Rezension über:

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2013, 895 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04359-7, EUR 39,99
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Rezension von:
Lothar Machtan
Institut für Geschichte, Universität Bremen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Lothar Machtan: Rezension von: Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 1 [15.01.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/01/23681.html


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Over-sophisticated - Anmerkungen zu Christopher Clarks Bestseller

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Was kann sich ein wissenschaftlich ausgewiesener Historiker Schöneres wünschen, als ein Buch auf den Markt zu bringen, das auf Anhieb Platz 1 der Sachbuch-Bestsellerliste erobert und wochenlang behauptet. Ein Lebenstraum, eine Distinktion und zugleich das verdiente Glück eines sehr Tüchtigen. Dabei hat Christopher Clark nichts anderes vorgelegt als eine voluminöse Monographie über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Eine Einzeldarstellung, die freilich alles bietet, was man in diesem Genre überhaupt nur erwarten darf: neuen Quellen abgerungenes Wissen über forschungsbedürftige historische Wahrnehmungs- und Willensbildungsprozesse; erhellende Aufklärung über schwer durchschaubare Handlungszusammenhänge; profilierte Portraits historischer Akteure und dichte Beschreibungen von dramatischen Entscheidungsabläufen; Reflexionen auf breitem Problemhorizont mit gesamteuropäisch-vergleichenden Perspektiven. Clark schildert in seinem Buch eindringlich, welche europäischen Großmächte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mittels welcher Absprachen politisch wie militärisch zusammenschlossen, und wie dann durch die politische Perzeption des Attentats von Sarajewo gleichsam hinter dem Rücken der verantwortlichen Staatsmänner eine Gesamt(schief)lage entstand, in der sich alle zur Verteidigung ihrer elementaren Interessen gegen vermeintliche Übergriffe ihrer jeweiligen Gegenspieler genötigt fühlten. Und am Ende steht eine griffige Hypothese, ein eingängiges Resultat: "So gesehen waren die Protagonisten von 1914 Schlafwandler - wachsam, aber blind, von Alpträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten." (718) - Chapeau!

Mit seiner literarisch gelungenen Darstellung macht Clark nicht allein der Muse Clio alle Ehre, sondern bescheinigt der modernen Geschichtsschreibung auch exemplarisch ihre - Markttauglichkeit. Wenn man ihre Produkte für ein großes Publikum als eine besondere Attraktion aufzubauen versteht. Denn kein akademischer Historiker schafft es jemals, die hohe Aufmerksamkeit einer vorzugsweise medial geprägten Öffentlichkeit zu erreichen, d.h. eine nach Zigtausenden zählende Käuferschaft für sein Buch zu finden, wenn er sich nicht der emsigen Hilfe eines ganzen Netzwerks von außerwissenschaftlichen Instanzen versichert weiß, die willens und in der Lage sind, ein solches Werk zu promoten. Und noch etwas. Wenn ein von Haus aus wissenschaftliches Buch in den Mainstream wechselt, dann ist das nie reiner Zufall. Der vorderste Rang einer Bestsellerliste für ein solches Werk ist immer auch Seismograph für das, was die Menschen gerade umtreibt in diesem Land, für ihre aktuellen Befürchtungen bzw. Hoffnungen, mit denen sie das (politische) Zeitgeschehen wahrnehmen und empfinden - und dafür dass sie sich von dem in Rede stehenden Werk (historische) Orientierungshilfe versprechen. Es indiziert den ungebrochenen Glauben, aus der Geschichte vielleicht doch am Ende etwas lernen zu können. Insofern ist es womöglich gar nicht der wissenschaftliche Mehrwert der Studie, der hier zu Buche schlägt, sondern es sind ganz andere Faktoren - insonderheit Clarks offenkundig erfolgreiches Bemühen, mit seiner Geschichte der Entfesselung des Ersten Weltkriegs zwar aus der Zeit um 1914 zu berichten, doch damit zugleich über die behandelte Epoche hinaus bis in unsere Gegenwart zu weisen. Indem er die Fremdheit und den historischen Eigensinn des seit nahezu 100 Jahren Vergangenen immer wieder relativiert, ja negiert, kann die mutmaßliche Relevanz des Geschilderten für die Gegenwart umso mehr ins Bewusstsein treten. Namentlich die "Lehren", niemals die weltpolitischen Implikate lokaler Krisenherde zu unterschätzen und am besten überhaupt nie wieder einen Krieg zur Lösung von politischen Problemen zu riskieren.

