Rezension über:

Günter Morsch / Bertrand Perz (Hgg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung (= Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; Bd. 29), Berlin: Metropol 2012, 446 S., ISBN 978-3-940938-99-2, EUR 24,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Klaus-Peter Friedrich
Marburg/L.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Klaus-Peter Friedrich: Rezension von: Günter Morsch / Bertrand Perz (Hgg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, Berlin: Metropol 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/02/24650.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Günter Morsch / Bertrand Perz (Hgg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas

Textgröße: A A A

Mit dem vorliegenden Sammelband wird 25 Jahre nach Erscheinen eines einschlägigen Dokumentenbands [1] eine Bestandsaufnahme versucht. Ausgangspunkt war eine Tagung Mitte Mai 2008 in Oranienburg. Sie erhob den Anspruch einer umfassenden Aufarbeitung; dieser wird vor allem in Bezug auf die Einrichtungen im Deutschen Reich eingelöst. Unter den 34 hier veröffentlichten Beiträgen betreffen sieben Ostmitteleuropa.

Die Entwicklung der Gaswagen umreißt Mathias Beer. Nach ersten Experimenten mit Kohlenmonoxid aus Gasflaschen kamen bei der zwischen August und November 1941 fortentwickelten Version Motorenabgase als Tötungsmittel zum Einsatz. Die LKW wurden zwischen Riga und Taganrog an verschiedenen Orten bei Mordaktionen benutzt. Über einen längeren Zeitraum fanden sie im Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) im Warthegau Verwendung. In den Kastenaufbauten sollten jeweils mehrere Dutzend Opfer den "Einschläferungstod" sterben (163), doch eine Inspektion ergab, dass die Insassen in Wirklichkeit qualvoll erstickten.

Patricia Heberer schildert den Übergang von der "Aktion T4" - dem Mord an kranken und gebrechlichen Menschen - zum Judenmord, indem sie die Verwendung des Personals nachzeichnet. So wurden 1941 bei der Vorbereitung der "Aktion Reinhardt" 153 SS-Männer und Polizisten unter dem Kommando des SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik im Distrikt Lublin des Generalgouvernements, 205 weitere Mitarbeiter aus anderen SS-Einheiten sowie 92 von der Kanzlei des Führers entsandte Mitarbeiter der "Aktion T4" abgestellt. Nicht nachvollziehbar ist, warum hier von einem Krematorium in Treblinka die Rede ist, denn die Leichen wurden anfangs in riesigen Gruben verscharrt, später verbrannt. In anderthalb Jahren seien - so Heberer - in den Lagern der "Aktion Reinhardt" 1,7 Millionen Juden durch Giftgas ermordet worden. Eine andere Berechnung legt Dieter Pohl vor, der davon ausgeht, dass zwischen März 1942 und Oktober 1943 die SS während der "Aktion Reinhardt" etwa 1,35 Millionen Menschen ermordete: in Bełżec 434000, in Sobibór 152000 und in Treblinka 780000; möglicherweise seien darin jedoch die aus dem Ausland herantransportierten Juden nicht enthalten (193). [2]

Den Ursprung der "Aktion Reinhardt" sieht Pohl in einem Befehl, den Heinrich Himmler am 13. Oktober 1941 Globocnik mündlich erteilt habe. Einer der frühesten Berichte über Treblinka stammt von Jakub Rabinowicz (nicht: Rubinowicz, 190) aus Parczew, der als Maurer am Bau der Gaskammern beteiligt war, doch Mitte September 1942 aus dem Vernichtungslager fliehen und ins Warschauer Getto zurückkehren konnte; wie die schon vorher Geflohenen Azriel (oder Uziel) Wallach und Dawid Nowodworski sollte er, nachdem er für das Untergrundarchiv des Gettos Zeugnis abgelegt hatte, das Kriegsende nicht erleben. Peter Klein blickt auf die Geschichte des Vernichtungslagers Kulmhof, das von Gauleiter Arthur Greiser initiiert und von dessen Behörden auf vielfache Weise unterstützt wurde.

