Rezension über:

Eric Schlosser: Command and Control, London: Allan Lane 2013, XXIV + 632 S., ISBN 978-1-846-14148-5, GBP 16,99
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Rezension von:
Arvid Schors
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Arvid Schors: Rezension von: Eric Schlosser: Command and Control, London: Allan Lane 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/24441.html


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Eric Schlosser: Command and Control

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Im September 1980 explodierte eine amerikanische Atomrakete - eine Titan II - in ihrem Silo bei Damascus im Bundesstaat Arkansas. Der nukleare Sprengkopf, mit dem die Interkontinentalrakete bestückt war, wurde dabei ins Freie geschleudert, blieb aber letztlich unbeschädigt und konnte geborgen werden. Der Unfall, bei dem ein Soldat getötet und weitere verletzt wurden, ging auf ein Missgeschick der Wartungsmannschaft zurück: Bei Routinearbeiten hatte ein Techniker ein Werkzeugteil fallen lassen. Es riss ein Loch in die Rakete, aus dem in Folge Treibstoff austrat.

In dem Buch "Command and Control" des amerikanischen Journalisten Eric Schlosser, der zuvor mit dem Sachbuch-Besteller "Fast Food Nation" hervorgetreten ist, steht die Geschichte dieses gravierenden Zwischenfalls im Mittelpunkt. In einer beeindruckenden Rechercheleistung hat Schlosser den Damascus-Unfall akribisch und minutiös aus multiplen Perspektiven rekonstruiert - von den verhängnisvollen Wartungsarbeiten über die fieberhaften Versuche des Militärs, das Problem einzudämmen, bis hin zu den Auswirkungen auf die örtliche Bevölkerung und den politischen Reaktionen.

Diese Kerngeschichte erweitert Schlosser um zahlreiche längere Einschübe, die sich mit allgemeinen Wegmarken der Geschichte des amerikanischen Atomwaffenarsenals beschäftigen. Sie reichen thematisch etwa von der Entwicklung der Atomwaffe im Rahmen des Manhattan Projects über die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki bis hin zur Kuba-Krise oder der Fortentwicklung der amerikanischen Nuklearstrategie während des Kalten Krieges. Ein besonderes Augenmerk legt Schlosser jedoch vor allem darauf, Unfälle und Unglücke, die sich mit Atomwaffen ereigneten, umfassend und detailliert zu beschreiben. Der argumentative Fluchtpunkt, der letztlich hinter all diesen Verästelungen von "Command and Control" steht, ist ebenso simpel wie kraftvoll - und er hat eine politische Stoßrichtung: Die bestehenden atomaren Waffenarsenale, die nur selten ins öffentliche Blickfeld rückten, sind laut Schlosser "a collective death wish, barely suppressed." Bei jeder Atomrakete handele es sich um einen "accident waiting to happen, a potential act of mass murder." (485) [1]

Damit reiht sich Schlossers Buch einerseits in die Untersuchungen zu Atomwaffen-Unfällen ein. Den Maßstab auf diesem Feld bildet weiterhin die grundlegende Studie des Politikwissenschaftlers Scott Sagan zu den "Limits of Safety". Sie hat bereits nachdrücklich und empirisch fundiert darauf aufmerksam gemacht, wie fehlbar die Sicherheitsmechanismen des amerikanischen Atomwaffenarsenals sein können. [2] Andererseits schließt es thematisch, ohne dass dies explizit benannt wird, an die wichtige Perspektiverweiterung der Forschung zum Kalten Krieg an, die auf einer Mikroebene die Erfahrungen von einfachen Soldaten während der atomaren Konfrontation einbezieht. Diese ist erst in jüngerer Zeit durch den Journalisten Michael Dobbs entscheidend vorangebracht worden. Dobbs Monographie "One Minute to Midnight", die mittlerweile zu einem neuen Standardwerk der Geschichte der Kuba-Krise avanciert ist, hat zu Recht auch unter Fachhistorikern Anerkennung gefunden. Dobbs beleuchtet darin unter anderem intensiv die eigendynamischen Gefahren, die während der Krise von den Atomwaffen beider Supermächte ausgingen. [3]

Schlossers Werk hingegen hinterlässt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck. Seine Stärke liegt nicht in der historischen Analyse. Abgesehen von einer dünnen Vorbemerkung bieten sich dem Leser kaum systematische Anhaltspunkte, worin das tiefere Erkenntnisinteresse des Buches liegt. Schlosser hält dort im Wesentlichen fest, dass es sich mit den "operating systems and the mind-set that have guided the management of America's nuclear arsenal" beschäftige. Zudem soll das Grundsatzthema der "mixture of human fallibility and technological complexity that can lead to disaster" (xiii) ergründet werden.

