Rezension über:

Michael Meyen: "Wir haben freier gelebt". Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen (= Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript 2013, 232 S., 40 Abb., ISBN 978-3-8376-2370-3, EUR 28,80
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Rezension von:
Thomas Ahbe
Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Ahbe: Rezension von: Michael Meyen: "Wir haben freier gelebt". Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, Bielefeld: transcript 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 12 [15.12.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/12/23529.html


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Michael Meyen: "Wir haben freier gelebt"

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Wer nachvollziehen möchte, wie seit 1990 die DDR und die Vergangenheit der Ostdeutschen medial konstruiert wurden, sich dabei aber nicht mit einer Diskursanalyse begnügen, sondern auch etwas über die Auswirkungen der Medienbotschaften erfahren möchte, findet in Michael Meyens Buch eine Fülle von Fakten, Befunden und Deutungen.

Das Buch lässt sich zwei Forschungskontexten zurechnen. Zum einen ordnet es sich in jene Sondierungen ein, die in den 1990er und frühen 2000er Jahren noch mit dem Terminus "Ostalgie" verbunden waren und davon ausgingen, dass in ostdeutschen Erzählgemeinschaften Narrative kursieren, die denen des Politik- und Medien-Diskurses nicht entsprachen. 2009 stellte dann der Historiker Martin Sabrow eine Typologie von "drei Erinnerungslandschaften" bezüglich der DDR vor: Ein "staatlich privilegiertes Diktaturgedächtnis", ein "Arrangementgedächtnis" und ein sogenanntes "Fortschrittsgedächtnis". Was bis dahin noch offen blieb, nämlich ob es sich hier um gesamtdeutsch existierende Erinnerungslandschaften oder um Formationen im kommunikativen Gedächtnis der Ostdeutschen handelt, klärt Meyen, indem er die Typologie übernimmt und sowohl auf die im Medien-Diskurs wie auch auf die in Gruppengesprächen mit ostdeutschen und westdeutschen Probanden erfassten Narrative anwendet.

Der andere Forschungskontext sind Analysen zur diskursiven Konstruktion der DDR und ihrer ehemaligen Bürger. Hierzu gibt es zwar einige Aufsatzsammlungen, welche sich dem Thema explizit oder implizit widmen, aber noch keine Monografie. Kritische Studien zur medialen Konstruktion der DDR gelten nicht als relevante Forschungsdesiderata, so dass dieses Thema eher punktuell bearbeitet wird. Es ist also ein glücklicher Umstand, dass Meyen für ein ganzes Semester ein Projektseminar im Masterstudiengang nutzen konnte, um zu seinen Befunden zu kommen.

Aus den Presse-Diskursen der Jahre 1990 bis 2012 selektierte er 160, teils sehr ausführliche Artikel als repräsentative Auswahl. Als eines der Ergebnisse beschreibt der Autor die allmähliche Herausbildung einer "diskursiven Praxis DDR". So sei es auch bei unpolitischen Beiträgen zur DDR "kaum mehr möglich, ohne einen Verweis auf Staatssicherheit und Mauer" auszukommen. Auch die Warnung vor dem Vergessen der Diktatur und vor der Relativierung von Ostalgie gehöre zur "diskursiven Praxis DDR". Unterhalb dieser allgemeinen Ebene fänden sich Differenzierungen: "Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel sucht auch beim Thema DDR Exklusivnachrichten und liefert so Geschichten, die dem allgemeinen Medientenor widersprechen. Die Wochenzeitung Die Zeit gibt nebeneinander (gleichberechtigt) unterschiedlichen Ansichten Raum und thematisiert dabei den biografischen Hintergrund der Autoren. Während die Süddeutsche Zeitung verschiedene Stimmen zu Wort kommen lässt und den Diskurs oft ironisch aus einer Vogelperspektive beobachtet, rechnet die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihren (extrem negativen) Kommentaren und politischen Artikeln gleichzeitig mit der westdeutschen Linken ab und platziert abweichende Ansichten zur DDR im Feuilleton oder im Sportteil." Eine von Meyens Hypothesen war, dass die Leipziger Volkszeitung und die Berliner Zeitung aufgrund ihrer Verankerung im Osten möglicherweise ein "besonderes diskursprägendes Potenzial" zeigen könnten, was sich nicht bestätigte. "Beide Blätter haben nur einen zweiten Aufguss des DDR-Diskurses aus den Leitmedien geliefert - weniger differenziert und schlechter geschrieben." In seiner Analyse informiert Meyen stets über die professionelle Biografie der von ihm zitierten Autorinnen und Autoren und zeigt, dass jene mit ostdeutschem Hintergrund nicht immer ein abweichendes oder zumindest differenzierteres Bild von der DDR und Ostdeutschland entwerfen. In der Tendenz ist es umgekehrt.