Clarks Studie besteht aus drei großen Blöcken. Der erste Teil enthält eine minutiöse Schilderung des Konflikts zwischen der Habsburger Monarchie und Serbien seit Beginn des 20. Jahrhunderts - gleichsam als Vorgeschichte des Attentats von Sarajewo. Der Autor legt nämlich großes Gewicht auf die balkanischen Ursprünge des Ersten Weltkriegs, die in der Tat noch nicht lange im Blickpunkt der einschlägigen Forschung stehen. Hätten doch bereits die beiden kriegerischen Ereignisse dort in den Jahren 1912/13 die politischen Phobien der Großmächte gesteigert und ihre militärischen Planungen verstärkt. Clark geht noch einen Schritt weiter, indem er der serbischen Staatsführung unterstellt, sie habe von dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo gewusst, ja seine Vorbereitung und Durchführung sogar indirekt protegiert. Zuvor schon hätten Frankreich und Russland zwischen Wien und Belgrad eine "geopolitische Sollbruchstelle" markiert, um den nächstbesten Balkankonflikt für einen europäischen Krieg nutzen zu können. Serbien war also in seinem präpotent-feindlichen Gebaren gegenüber Österreich-Ungarn nachdrücklich bestärkt und zu Provokationen ermutigt worden; will umgekehrt sagen: die Habsburger Monarchie hätte allen Grund gehabt, sich gegen solche unverschämten Bösewichter wie die Serben und ihren Schurkenstaat zu verwahren, die damals schon vor keinem Mittel zurückschreckten, um ihre panslawistische Ideologie in gewalttätige Politik zu transformieren. Das ist nicht immer quellengestützt, was Clark da in die Ereignisse hineininterpretiert, aber ganz offenkundig ist es ihm ein ganz besonderes argumentatives Anliegen, dieses von ihm so genannte Balkan-Szenario (318) detailliert auszumalen. Als Paradigma nämlich für die folgenschwere Rolle, die lokale Krisen als Auslöser von Konflikten zwischen Großmächten spielen können - möglicherweise bis heute. (16)

Im zweiten Teil seines Buches untersucht der Autor den strukturellen Wandel der europäischen Bündnissysteme hin zu einer Polarisierung des geopolitischen Systems in Europa, in dem er die entscheidende Voraussetzung für den Weltkrieg erblickt. Aber auch eine bis 1914 noch relativ zukunftsoffene Balance zwischen Entspannung und Gefahr: Die Großmächte haben sich belauert und misstraut, aber auch immer wieder Krisen managen können. Außerdem seien die Bündnisse chronisch instabil gewesen, und wandlungsfähig. Um einen Showdown-Effekt auszulösen, bedurfte es eines Sprengsatzes, der woanders gezündet wurde. Und das war der durch Serbien vom Zaun gebrochene "dritte Balkankrieg", den wiederum die franko-russische Allianz mehr oder minder antizipierte.

Besonders spannend ist dann der dritte und letzte Teil über die 37 Tage, die nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 die Welt erschütterten und den großen Krieg tatsächlich entfesselten, mit dem alle irgendwie kalkuliert hatten, aber eben nur kalkuliert. Der Autor rückt die sechs voneinander weitgehend unabhängigen Entscheidungszentren europäischer Großmachtpolitik in der Juli-Krise in den Mittelpunkt. Zugleich zeichnet er die Linien weiter aus, die er bereits im vorangegangenen Teil im Kapitel "Die vielen Stimmen der europäischen Außenpolitik" skizziert hatte. Sehr lebensnah und menschlich- allzu-menschlich sind seine Portraits jener Eliten, die in den Metropolen Europas im Sommer 1914 Politik gemacht haben. Ein Kabinett teils skurriler Protagonisten begegnet uns da, aber auch ein Kabinettstück biographischer Miniaturkunst. Clark kann zeigen, dass sich die Handlungsspielräume der Verantwortlichen keineswegs allein aus den Sachzwängen der Großen Politik ergaben, also aus "ehernen" Gegebenheiten, sondern vielleicht nicht weniger aus dem Charakter, der Weltsicht, den Erfahrungen und den Bindungen der Entscheidungsträger. Und somit natürlich auch aus ihren Befangenheiten, Besorgnissen, Hemmungen, paranoiden Phantasien. Wir lernen außerdem, wie hochkompliziert die Prozesse der Entscheidungsfindung damals abliefen, da neben den überkommenen diplomatischen Instanzen der Bündnispolitik auch noch ein mehr oder weniger geheimes Netzwerk weiterer Akteure in diese Vorgänge eingriff. Und nicht zu vergessen: die bereits massenmedial strukturierte öffentliche Meinung. Im Resultat zeitigt die Clarksche Evaluierung der diversen Außenpolitiken zwei für sein Buch zentrale Erkenntnisse.

