabhängig von ihren (echten oder vermeintlichen) Taten und Motiven. Folglich vermutet er auch in den Arbeitserziehungslagern einen "Großteil" politischer Gefangener (233) und veranschlagt deren Anteil in Bautzen I im Jahre 1952 gar auf 97 Prozent (159), was alle ehemaligen Speziallager-Insassen einschließen würde, unter denen auch echte NS-Täter waren. Leitende Fragestellung seiner Studie sind aber nicht die Gefangenen, sondern die Strafvollzugspolitik und die Haftwirklichkeit, deren Verhältnis zueinander er im "systematischen Nebeneinander von Normenstaat und Maßnahmenstaat" begründet sieht (333).

Müller beleuchtet zunächst den Wiederaufbau der ostdeutschen Gefängnisverwaltung durch die Justiz nach Kriegsende. Da hierzu wenige Häftlingsberichte vorliegen, greift der Autor für die 1940er Jahre fast ausschließlich auf Akten der Gefängnisverwaltung zurück. Doch auch diese spiegeln die Haftwirklichkeit wider, da seinerzeit in den Berichten noch nicht so sehr beschönigt wurde. Die Justiz setzte auf Reformen und wollte Gelegenheitstätern mildere Haftbedingungen gewähren oder ihnen eine Strafverbüßung sogar ganz ersparen. Eine neu eingerichtete Gefangenenselbstverwaltung besaß seinerzeit ein Mitspracherecht bei Arreststrafen und wurde sogar bei Entlassungen gehört. Damit kontrastiert die katastrophale materielle Ausstattung: Im Winter 1946/47 gab es kaum Heizmaterial und nicht einmal Decken für alle Gefangenen; reduzierte Verpflegung führte zu vielen Toten. In Beschwerdebriefen kritisierten gleichwohl "freie" Bürger etwa die Haftanstalt Zwickau als "Erholungsheim", da hier offener Vollzug herrschte (65). Doch auch innerhalb der Verwaltung setzten viele Verantwortliche auf nackte Repression: Ein Zwickauer Staatsanwalt etwa schrieb 1947 der späteren Justizministerin Hilde Benjamin, "dass die menschliche Gesellschaft absolut nichts verliert, wenn ein Mensch, der x-mal vorbestraft ist, auch aus besonderen Umständen in der Haft einmal stirbt" (73).

Nach der Phase der Zuständigkeit der Justiz für die Gefängnisse (bis 1950) beleuchtet Müller die Übertragung der Verantwortung auf die Volkspolizei (1950-52) und deren weitere Tätigkeit (bis 1989). Den ersten zehn Jahren des ostdeutschen Strafvollzugs nach Kriegsende gilt so die erste Hälfte der Studie, während die zweite Hälfte dann mehr als dreißig Jahre zum Gegenstand hat. Diese Akzentuierung ergibt sich teils daraus, dass viele Grundsatzentscheidungen zum Strafvollzug tatsächlich in den frühen Jahren fielen. Vor allem jedoch hinterließ die Gefängnisverwaltung ab den 1970er Jahren viel weniger aussagekräftige Unterlagen. Die 1980er Jahre vernachlässigt Müller fast vollständig, obwohl 2009 eine Studie zum ostdeutschen Gefängniswesen im Jahre 1989 erschien. [2] Verzichtet hat Müller auf eigene Zeitzeugeninterviews, kompensiert dies aber durch die intensive Rezeption der Autobiografien ehemaliger Insassen.

Müllers Hauptkapitel über den DDR-Strafvollzug unter der Ägide der Volkspolizei durchläuft die Jahre zwischen 1952 und 1989 zweimal - einmal mit der Darstellung von "Haftregime und Strafvollzug in der Praxis" (in Abschnitt V.3) und ein weiteres Mal mit der Darstellung der "Haftbedingungen im Überblick" (in Abschnitt V.5). In beiden Abschnitten geht Müller chronologisch vor, unter Beachtung von allgemeinen historischen Zäsuren wie Volksaufstand und Mauerbau. Der erstgenannte Abschnitt handelt von den Kontroversen zwischen Gefängnisverwaltung, Staatsanwaltschaft, Justiz, Parteigremien und Staatssicherheit, dem Arbeitseinsatz, der Überbelegung, den Amnestien, der Gefangenenmisshandlung, den Versorgungsproblemen und den unerwünschten Westkontakten der Aufseher. Besonderes Augenmerk legt Müller auf die Haftbedingungen, hauptsächlich aus Sicht der Machthaber im Spiegel ihrer Akten. Im Abschnitt V.5 werden die Haftbedingungen dann mehr aus der Sicht der Betroffenen und stärker auf der Basis von Häftlingsbiografien geschildert - neben neuen Stichworten (wie etwa der Häftlingsseelsorge) werden so abermals Arbeitseinsatz, Gefangenenmisshandlung und Versorgungsprobleme behandelt. Dank der dichten, detaillierten Beschreibung kommen aber nur wenige Aspekte etwas zu kurz - wie etwa die verschiedentliche Gewaltanwendung von Häftlingen untereinander oder die Homosexualität einiger Insassen. Diese Tabu-Themen ließen bislang fast alle Autoren zum DDR-Strafvollzug außer Betracht.

Obwohl Müller die zentrale Gefängnisverwaltung in Ostberlin genau beleuchtet, liegt sein geografischer Schwerpunkt doch auf Sachsen. Sachliche Gründe (wie die Schrittmacherfunktion der sächsischen Strafvollzugsreformen in den Nachkriegsjahren), vor allem aber arbeitsökonomische Überlegungen sprachen dafür. Folglich werden einige regionale Besonderheiten (wie die sächsische Kommandohaft) erwähnt, während der wichtigere Jugendstrafvollzug nicht behandelt wird. Diese thematische, geografische und zeitliche Fokussierung ist, zumal bei einer Dissertation, legitim, hätte jedoch einen präziseren Buchtitel verlangt. Die eingangs vermisste Gesamtdarstellung des DDR-Strafvollzugs steht also noch aus.


Anmerkungen:

[1] Gerhard Finn / Karl Wilhelm Fricke: Politischer Strafvollzug in der DDR, Köln 1981.

[2] Birger Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung. Kriminalpolitik und Gefangenenprotest im letzten Jahr der DDR, Berlin 2009.

Tobias Wunschik