Rezension über:

Roland Zingg: Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070-1170. Kommunikation und Argumentation im Zeitalter der Investiturkonflikte (= Züricher Beiträge zur Geschichtswissenschaft; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 345 S., ISBN 978-3-412-20846-2, EUR 44,90
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Rezension von:
Hanna Vollrath
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Hanna Vollrath: Rezension von: Roland Zingg: Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070-1170. Kommunikation und Argumentation im Zeitalter der Investiturkonflikte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/21445.html


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Roland Zingg: Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070-1170

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Roland Zingg hat seine Untersuchung als vergleichende Studie der Briefsammlungen der vier berühmtesten Erzbischöfe von Canterbury im 12. Jahrhundert angelegt: Lanfranc (1070-1089), Anselm (1093-1109), Theobald (1138-1161) und Thomas Becket (1162-1170). Zwischen Anselm und Theobald amtierten zwei Erzbischöfe, von denen keine Briefsammlungen erhalten blieben. In einem ersten einleitenden Teil (23-106) geht es um eine Einordnung der vier Pontifikate und der Briefsammlungen in dreifacher Hinsicht: Erstens in die allgemeine Geschichte des Erzbistums Canterbury in der Zeit vor dem Amtsantritt Lanfrancs, also in angelsächsischer Zeit, zweitens in die schriftliche Kommunikation im Mittelalter unter besonderer Berücksichtigung von Briefen und drittens in den Quellentyp Briefsammlung und dessen Geschichte von der Spätantike bis zum 12. Jahrhundert.

Der thematische Hauptteil (109-291) beginnt mit Kurzbiographien der vier genannten Erzbischöfe. Spätestens dieses Kapitel macht deutlich, auf welche schwierige Aufgabe sich Zingg mit dem Vergleich der Briefsammlungen eingelassen hat, weil sich die Briefe und entsprechend die Briefsammlungen nicht nur durch den Umfang und die zeitlichen Umstände ihrer Entstehung unterscheiden, sondern auch durch die unterschiedlichen Prägungen der Amtsinhaber in Herkunft, Ausbildung und Naturell, vor allem aber durch die Unterschiede in der Dramatik der Zeitläufe, die sie durchlebten. Während Lanfranc noch in großem Einvernehmen mit Wilhelm dem Eroberer sein Amt versehen konnte, wurden die Handlungsspielräume seiner Nachfolger durch den Investiturstreit bestimmt, der das ganze lateinische Europa erfasst und in bis dahin unbekannter Weise Konfliktstoff für das Verhältnis von regnum und sacerdotium gebracht hat. Alle drei Nachfolger Lanfrancs sahen sich gezwungen, wegen harter Konflikte mit ihren Königen ins Exil auszuweichen, wobei sie die Zeit auf dem Kontinent unterschiedlich nutzten: Während Anselm sie als - vermutlich willkommene - Gelegenheit ansah, um ungestört von den ihm lästigen Amtspflichten grundsätzliche Fragen des Glaubens zu bedenken und seinen Traktat "Cur Deus homo" zu vollenden, versuchte Thomas Becket, durch eine Flut von Briefen aus der Ferne seine Suprematsrechte immer wieder nachdrücklich zur Geltung zu bringen. Theobald wählte zwei Mal für jeweils kurze Zeit wegen seines Streits mit dem König das Exil, aber darüber ist relativ wenig bekannt.

Roland Zingg klammert in seiner Untersuchung alle Einflüsse auf die Briefproduktion aus, die sich aus diesen Zusammenhängen ergeben. Es geht ihm nicht um Inhalte, nicht um Handlungen und Handlungsabläufe und deren Niederschlag in den Briefen einer Briefsammlung, sondern um Briefsammlungen als Quellentypus, deren Vergleichbarkeit für ihn darin besteht, dass alle vier Erzbischöfe das gleiche Amt innehatten (18). Sein Forschungsinteresse ergibt sich aus der Beobachtung, dass "sowohl die Einzigartigkeit des Quellencorpus wie auch die vergleichsweise wenig erforschte Gattung nach einer Untersuchung geradezu verlangen" (17). Dazu formuliert er mehrere Fragen wie zum Beispiel die nach der Art des Empfängerkreises und nach der Korrelation von Empfängerkreis und der Art des jeweils verwandten Argumentariums.