Einmal: Tödliche Antagonismen zwischen den Großmächten, die sie zwangsläufig in den Weltkrieg hätten treiben müssen, gab es 1914 nicht; bewusste Irritationen und Provokationen dagegen auf allen Seiten. Die französische, russische und britische Politik war keineswegs unschuldiger, weitsichtiger oder gar klüger als die der Mittelmächte. Letztere kommen bei seiner Examinierung sogar noch am glimpflichsten davon. Österreich-Ungarn spricht Clark ein moralisches Recht auf Vergeltung gegenüber dem politischen Belgrad zu. Und von der deutschen Führung nimmt er an, sie habe tatsächlich nicht gewusst, worauf sie sich bei ihrem legendären "Blankoscheck" für den Verbündeten in Wien einließ. (Seine nachsichtige Beurteilung der beiden Mittelmächte streift freilich schon nahe an Ignoranz gegenüber dem, was die Forschung inzwischen - auch jenseits von Fischers "Griff nach der Weltmacht" - als historisches Wissen über die zweifellos kriegstreibenden Kräfte in der deutschen Reichsleitung sowie über die nicht minder aggressive Kriegsbereitschaft in Wien gesichert hat.) So stürzte man nach Clark schließlich in grober Verkennung des da allseits Heraufbeschworenen gemeinsam in den Abgrund eines Krieges, den keiner wirklich wollte, den aber auch keiner zu verhindern verstand: "eine Tragödie, kein Verbrechen". (716) Clark sagt: Nur wenn man "die überaus dynamischen Entscheidungspositionen" (19) minutiös rekonstruiert, die von den Hauptakteuren in der Juli-Krise und unmittelbar davor eingenommen wurden, ihr Selbstverständnis, ihr Imponiergehabe aus Schwäche - nur dann ließe sich dieser fatale Irrweg der Fehlkalkulationen verstehen, der im Sommer 1914 beschritten wurde. Es ging um Prestige, öffentliche Meinung sowie das Empfinden einer akuten Bedrohung durch die jeweils gegnerische Allianz. Und das alles unter dem Hochdruck von klimatisch-mentalen Bedingungen eines Kommunizierens von Politik, die immer eigendynamischer wurden. Deshalb auch Clarks Konzentration "auf die rasch aufeinanderfolgenden Interaktionen schwer bewaffneter, autonomer Machtzentren, die sich unterschiedlichen und rasch wechselnden Bedrohungen stellen mussten und unter hohem Risiko und geringem Vertrauen und Transparenz operierten". (710) Der kumulative Effekt, die Kette der sich überschlagenden Ereignisse erscheint als der springende Punkt überhaupt. - Das ist das eine.