Nachdem Meyen in der ersten Studie, also bei der Analyse der Medien-Diskurse, der diskursiven Praxis DDR auf der Spur war, beschreibt er in der zweiten die kommunikative Praxis der Bevölkerung bei der Thematisierung der DDR. Meyens Instrument sind 27 leitfadengestützte Gruppendiskussionen. Auf dem Wege theoretischer Sättigung hat das Team zu einem Sample von 122 Interviewpersonen gefunden, die im angestammten Landesteil in Ost und West verblieben oder in den anderen gewechselt waren. Meyen identifiziert zwei Praktiken "West" und eine "Ost". Die Ostdeutschen - selbst die Flüchtlinge und zum Teil auch die Opfer - lehnten die Narrative des "Diktatur-Diskurses" ab. Sie verweisen auf Positiva der DDR und vergleichen die Plagen der heutigen Gesellschaft mit denen des DDR-Lebens. Die eine Kommunikationspraxis West sei die Verstehende: Die Probanden sprechen über Positiva der DDR, wüssten auch um die unterschiedlichen Vorstellungen zur DDR. Die andere Kommunikationspraxis West sei eine abwertende. Die DDR erscheint als ärmlich und grau, ihre Einwohner als Deformierte beziehungsweise als Gefangene. Diese Sichtweise fände sich vor allem bei Personen, deren Status, formale Bildung und persönliche Erfahrungen mit der DDR und Ostdeutschen gering seien und die durch ihre Statements eigenes symbolisches Kapital und ihr Selbstwertgefühl erhöhten. So äußert ein 16-jähriger Schüler: "Die Leute wurden eingepfercht. In so ein großräumiges KZ. Jeder musste immer genau angeben, was er tut", und ein Techniker-Azubi von Anfang 20 meinte: "Es war echt schon so, dass man seinem besten Freund nicht trauen konnte." Eine 20-jährige wusste: "Bestimmte Worte durften in den Medien nicht erwähnt werden. Schokolade zum Beispiel. Es gab einfach keine Schokolade." Ein 25-jähriger Security-Mitarbeiter sagt: "Die Gestapo steckt immer noch ganz tief drinnen". Sicherlich illustrieren solche Äußerungen den starken Einfluss des kulturellen auf das kommunikative Gedächtnis, wie Meyen resümiert. Doch diese Deutung scheint nicht auf alle Narrative zuzutreffen. Dass Westdeutsche als Erstes von den Schikanen an der Grenze erzählen, dürfte viel mehr den dort erlebten schikanösen Einreiseprozeduren zuzuschreiben sein, als der späteren diskursiven Verstärkung und Stereotypisierung dieser Erfahrung. Und die für Westdeutsche befremdlichen Eindrücke von den neuen Bundesbürgern - "immer beschweren, immer fordern" - sind mit der Anwendung der Kulturschock-Theorie durch Wolf Wagner sehr plausibel als ein zwangsläufiges und wechselseitiges west-ostdeutsches Missverständnis gedeutet worden.

Meyen zeigt, dass Diskurse auch in kleinsten Kommunikationsräumen, wie den Gruppengesprächen, "den Spielraum des Sagbaren formen und einschränken." Denn obwohl keineswegs bei jedem der Probanden die persönlichen Erfahrungen den Diktaturgedächtnis-Diskurs spiegeln, würden Verweise auf die Pluspunkte der DDR "in aller Regel [...] mit einem Hinweis auf den Diktaturcharakter der DDR garniert und mit der Versicherung, auf keinen Fall zu den Ostalgikern zu gehören." Meyen erklärt das anhand der Theorie der Schweigespirale: Alle Beteiligten, Ostdeutsche, Westdeutsche, Gebliebene und Migranten, Ignoranten und Reflektierte kennen den Diktatur-Diskurs sehr genau. Sie schließen von ihm aus auf die Einstellungen der Mehrheit und vermeiden es, sich durch gegenläufige Aussagen zu isolieren. So würden die Deutschen es entweder unterlassen, über die DDR zu sprechen oder es im Vokabular des Diktaturgedächtnisses tun. Insofern sei das gesamtdeutsche kommunikative Gedächtnis gestört.

Leider geht in der unplausiblen Systematik des Buches vieles unter. So verstreut der Autor im Text 11 ausführliche Thesen. Sie sind im Inhaltsverzeichnis nicht ausgewiesen, damit nicht im Zusammenhang zu lesen und zu diskutieren. Das Buch ist mit zahlreichen zumeist kontextlos eingestellten Fotos illustriert. Sie stammen fast alle aus dem Bilder-Kanon der DDR-Selbstdarstellung. Zusammen mit dem Buchtitel könnten sie beim ersten Durchblättern des Buches den irrigen Eindruck entstehen lassen, dass man es hier mit einem Beitrag zum Diskurs der DDR-Nostalgie zu tun habe. Wer sich durch den Text aber dennoch "durcharbeitet", dürfte das nicht bereuen.

Insgesamt vertieft Michael Meyens Langzeit-Diskursanalyse bislang vorliegende Erkenntnisse. Zudem gleicht er seine Ergebnisse mit dem Chor des kommunikativen Gedächtnisse ab. Damit ist seine Doppel-Studie eine ertragreiche Pionierleistung.

Thomas Ahbe