Rezension über:

Dariusz Stola: Kraj bez wyjścia? Migracje z Polski 1949-1989, Warschau: Instytut Pamięci Narodowej 2010, 536 S., ISBN 978-83-7629-238-0
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Rezension von:
Bernard Wiaderny
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Bernard Wiaderny: Rezension von: Dariusz Stola: Kraj bez wyjścia? Migracje z Polski 1949-1989, Warschau: Instytut Pamięci Narodowej 2010, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4 [15.04.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/04/23317.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Dariusz Stola: Kraj bez wyjścia?

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In seiner Arbeit beschäftigt sich Dariusz Stola mit der Außenmobilität der Polen in den Jahren der kommunistischen Herrschaft, worunter er das zeitlich begrenzte oder dauerhafte Verlassen des eigenen Landes versteht. Der Anfangspunkt der Untersuchung wurde auf das Jahr 1949 festgelegt, weil erst seit diesem Jahr die polnischen Machthaber vollständig die Kontrolle über die Grenzen ausüben konnten. Die besprochenen Themen sind breit gefächert. Sie reichen von der Ausreisewelle der polnischen Juden (vor allem in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre, 1955-1957 und 1968-1971) und der Vertreter der deutschen Minderheit (vor allem 1956-1958, 1971-1972 und 1975-1979) bis zu den zeitlich begrenzten Reisen (auch denjenigen, die gewinnorientiert erfolgten). Stolas Anliegen besteht darin, auch die zeitlich begrenzte Form der Migration, die seines Erachtens in der polnischen Historiografie bisher zu wenig berücksichtigt wurde, zu beleuchten.

Der Autor behandelt das Thema in einem breiten Kontext - so wird unter anderem auch das Verhalten der jeweiligen polnischen Regierungen analysiert. Es ist ihm zuzustimmen, wenn er betont, dass eine derart festgelegte Untersuchung viel über die Natur des politischen Systems der Volksrepublik Polen aussage. In kleinerem Maße berücksichtigt er auch die Haltung des jeweiligen Gast- bzw. Aufnahmestaates, die natürlich für die Entscheidungen der Ausreisewilligen von fundamentaler Bedeutung war. Unverkennbar - und fruchtbar - ist die Präferenz des Autors für die sogenannte "Mesoebene" (21). Darunter versteht er die netzwerkartigen Beziehungen zwischen den bereits Ausgereisten und den Familien- bzw. Bekanntenkreisen in der alten Heimat.

Die Quellenbasis der Arbeit ist umfangreich: Neben amtlichen Dokumenten, allen voran der Passbehörden, werden zahlreiche Erinnerungen der Akteure berücksichtigt. Stola greift auch auf theoretische Überlegungen zurück, ebenso vergleicht er die Migration aus Polen mit jener aus anderen Gebieten (z.B. aus Lateinamerika oder den Philippinen). Die Darstellung wird in einer gut lesbaren Sprache präsentiert, die mit den einzelnen Schicksalen auch sensibel umzugehen weiß. Es tauchen immer wieder interessante, kaum bekannte Einzelheiten auf. Auch die eigenen Beobachtungen des Autors als Zeitzeugen fließen in die Darstellung ein. Im Anhang werden in mehreren Tabellen detaillierte Zahlenangaben präsentiert.

Es lohnt sich, näher auf einige Einzelheiten in der Schilderung einzugehen. So stellte zum Beispiel die Passpolitik der Stalinzeit ein Element der Sowjetisierung Polens dar. Ihre Liberalisierung 1956 ging aber auf das Betreiben der sowjetischen Führung zurück. Nikita Chruš čev höchstpersönlich soll 1958 davon ausgegangen sein, dass "voraussichtlich in 10 Jahren" die Grenzen der Ostblockstaaten geöffnet werden, und "jeder wird reisen können" (92).

Da die Ausreise der Juden und der Deutschen mit finanziellen Zugeständnissen seitens Israels bzw. Westdeutschlands verbunden war, nahm das Verhalten der volkspolnischen Behörden die Züge des Menschenhandels an. Allerdings, präzisiert Stola in Bezug auf die 1970er-Jahre, betrieb die BRD keinen Menschenhandel, sondern "eher kaufte sie diese Menschen [Ausreisewilligen] aus der Unfreiheit auf" (243).

Die Entscheidung auszureisen basierte auf vielen Motiven. Dazu zählte der Zustand "vielschichtiger Deprivation", in welcher sich die autochthone Bevölkerung in der Volksrepublik infolge der Politik der kommunistischen Behörden befand (Zitat 69, vergleiche auch 257). Ein weiteres Motiv war die Existenz personeller Netzwerke zwischen der Bevölkerung in Westdeutschland und den Ausreisewilligen in der Volksrepublik. So wurden zum Beispiel Mitte der 1960er-Jahre jährlich etwa 4,7 Millionen Briefe aus Westdeutschland nach Polen geschickt; in umgekehrter Richtung waren es 5 Millionen. Infolge mehrerer Ausreisewellen vergrößerte sich die Anzahl von Verwandten in der BRD. Dadurch entstanden "transnational social spaces", denen Stola die größte Bedeutung beimisst (196). Schließlich bildeten die komfortablen Aufnahmebedingungen für Deutschstämmige in der BRD einen weiteren wichtigen Entscheidungsfaktor für die Migration.

Einen Sonderfall stellte die Emigration von jüdischstämmigen Personen in den Jahren 1968-1971 dar. Dabei wurden nicht selten Menschen zur Ausreise gezwungen, die sich mit dem Polentum identifizierten und zum kommunistischen Machtapparat gehörten. Beachtenswert ist der Hinweis des Verfasser, dass sich viele von ihnen nicht wegen der antisemitischen Kampagne - die Mitte 1967 begann und im März 1968 ihren Höhepunkt erlebte - zur Ausreise entschieden hätten, sondern als Reaktion auf die militärische Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei im August 1968. Offensichtlich verkörperte dieses Ereignis für sie das Ende aller Hoffnungen auf die Selbstbehauptung des kommunistischen Systems.

Schließlich bespricht Stola die letzte große Migrationswelle zu Zeiten der Volksrepublik nach der Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981. Mehrere Faktoren trugen dazu bei, dass sie derart massive Züge annahm. Zu ihnen gehörte der Druck der Machthaber auf die Oppositionellen, das Land zu verlassen, die starke wirtschaftliche Krise, aber auch die Sympathiewelle im Westen für die Polen. Die Lockerung der Passvorschriften im Dezember 1988 brachte die Kontrollfunktion des Staates praktisch zum Erliegen. In den Jahren 1987-1989 nahmen die zeitlich begrenzten Reisen, die lediglich den Handel bzw. den Schmuggel zum Zwecke hatten, "unglaubliche Ausmaße" an (376). Für viele Beteiligte waren sie "die erste Schule des freien Marktes" (382).

Alles in allem: Es handelt sich um eine beachtenswerte Leistung und ein materialreiches Buch, dessen Lektüre zu empfehlen ist.

Bernard Wiaderny