Die andere zentrale Einsicht, die das Buch vermitteln will, besteht darin, dass Clark jenen beklemmenden Vorgängen von vor 100 Jahren eine geradezu frappierende Aktualität zuschreibt, indem er behauptet, die Männer von 1914 seien in gewisser Weise unsere Zeitgenossen. (709) Sie hätten mit ähnlichen Problemen gerungen, wie es sie heute gäbe. Genauer: mit einer "multipolaren und wahrhaft interaktiven" Krise, die "die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur" war. Aber sie sei auch das "komplexeste Ereignis der Moderne". (717) Womit sie zum politischen Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts avanciert, einem worst case scenario, das bis heute die bange Frage aufwirft, ob sich so etwas wiederholen könnte. Denn irgendwie bleibe dieser Kriegsausbruch immer noch ein Mysterium, weil es selten in der Geschichte eine solche Diskrepanz zwischen Intention und Konsequenz im politischen Handeln eines Mächtekonzerts gegeben habe. Man solle sich jedes Kopfschütteln über die Staatsmänner von einst sparen, warnt Clark. Denn deren damaliges Unvermögen zu konsensfähigem Handeln unterscheide sich nicht grundsätzlich von dem, was wir heute auf der europapolitischen Bühne erleben würden. Überhaupt nimmt sich das ganze Ensemble der europäischen Staaten, die 1914 den Weltkrieg verursachten, für ihn ausgesprochen modern aus; selbst die autokratisch strukturierten Monarchien, die damals freilich schon vor einer inneren Transformation in Richtung Demokratie gestanden hätten, erscheinen ihm als zukunftsfähige Gebilde. Das altersschwache, von sich befehdenden Nationalismen schon fast zerrissene Österreich-Ungarn wird von ihm gar zu einer Art Vorläufer-Modell für unsere transnationale Europäische Union aufgewertet. (114ff.) Das heißt, auch eine fortschrittliche Entwicklung der europäischen Geschichte jenseits eines großen Krieges ist für ihn vorstellbar mit politischen Wandlungen, die den radikalen Umbruch von 1918/19 mit all seinen fatalen Folgekosten womöglich überflüssig gemacht hätten. Das mag der spezifische Standpunkt eines politisch engagierten Zeitgenossen sein, aber eine wissenschaftliche Erkenntnis ist das nicht. Schließlich kann man auch genau andersherum argumentieren und behaupten, erst durch die Urkatastrophe konnte Europa, so wie wir es heute kennen, im 20. Jahrhundert ankommen. Und dass diejenigen, die damals den morschen Legitimismus der Habsburger Monarchie stützten, eben nicht modern waren, sondern tief im Denken des 19. Jahrhunderts befangen.

Aber dennoch, Clark ist mit seinem Werk ein großer Wurf gelungen. Dass er die Perspektive auf Europas Weg in den großen Krieg erweitert, dass er die müßige Frage nach dem Hauptschuldigen nicht einmal mehr aufwirft, geschweige denn durchdekliniert, sondern alle Akteure gleichermaßen in die historisch-politische Verantwortung nimmt, das kann man nur begrüßen. So eindringlich wie er hat noch keiner die Interessenborniertheit aller Großmächte in der Juli-Krise heraus präpariert, die sie einen außenpolitischen Kurs des Vabanque steuern ließ - ohne Rücksicht darauf, wie diese Haltung auf der gegnerischen Seite wahrgenommen werden würde. Ohne Rücksicht auch auf die unermesslichen Folgekosten ihres Tuns. Clark erweist sich als eine Art "verdeckter Ermittler" (Alexander Kluge), der überraschende Szenarien der Politik ganz neu erschließt. Jenseits aller deterministischen Engführungen entsteht so das Panorama von bis zuletzt ambivalenten Handlungsvollzügen, die immer schon den spannendsten Stoff politischer Geschichte ausmachen. Daran kann sich künftige Geschichtsschreibung ein inspirierendes Beispiel nehmen. Auch der konsequent durchgehaltene multiperspektivische Ansatz sowie das unverkrampft weltoffene Narrativ - very sophisticated. Kurz: eine neue Meistererzählung, an der im Detail herumzumäkeln mir kleinkariert erscheinen will. Und doch ist es ganz unangebracht, den mit stupendem Wissen und Geist gesegneten Historiker von entschiedener Kritik auszunehmen. Denn in drei Punkten muss ich ihm unbedingt widersprechen.

Folgt man Clark in seiner politisch-moralischen Intention, so verstanden die Entscheidungsträger von damals nicht so recht, wie ihnen eigentlich geschah; was den Akteuren eine Art Arglosigkeit, ja sogar Unschuld unterstellt. Irgendwie werden sie alle zu Getriebenen und damit auch zu Opfern dieser Eskalations-Geschichte. Aber so, wie Clark dann die Akzente setzt und seine Wertungen streut, scheinen einige Großmächte doch etwas weniger unschuldig geworden zu sein als die anderen, namentlich Frankreich und Russland, die durch die "Balkanisierung" ihres aggressiven Bündnisses Serbien überhaupt erst in die Position eines so gefährlichen Agent Provocateur brachten. (381ff. und 452ff.) Ich halte diese Insinuation für gewagt, aber nichtsdestotrotz für diskussionswürdig. Nur: Wer sich so weit aus dem Fenster lehnt, der sollte dann auch den Mut aufbringen, andere Positionierungen von damals ähnlich kritisch zu hinterfragen. Wer oder was hat Christopher Clark jedoch davon abgehalten, seinen analytischen Scharfsinn gleichermaßen auf die deutsche Reichsleitung in der Juli-Krise anzuwenden?