Es ist Zingg zuzustimmen, wenn er Briefsammlungen als "Ergebnis gewollter Tradition" bezeichnet (70). Allerdings waren das auch die meisten Einzelbriefe, denn sie waren eher selten reine Mitteilungsbriefe, die für den schnellen Gebrauch und Verbrauch bestimmt waren, schon der teure Beschreibstoff Pergament verhinderte das. Gerade ausführliche und oft mit großer Sorgfalt erstellte Briefe waren von vornherein zur weiteren Verbreitung bestimmt, so dass die klare Unterscheidung von Briefen und Briefsammlungen in dieser Hinsicht verschwimmt.

Zingg geht es in seiner Arbeit primär um Klassifizieren, Kategorisieren, Zuordnen und Quantifizieren. So ist das erste der beiden zentralen thematischen Kapitel der Aufgabe gewidmet, die Empfänger der Briefe nach ihrem Status in den geistlichen und weltlichen Hierarchien in Empfängergruppen zusammenzufassen Er unterscheidet bei den geistlichen Würdenträgern die Gruppe der Päpste mit ihrem Umfeld von der der Geistlichen innerhalb der Jurisdiktion von Canterbury und solchen außerhalb dieses Jurisdiktionsbereichs. Die Laien teilt er in ähnlicher Weise in Gruppen ein, wenn er zwischen dem englischen König als Empfänger erzbischöflicher Briefe, dessen Vasallen und den nicht vasallitisch gebundenen Fürsten unterscheidet. Sodann ordnet er jeder der Gruppen das von ihm ermittelte Quantum an Briefen zu und gewinnt dadurch die Basis für die Feststellung, dass von den vier Erzbischöfen Lanfranc die relativ meisten Briefe seines Briefcorpus an Kleriker seines Jurisdiktionsbereichs gerichtet hat (41%), während es bei Anselm 37,5%, Theobald 30,6% und Thomas Becket 21,9% waren, ein Ergebnis, dass er in einem Piktogramm veranschaulicht (179). In der knappen "vergleichenden Beurteilung" fasst Zingg noch einmal die Ergebnisse des Kapitels zusammen und äußert einige Vermutungen zu den Gründen für die quantitativen Unterschiede. Alle Abschnitte dieses ersten Hauptteils sind nach diesem Schema aufgebaut.

Solche Klassifizierungen können durchaus sinnvoll sein, und man glaubt Zingg gern, dass er sie nach reiflicher Überlegung getroffen hat (152-154). Sie können Hinweise auf Umfang, Art und Intensität des Aktionsradius der einzelnen Erzbischöfe im Vergleich geben, auch wenn sie thematische Zusammenhänge zerschneiden. Problematisch erscheint mir allerdings, dass Zingg aus den dergestalt errechneten Ergebnissen Prozentzahlen ableitet und sie in Schaubilder umsetzt. Das suggeriert eine quantifizierbare Genauigkeit, die einfach nicht gegeben ist, denn keine der Briefsammlungen ist vollständig in dem Sinne, dass sie alle im Namen des Absenders verschickten Briefe erfasst hätte. Als Näherungswerte können die Ergebnisse natürlich von Nutzen sein.

