Rezension über:

Frank Uekötter (Hg.): Ökologische Erinnerungsorte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 334 S., 10 Abb., 2 Tabellen, ISBN 978-3-525-30051-0, EUR 23,99
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Rezension von:
Martin Diebel
Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Martin Diebel: Rezension von: Frank Uekötter (Hg.): Ökologische Erinnerungsorte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/24717.html


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Frank Uekötter (Hg.): Ökologische Erinnerungsorte

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"Seveso ist überall" - so nannten Fritz Vahrenholt und Egmont Koch, beides Chemiker, ihr Buch über die Chemiekatastrophe in der oberitalienischen Stadt. Seveso ging ein in die Erinnerungskultur der deutschen Umweltbewegung als Menetekel für die Gefahren der chemischen Großindustrie. Die Frage aber ist: War die Erinnerung an Seveso tatsächlich überall? Inwieweit wurden Katastrophen wie die von Seveso, der Untergang der Exxon Valdez oder Tschernobyl zu Erinnerungsorten?

Diesen Fragen widmet sich das von Frank Uekötter geleitete und am Rachel Carson Center in München angeschlossene Projekt "Umwelt und Erinnerung". Das hier vorgestellte Buch stellt einen Zwischenbericht über dieses überaus spannende Vorhaben dar. Einer kurzen Einführung in Inhalt, Konzept und Methode ökologischer Erinnerungsorte durch Frank Uekötter folgen elf - allesamt gut lesbare - Aufsätze zu verschiedenen Erinnerungsorten.

An der Theorie Pierre Nora's über die lieux de mémoire [1] angelehnt und dem Projekt zu deutschen Erinnerungsorten von Etienne François und Hagen Schulze folgend [2], stellen sich die Autoren und Autorinnen der Herausforderung, bestimmte Orte - verstanden als Diskurse, Personen, Werke oder geografisch fassbare Räume - auf ihre erinnerungskulturelle Bedeutung für heutige Umweltdebatten zu befragen. Wie und warum werden bestimmte ökologisch relevante Ereignisse zu Erinnerungen und wie veränderte sich deren Interpretation im Laufe der Zeit?

Das in drei große Teilabschnitte (Deutsche, Grenzüberschreitende sowie Globale Erinnerungsorte) gegliederte Buch richtet sich dabei an eine breite umwelthistorisch interessierte Leserschaft. Der Band zielt zum einen darauf ab, das von Uekötter wiederholt kritisierte - aber nicht unbedingt empirisch nachgewiesene - unreflektierte oder schlicht nicht vorhandene Geschichtsbewusstsein innerhalb der (west)deutschen Umweltbewegung zu hinterfragen. [3] Zum anderen widmet sich das Projekt "ökologischer Erinnerungsort" dem Versuch, einem sich herausbildenden deutschen ökologischen Patriotismus identitätspolitische Substanz zu verleihen und gleichzeitig bis heute vorherrschende ökologische Erzählmuster zu durchbrechen (22).

So richtet sich der Blick Uekötters auf die Erinnerung der deutschen Naturschutzbewegung an das Reichsnaturschutzgesetz (RNG) von 1935. Das Gesetz sei nicht als Ausdruck nationalsozialistischer Indienstnahme einer eigentlich guten Sache zu verstehen. Sondern vielmehr sei es Symbol dafür, wie eben ganz normale Naturschützer mit Bedingungen konfrontiert wurden, die ihrem Anliegen entgegenkamen und hierfür jedwede Hemmungen fallen ließen (96f.). Der erinnerungspolitische Impetus Uekötters ist hier deutlich herauszulesen. Denn das RNG zeichnet sich nicht durch den Eingang ins kollektive Gedächtnis der Umweltbewegung aus, sondern gerade eben durch einen Akt kollektiven Vergessens: der Historiker wirkt an dieser Stelle als Mediator der Erinnerung.

Während der Lektüre der - durchweg spannenden - Beiträge zeigten sich zunehmend die Probleme des Konzeptes "ökologischer Erinnerungsort", die vor allem eng mit den beiden Begriffen Ökologie und Erinnerungsort zusammenhängen. So ruft der Terminus Ökologie durch seine begriffliche Unschärfe eine gewisse Willkür in der Auswahl bestimmter Erinnerungsorte hervor. Während einem die Betrachtung Tschernobyls (Karen Kalmbach) oder des Assuan-Staudamms (Ewald Blocher) als Erinnerungsorte sofort einleuchtet, ist die Einbeziehung des Wintersports (Andrew Denning) oder Sebastian Kneipps (Sarah Waltenberger) nicht unmittelbar nachvollziehbar. Ebenso lädt die Definition der ökologischen Erinnerungsorte, als "geographisch und zeitlich begrenzte Ereignisse, in denen die Interaktion von Mensch und Natur in ihrer ganzen Vielfalt eine wesentliche Rolle spielt" und die bis in die heutige Umweltdebatte nachwirken (21), zu einer thematischen Beliebigkeit ein.