Im Gegensatz zu manch anderem Akteur auf der Bühne der Weltpolitik im Sommer 1914 versieht er weder den Deutschen Kaiser Wilhelm II. noch seinen Kanzler Bethmann Hollweg mit irgendwelchen neuen, bislang womöglich übersehenen Persönlichkeitsmerkmalen. Auch quellenmäßig bietet er nichts Unbekanntes, ja nicht einmal alles bis dato Bekannte. Von den Details der politisch-militärischen Willensbildung in der deutschen Reichsleitung während der Juli-Krise, wie sie zuletzt noch einmal John C. G. Röhl in seiner Kaiser-Biographie so detailliert geschildert hat, will er einfach zu wenig wissen. Diesen weißen Fleck auf seinem sonst so farbenfroh gemalten Panorama-Bild der politischen Welt von 1914 sollte man nicht übersehen. Und zwar, weil er sich bei näherer Betrachtung als ein blinder Fleck entpuppt - als ein Mittel zur Sublimierung fragwürdiger politischer Handlungsmuster, so dass von einer analytisch-kritischen Wahrnehmung hier keine Rede mehr sein kann. Auf das Manko hätte das Lektorat den Autor eigentlich hinweisen müssen. Es sei denn dieser - man kann es letztlich nicht anders sagen - Persilschein für die deutsche Führung wäre als spektakuläre Anti-These zu Fritz Fischers Verdikt von der deutschen Kriegsschuld ganz bewusst in dieses Buch hinein konzipiert worden.

Zu kritisieren ist in diesem Zusammenhang auch der Fortschrittsoptimismus, mit dem Christopher Clark die Epoche des Fin de siècle ansieht. Sicher war die Vorkriegszeit auf vielen Gebieten eine Periode enormer Modernisierungsschübe. Und diese hatten fraglos auch ihre positiven Auswirkungen auf das Leben der Zeitgenossen. Aber sie war beileibe kein goldenes Zeitalter, weder kulturell noch mental - und am wenigsten auf der Ebene der großen Politik, insbesondere bei der Lösung internationaler Konflikte. In (Mittel-)Europa herrschte mutatis mutandis immer noch das System des Wiener Kongresses von 1815, das Bismarck etwa fünfzig Jahre später noch einmal neu erfunden bzw. re-stabilisiert hatte - abermals auf Kosten von Frankreich und Polen. Und abermals auf der Grundlage des monarchischen Prinzips, wenn auch schon mit plebiszitären Einsprengseln, jedoch extrem autokratischen Strukturen, was die konkrete Ausübung von politischer Macht anlangt. Fluchtpunkt blieb die Blockierung von Volkssouveränität. Was zum Konstrukt einer monarchisch durchtränkten Staatssouveränität führte und der Verselbständigung des bürokratisch-militärischen Sektors Vorschub leistete. Allen Bestrebungen zur Konservierung dieser Zustände (von Bismarck bis Bethmann Hollweg) war eine politische Modernisierungsunfähigkeit, eine Demokratieresistenz eingeschrieben, die den Reformdruck kontinuierlich steigen ließ. Das überkommene Ordnungssystem verlor so immer mehr an Stabilität. Die dauerkrisenhafte Innenpolitik des Wilhelminischen Kaiserreichs hatte hierin ihre tiefere Ursache. Alle Zeichen deuteten 1914 in Deutschland auf einen Paradigmenwechsel in der politischen Leitkultur hin, auf Umbau des krank gewordenen Herrschaftssystems - zuungunsten der damals Herrschenden, die dies sehr wohl sorgevoll verinnerlicht hatten. Wer diese heikle Lage der Machthaber nicht mitdenkt, kann auch die Fehlperzeptionen nicht ermessen, die diese Akteure damals wenn nicht lähmten, so doch ganz erheblich behinderten, als es darum ging, Risikopolitiken nüchtern zu überdenken. Ohne ihre fixe Idee zu berücksichtigen, durch einen erfolgreichen Krieg die Überlebensfähigkeit des Bismarckreiches mit seiner vormodernen Herrschaftsstruktur am Ende doch noch sichern zu können, wird man an den Wahrnehmungshorizont der wilhelminischen Eliten in der Juli-Krise schlechterdings nicht herankommen. Auch ein Blick auf das definitive Ende des alten Europa, auf 1918 also, hätte den Schlafwandler-Autor eines Besseren belehren können. Denn spätestens dann, als die konstitutionelle Monarchie in Mitteleuropa buchstäblich implodierte und ihr royales Führungspersonal komplett und nahezu lautlos aus der Geschichte fiel, trat die strukturelle Überlebtheit jener Herrschaft mitsamt ihrer untragbar gewordenen politischen Kultur sinnfällig zutage. Schließlich muss man auch die damaligen Kriegsvorstellungen mit einbeziehen, um die Zeitgenossen in ihrer unglaublichen Naivität zu verstehen. Clark diskutiert das überhaupt nicht, auf welche Art von Krieg die damaligen Entscheider hinzugehen glaubten: eben auf keinen Supergau, sondern einen vielleicht dreimonatigen Waffengang.