Der zweite thematische Hauptteil ist den "Argumenten und Argumentationsstrategien im Wandel der Zeit" gewidmet (109-291). Gemeint ist das legitimierende Zitieren von Texten der christlichen Tradition in einem Argumentationsgang. Zingg teilt die Texte in fünf Kategorien ein: die erste Gruppe bilden Bibelzitate, die zweite patristische Argumente, die dritte kanonistische Argumente, die vierte Argumente ohne Bezug zu Bibel, Kirchenrecht und Patristik und die fünfte antike Autoritäten. Auch in diesem zweiten Teil identifiziert Zingg die als Absender genannten Erzbischöfe mit den Verfassern der Briefe. Wenn es aber um Zitate und damit um die Textgestaltung der Briefe geht, stimmt das nur mit Einschränkungen, denn die Erzbischöfe haben die Briefe weder selbst diktiert noch gar selbst geschrieben, sondern sie haben diese Arbeit, wie es üblich war, ihren Sekretären überlassen. Zingg ist sich dessen auch bewusst, denn er nennt Johannes von Salisbury als Verfasser der Briefe Theobalds und auch Beckets in dessen Anfangsjahren.

Theobald galt nach den Maßstäben seiner Zeit als gebildet. Johannes von Salisbury mochte ihm an Intellektualität überlegen sein, aber sie gehörten doch beide der gleichen Schicht der gebildeten Kleriker an, die im 12. Jahrhundert in Kirchendienst und Administration unentbehrlich geworden waren. Man wird deshalb annehmen können, dass auch der Zitationsstil beider vergleichbar war und deshalb die Auswahl der Zitate auch Theobald zuschreiben können.

Bei Thomas Becket war das anders. Ihm war eine Ausbildung zuteil geworden, die eher rudimentär als umfassend war. Auch für ihn hat zunächst Johannes von Salisbury die Korrespondenz erledigt, aber im Exil übernahm bald Herbert von Bosham diese Aufgabe. Herbert (den Zingg nicht erwähnt) war Magister und ein gefeierter Theologe, der sogar (was selten war) Hebräisch konnte und sich als Alttestamentler Ruhm erworben hatte. In Kenntnis und Verständnis theologischer Werke war er Becket weit überlegen.

Zingg stellt in den Becket-Briefen völlig zu Recht das "Übergewicht des Alten Testaments gegenüber dem Neuen" fest und nennt dies das "bedeutendste Charakteristikum Beckets" (237) und eine "persönliche Vorliebe Beckets" (238). Angesichts der personalen Konstellation im Hause Beckets ist diese Zuschreibung nicht plausibel. Herbert hat in seiner Becket-Vita festgehalten, dass Inhalt und Formulierungen der wichtigen Becket-Briefe im Kreis der Exilanten vorab diskutiert wurden. Zwar wird sich der genaue Anteil Einzelner am Zustandekommen der Briefe heute nicht mehr klären lassen. Für die Häufung von Zitaten aus dem Alten Testament dürfte das allerdings noch am ehesten möglich sein, denn dafür gab es mit Herbert von Bosham einen ausgewiesenen Spezialisten im Becket-Kreis. Das konkrete Ausformulieren, der Stil und die Wahl der Zitate dürfte in der Zuständigkeit des gelehrten Sekretärs gelegen haben, denn das war seine Aufgabe und da war er auch in seinem Element.

Als Einzelepisode ist Herberts Rolle natürlich letztlich unerheblich. Sie lässt sich aber über den Einzelfall hinaus als Beispiel dafür lesen, dass das formale Kategorisieren für das Verständnis von Argumentationsstrategien nicht ausreicht, sondern dass der Gesamtkontext in die Überlegungen einbezogen werden muss. Dazu gehören immer und zuallererst die Menschen in der Umgebung desjenigen, der als Absender eines Briefes erscheint. Sie sind Teil seiner räumlichen und kulturellen Gesamtsituation, in der die Briefe und schließlich auch die Briefsammlungen entstanden.

Roland Zingg hat insgesamt sorgfältig und überlegt gearbeitet, in seiner Doktorarbeit neue, formal-vergleichende Herangehensweisen am Beispiel der Briefcorpora erprobt und seinen Ansatz konsequent verfolgt. Damit hat er in seiner Erstlingsarbeit Mut und Umsicht gezeigt.

Hanna Vollrath