Ein anderes Problem kommt hinzu: Zwar vertritt das Projekt die Ausgangshypothese, wonach die ökologische Erinnerungslandschaft vor allem in den vergangenen zwei Jahrhunderten entstanden sei. Trotzdem liegt der thematische Schwerpunkt auf der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte der 1990er-Jahre. Inwieweit kann sich ein kollektives Gedächtnis entwickeln, wenn die meisten Ereignisse nicht einmal eine Generation zurückliegen?

Diese Frage stellt sich zum anderen umso dringender, wenn die Autoren versuchen, eben dieses kollektive Gedächtnis auszumachen. Es sind dann kulturelle Artefakte wie die enorme Produktpalette der Firma "Kneipp" oder die auf Bernhard Grzimeks Filmtechnik aufbauenden heutigen Tier- und Naturdokumentationen, die als Spiegel eines solchen kulturellen Gedächtnisses herhalten sollen. Doch gerade diese Beispiele zeigen, dass viele erinnerungskulturelle Versatzstücke der Umweltbewegung und Umweltpolitik den Erfahrungshorizont nur der erlebenden Generation widerspiegeln. So stellt Franziska Torma in ihrem Aufsatz zu "Serengeti darf nicht sterben" (133-156) fest, dass die Generation der in den 1980er- und 1990er-Jahren Geborenen keinerlei Bezug hat zum Namen Grzimek und dessen Dokumentationen.

Das Buch spiegelt gleichsam eine Eigenheit der (deutschen) Umweltbewegung wider: die Definition über Horrorszenarien (13). Zwar zeigt die Auswahl der Themen, dass diese Lesart gebrochen werden soll. Aber es fällt auf, dass es gerade Katastrophen, wie der Vulkanausbruch des Krakatau (Sonja Weinbuch, 273-302) oder der Reaktorunfall von Tschernobyl (Karena Kalmbach, 185-218) waren, die durch ihre intensive mediale Breitenwirkung ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind.

Ewald Blochers Beitrag zum Assuan-Staudamm zeigt hieran anschließend, dass die technikkritische und modernisierungsskeptische Umweltbewegung entscheidenden Einfluss auf die deutsche Erinnerung an solche gigantische Projekte haben. Blochers über deutsche Grenzen hinausgehende Einbeziehung lokaler und nationaler Sichtweisen in Ägypten selbst dokumentiert eindrücklich, wie unterschiedlich an jeweilige "Orte" erinnert wurde und wird. Und auch Kalmbach hinterfragt den deutschen Erinnerungskonsens über Tschernobyl, indem sie dieser nationalen Sichtweise die französischen und weißrussischen Erinnerungskulturen gegenüberstellt.

In Stefan Esselborns Ausführungen zum Groundnut Scheme (219-251), das ebenfalls ein Erinnerungsort der (britischen) Kolonialgeschichte sein könnte - und somit eigentlich etwas aus dem Rahmen fällt -, oder Jeanette Prochnows vielmehr wirtschaftshistorischem Beitrag zur Drushba-Trasse (157-184) offenbaren sich wiederum die Grenzen des Erinnerungsortes. Denn hier wird die erinnerungskulturelle Bedeutung dieser Ereignisse mehr konstruiert als dass sie tatsächlich im kollektiven ökologischen Gedächtnis verankert ist. Die (ost)deutsch-russische Erdgaspipeline zum Beispiel war in erster Linie ein energiepolitisches Projekt im Kontext des Kalten Krieges, in dem ökologische Aspekte nur entfernt eine Rolle spielten. Die retrospektive Sichtweise verleitet dazu, die Diversifizierung der Energiepolitik durch vermehrten Erdgaseinsatz gleichsam als ökologisch bedeutsames Ereignis zu deuten.

Es spricht für die Beträge, dass sie die Probleme eines Konzepts "ökologischer Erinnerungsorte", selbst immer wieder kritisch reflektieren. Sie sind sich all der hier angesprochenen Vorwürfe wohlbewusst. Man sollte den Band deshalb als das verstehen, was er ist: ein Auftakt zu einer noch zu schreibenden Geschichte der Umwelterinnerung; als ein "betont, vorsichtiges, tastendes Vorgehen" (9), das sich eines für die Umweltgeschichte neuen Konzeptes bedient und sich deshalb auch fragen lassen muss, inwieweit ein solches überhaupt sinnvoll ist. Für diese Suche bieten die Beiträge hervorragende Ausgangspunkte, zumal sie, auch das ist nicht selbstverständlich, durch eine überaus spannende Online-Plattform ergänzt werden. [4] Das gesamte Projekt "ökologischer Erinnerungsorte" ist daher eine ausgezeichnete Möglichkeit, eigene Denk- und Handlungsweisen kritisch zu reflektieren und Vorstellungen über die Gegenwart und Zukunft einer "ökologischen" Bundesrepublik auf ihre historischen Kontinuitäten und Widersprüche zu hinterfragen.


Anmerkungen:

[1] Pierre Nora: Les lieux de mémoire, Paris 1984.

[2] Etienne François / Hagen Schulze (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bände, München 2001.

[3] Vgl. Frank Uekötter: Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2011, dieses Buch verfolgte hierbei schon eine ähnliche Stoßrichtung.

[4] Homepage des Projektes "Umwelt und Erinnerung", URL: http://www.umweltunderinnerung.de/ (Zugriff am 27.02.2014).

Martin Diebel