Zweitens eine kritische Anmerkung zum Geist des "Präsentismus", der den Duktus dieser historischen Studie durchweht. Gerd Krumeich hat schon vor einem Jahr, als die englische Fassung der Studie auf den Markt kam, Clarks Darstellung von Serbien und dessen Verhältnis zu Österreich-Ungarn als den "Exzess einer missverstandenen Methode" gegeißelt, "die Geschichte von heute her zu schreiben". (SZ vom 30.11.2012) Denn das habe der Autor ungeniert getan, indem er das Wesen des serbischen Nationalismus aus der Gegenwart heraus deute, namentlich von der Grausamkeit und Brutalität serbischer Nationalisten her, wie sie 1995 im Massaker von Srebrenica auf so abscheuliche Weise kulminierten. Das kann man nur unterstreichen: Eine solche gegenwartsbezogene Rückprojektion konterkariert die Aufgabe des Historikers, sich mit seinem Untersuchungsgegenstand so sachlich und so innerlich distanziert wie möglich auseinanderzusetzen und primär aus den Bezügen seiner Zeit heraus zu deuten. Sie ist ahistorisch, und sie ist auch falsch, weil man das serbische Volk nicht a priori in historische Mithaftung für den Terrorismus ihrer Nationalisten nehmen kann. Eine Kollektivschuld der Serben am Ersten Weltkrieg? Ist das etwa die versteckte politische Botschaft des Buches? Es hat manchmal den Anschein. Der von Clark so grell ausgeleuchtete terroristische Untergrund jener Selbstmordattentäter, die das Attentat von Sarajewo planten und exekutierten, kann jedenfalls Assoziationen an den Al-Quaida-Terror der Gegenwart wecken; umso mehr, als schon die mordbereiten serbischen Nationalisten sich des Flankenschutzes staatlicher Einrichtungen sicher sein durften und transnational operierten. Oder um ein anderes Beispiel herauszugreifen: Kann man wie Clark das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien tatsächlich an den vermeintlich sehr viel autoritäreren Nato-Beschlüssen von 1994 messen, um daraus abzuleiten, so unannehmbar sei der Beschluss des Ministerrats am 7. Juli 1914 doch gar nicht gewesen?