Anstelle des Tagungsbeitrags von Michael Thad Allen über das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau haben die Herausgeber einen Aufsatz von Robert Jan van Pelt in den Sammelband aufgenommen. Er konzentriert sich auf die Planungs- und Baugeschichte der Gaskammern und Krematorien. Die meisten entstanden erst, nachdem Hermann Göring Anfang Januar 1942 entschieden hatte, in Auschwitz keine sowjetischen Kriegsgefangenen als Arbeitssklaven einzusetzen. Himmler beschloss nun, in dem Lager jüdische Zwangsarbeiter zusammenzuziehen. Diejenigen, die als nicht arbeitsfähig angesehen wurden, sollten ermordet werden - durch das Giftgas Zyklon B. Falsch ist die Feststellung, die Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" und Kulmhof seien alle "Ende 1943" geschlossen worden (213), denn in Bełżec stellte die SS schon ein Jahr früher und in Treblinka und in Sobibór nach Aufständen im August beziehungsweise im Oktober 1943 den Betrieb ein. Mit dem Giftgas-Einsatz im Konzentrationslager Lublin-Majdanek befasst sich Tomasz Kranz. Im Sommer 1942 wurden hier zwei Gaskammern errichtet: In der einen wurde Kohlenmonoxid, in der anderen Zyklon B eingesetzt. Letzteres verwendete die SS - so Marek Józef Orski - auch in der Gaskammer im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, die im Juni 1943 entstand. Dabei starben etwa 1300 Menschen, darunter eine größere Gruppe sowjetischer Kriegsgefangener und polnischer Widerstandsaktivisten sowie 1150 jüdische Frauen und Männer.

Pohl würdigt den Fortschritt bei der Erforschung der Judenverfolgung seit den 1970er Jahren, weist aber auch darauf hin, dass bei weitem noch nicht alle Quellen über den Judenmord in Osteuropa analysiert worden sind. Er macht insbesondere auf umfangreiche Aktenbestände über russische Gerichtsverfahren gegen das aus der Sowjetunion stammende Hilfspersonal der Lager im Generalgouvernement aufmerksam. Aber selbst die Berichte und Meldungen des polnischen Widerstands über die Vorgänge in den nationalsozialistischen Lagern, die der Forschung schon seit Längerem zur Verfügung stehen, sind bislang nicht systematisch ausgewertet worden.

Ein Missverhältnis in der Gewichtung ergibt sich daraus, dass die Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" nicht mit einem jeweils eigenen, ausführlicheren Beitrag vertreten sind, der neueste Forschungsergebnisse zusammenfassen würde, wie sie zuletzt von Robert Kuwałek für Bełżec [3] vorgelegt wurden. Der Band ist dankenswerterweise mit sehr nützlichen Verzeichnissen der Orts- sowie der Personen- und Firmennamen ausgestattet.


Anmerkungen:

[1] Eugen Kogon / Hermann Langbein u.a. (Hgg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas, Frankfurt a.M. 1983.

[2] Pohl stützt sich auf die Angaben des Funkspruchs von Hermann Höfle an den stellvertretenden Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Krakau, Franz Heim, vom 11.01.1943; Faksimile in Peter Witte / Stephen Tyas: A New Document on the Deportation and Murder of Jews during "Einsatz Reinhardt" 1942, in: Holocaust and Genocide Studies 15 (2001), 468-486, hier 469.

[3] Siehe die Überblicksdarstellung von Robert Kuwałek: Obóz zagłady w Bełżec [Das Vernichtungslager in Bełżec], Lublin - Bełżec 2005, und seine gleichnamige Monografie, Lublin 2010, die jetzt auch auf Deutsch vorliegt: Das Vernichtungslager Bełżec, Berlin 2013.

Klaus-Peter Friedrich