Auch darstellerisch sowie aus einer quellenkritischen Perspektive ist Schlossers Werk nicht unproblematisch, was bei der Lektüre früh deutlich wird: So stützt sich "Command and Control" für die Rekonstruktion des Damascus-Vorfalls neben Archivquellen vor allem auf unzählige Interviews, die der Autor insbesondere mit den beteiligten Militärtechnikern geführt hat. Es ist über weite Strecken in dem Duktus eines Katastrophenthrillers geschrieben, wobei der Leser - bis hin zu direkten Zitaten - unmittelbar an der Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonisten teilhaben kann. Nichtsdestoweniger eröffnet Schlosser damit zugleich einen faszinierenden und detailgesättigten Zugang zu der Alltagsgeschichte der Wartung und Aufrechterhaltung des atomaren Rüstungsarsenals, die bislang weitgehend verborgen geblieben ist. Sie ist tatsächlich, wie der Autor überzeugend darlegen kann, ein ebenso wichtiger Bestandteil der Geschichte der Atomwaffen wie etwa politische Entscheidungen auf höchster Ebene.

Die wenig systematische Struktur des Buches überzeugt allerdings nur bedingt. So wirken die ständigen (Zeit-)Sprünge zwischen der Kerngeschichte des Damascus-Unfalls und den Einschüben zur allgemeinen Geschichte der Atomwaffe insgesamt ermüdend. Sie stehen zudem nur indirekt mit dem Vorfall in Damascus in Verbindung. Die poetischen Kapitelüberschriften, die beispielsweise "Megadeath" oder "Like Hell" lauten, und damit den Stilformen der Belletristik folgen, erschweren die Übersicht weiter. Hinzu kommt, dass diese allgemeinen Einschübe, die primär auf Sekundärliteratur basieren, auch inhaltlich teilweise oberflächlich erscheinen. Weder sind sie bei ihrem Parforceritt durch den Kalten Krieg und die amerikanischen Administrationen hinreichend konzise, noch können sie dem jeweiligen historischen Kontext immer gerecht werden. In vielen Fällen wird nur bedingt deutlich, welchem Argument sie, neben der eklektischen Deskription, nun eigentlich dienen. So tauchen beispielsweise viele historische Persönlichkeiten weniger als Akteure, sondern eher als stereotype Staffage auf: so wird etwa Präsident Nixon in seinen letzten Amtswochen als "clinically depressed, emotionally unstable, and drinking heavily" beschrieben, doch mit der Verfügungsgewalt über Atomwaffen. (360)

Diesen gewichtigen Monita stehen jedoch etliche Verdienste von "Command and Control" gegenüber: Zum einen bietet das Buch einen einzigartigen Fundus an Detailinformationen, insbesondere zu Unfällen mit amerikanischen Atomwaffen. Zum anderen handelt es sich um eine verdienstvolle und fundierte Mikrostudie über den Alltag ihrer technischen Wartung. Ohne diese Perspektive einzubeziehen lässt sich die Bedeutung dieser Arsenale, die gemäß der Idee der Abschreckung ja dauerhaft abschussbereit gehalten werden müssen, um gerade nicht eingesetzt zu werden, kaum gänzlich begreifen. Schlossers Werk ist letztlich, und hierin liegt seine eigentliche Bedeutung, eine wichtige Mahnung und Erinnerung: Unabhängig davon, ob Atomwaffen gerade im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen oder nicht - die inhärenten Gefahren, die mit ihnen einhergehen, waren - und sind - real.


Anmerkungen:

[1] Die Zitate beziehen sich auf die englische Originalausgabe. Vgl. zur deutschen Übersetzung, die, allerdings ohne die detaillierten Anmerkungen der englischsprachen Version, bei C.H. Beck erschienen ist, Eric Schlosser: Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit. Eine wahre Geschichte, München 2013.

[2] Vgl. Scott D. Sagan: The Limits of Safety. Organizations, Accidents, and Nuclear Weapons, Princeton 1993.

[3] Vgl. Michael Dobbs: One Minute to Midnight, London 2009. Vgl. zur Rezeption etwa die Besprechung von James G. Hershberg: Tick Tock Toward Armageddon, in: Washington Post, 22. Juni 2008, http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2008/06/19/AR2008061902972.html (07.03.2014).

Arvid Schors