Nein. In einer seriösen Politikgeschichte haben solche Analogie-Muster nichts verloren. Aber vielleicht in einem Buch, das eben auf eine massenhafte Leserschaft hin geschrieben wurde, und weniger auf ein historisch gebildetes Publikum. Und damit bin ich wieder am Ausgangspunkt dieser Besprechung, den durchaus gewollten Parallelen zur Gegenwart, mit denen sich dieses Buch selbst vermarktet. Alle an diesem Marketing Beteiligten - Autor, Agent, Verleger - haben natürlich gewusst: In die breite Öffentlichkeit kann eine fast 1000-seitige Monographie über Europas Weg in den Ersten Weltkrieg nur kommen, wenn sie an exponierter Stelle in den Medien sichtbar wird. Sie muss also als etwas Außergewöhnliches ins öffentliche Bewusstsein treten und zugleich an einen (öffentlichen) Nerv rühren, eine mentale Befindlichkeit der Gegenwart ansprechen. Hier wohl in erster Linie das notorisch schlechte Gewissen der Deutschen gegenüber ihrer eigenen Geschichte im 20. Jahrhundert. Das kann Clark mit seiner Botschaft, dass alle Staaten die Weltkriegs-Katastrophe mit "verbrochen" haben, und nicht - wie nach bisheriger Lesart - das Deutsche Kaiserreich unter Wilhelm II. Er kann sogar noch mehr, indem er versichert: die Deutschen waren nicht einmal die abgefeimtesten "Verbrecher" von damals. Das kommt gut an in Zeiten, in denen es um den Ruf der deutschen Politik in Europa so schlecht bestellt scheint wie heute in der Euro-Krise. Erst recht, wenn es aus der Feder eines Nicht-Deutschen kommt; eines Gelehrten zumal, der die Richtigkeit seines Diktums quasi wissenschaftlich beweisen kann. Mit anderen Worten, hier wird der weltläufige Intellektuelle als eine politisch-moralische Instanz rezipiert. Genauer: als vertrauenswürdiger "Lotse des Umschreibens der Geschichte" (Gangolf Hübinger).

Dass und wie so eine publizistische Wirkung entsteht, lässt sich exemplarisch am Leit-Feuilleton dieses Landes, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung studieren. Dort hat der Journalist Andreas Kilb - von Haus aus gar kein Historiker, sondern Film- und Fernsehkritiker (sic!) - Die Schlafwandler gleich bei Erscheinen auf dem deutschen Markt Anfang September zum "Buch des Jahres" ausgerufen. "Weil es auf absolut schlüssige Weise den Mechanismus erklärt, der diesen Krieg, den ersten modernen Massenvernichtungskrieg, ausbrechen ließ." Und diese "Apokalypse" sei auch heute wieder möglich. "Es braucht nicht viel, um sie auszulösen. Vor hundert Jahren war es ein Attentat. Heute könnte es ein Bürgerkrieg in Syrien sein." So werde Clarks Buch "Unruhe stiften, und das ist gut so. Etwas Besseres kann der deutschen Öffentlichkeit gar nicht passieren" als so eine eindringliche Mahnung, die Zünder für die aktuellen Krisen "zu entschärfen, bevor es zu spät ist". (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 36 vom 8. September 2013) Die vermeintlichen Parallelen zur Gegenwart, das von Clark und seinen Resonanzverstärkern geradezu beschworene Empfinden, in einer ähnlichen Welt zu leben wie die Europäer im Jahre 1914, sie sind es, die die Attraktion dieses Buches ausmachen. Und dann natürlich die geschichtspolitische Entlastung, die dieser ausländische Historiker den Deutschen auf so eindrucksvolle Weise anbietet.

Ob das alles der historischen Ursachenforschung dient, ist freilich eine andere Frage. Und ob Clarks Werk über den erinnerungskulturellen Hype von 2013/14 hinaus im Kanon der wissenschaftlichen Literatur über den Ersten Weltkrieg Bestand haben wird, auch das ist noch nicht ausgemacht. Warten wir ab, welche konkurrierenden Werke demnächst in Gegenrede treten; angekündigt ist ja bereits eine ganze Reihe, von denen man sich etwas versprechen darf. Aber auch das gehört zu den Geheimnissen dieses spektakulären Bucherfolgs, dass Clark als allererster dieses Themenfeld prominent besetzt hat und sich dort erst einmal unangefochten als Meinungsführer etablieren konnte - ein cleverer Schachzug mit Blick auf das Weltkriegs-Jubiläum im Jahr 2014. Wer hier zu spät kommt, den bestraft eben erst einmal der weit vorausschauende verkaufsorientierte Literaturbetrieb. Diese Einsicht muss für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung freilich keine Hiobsbotschaft sein. Wissen wir doch jetzt noch besser, was es alles zu bedenken gilt, wenn wir unsere Produkte auf dem heutigen Geschichtsmarkt zum Verkauf anbieten (lassen). Und das müssen wir schon, wenn wir den Ort der Geschichte in der Massenkultur des 21. Jahrhunderts mit definieren wollen.

Lothar Machtan