Rezension über:

Cecile Debray : Marcel Duchamp - La Peinture Même. Publié à l'occasion de l'Exposition "Marcel Duchamp. La Peinture, Même", Paris, Centre Pompidou, Paris: Centre Georges Pompidou Service Commercial 2014, 319 S., ISBN 978-2-84426-656-9, EUR 44,90
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Rezension von:
Antje von Graevenitz
Amsterdam
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Antje von Graevenitz: Rezension von: Cecile Debray : Marcel Duchamp - La Peinture Même. Publié à l'occasion de l'Exposition "Marcel Duchamp. La Peinture, Même", Paris, Centre Pompidou, Paris: Centre Georges Pompidou Service Commercial 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 4 [15.04.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/04/26384.html


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Cecile Debray : Marcel Duchamp - La Peinture Même

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Eine Ausstellung über Duchamps Abschied vom Abschied war überfällig, denn 1911 hatte der spätere Hauptgewährsmann für viele Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts erklärt, er wolle der Malerei den Rücken zukehren. Jedoch geschah das nicht, obwohl dieser Abschied oft als Paradigma für die Kunst des 20. Jahrhunderts herhalten musste. Wohl auch deshalb schenkte man seinen Bildern, die er dann doch noch bis 1918 gemalt hatte, zumeist geringe Aufmerksamkeit. Einer der Gründe für seinen angeblichen Abschied war vermutlich die Weigerung des Salon des Independants, sein Bild "Akt die Treppe herunter steigend" (1911/12) in eine Ausstellung zu hängen. Duchamp erfuhr sie als eiskalte Niederlage.

Es glich nun einer Sensation, dass das Centre Pompidou diesem Bereich seines Werkes im Winter 2014/2015 erstmals eine eigene Ausstellung widmete und dazu ein goldfarbenes Katalogbuch herausbrachte. Das Gold wirkt unter diesen Umständen als Ausrufezeichen: Duchamp war zunächst doch ein Maler! Aber einer, der sich im Werk um die Zukunft der Malerei "selbst" (même) kümmerte. Im eigentlichen Sinne wurde es kein Katalogbuch, denn die Herausgeberin, Cécile Debray, hatte damit Höheres im Sinn. Mithilfe vieler Duchamp-Spezialisten versuchte sie die Frage, wie man mit einem Künstler verfahren soll, der sich vehement gegen die Malerei gestellt und dann doch weiter gemalt hatte, so zu beantworten, dass sie entlang seines Gesamtwerkes und vor allem mithilfe seiner Bilder das Enigma seiner Abkehr enträtseln und zum Anlass nehmen wollte, die Duchamp-Forschung auf den neusten Stand zu bringen. So ist denn eine intellektuell äußerst anspruchsvolle Publikation zustande gekommen, die man kaum - was die Texte zu den einzelnen Werken und vor allem die Aufsätze betrifft - mal soeben zur Hand nehmen kann. Nicht den normalen Ausstellungsbesucher hatte man im Auge, sondern die Zunft der Kunsthistoriker, vor allem diejenigen unter ihnen, die sich seit Jahren ausgiebig mit diesem Jahrhundertkünstler beschäftigt haben. Und selbst die werden an den detailreichen und intertextuell operierenden Texten manch' harte Nuss zu knacken haben. Schuld daran ist vielleicht der Maßstab: Duchamp, dessen Werk für Readymades, Prä-Surrealismus, Heterogenität, Relativität, Kinetik, Esoterik, Wahrnehmungsforschung, Kunst und Musik, Staged Photography, Rätselhaftigkeit, Verschlüsselung, Okkultismus, Alchemie, neue symbolische Ordnungen, Konzeptualität, Darstellung von Energie und viele Grenzüberschreitungen in der Kunst steht. Es sind Begriffe, die nachfolgende Intellektuelle in Paris begierig aufgriffen, nicht zuletzt Georges Bataille in seiner Zeitschrift "Documents" (1929-1934). Wie sollte man also in dem Buch vorgehen?

Debray entschied sich für eine kreisende Bewegung vom Ausgangspunkt aus: Duchamps Angriff auf das gemalte Körperbild bis hin zum "Großen Glas", das ja entsprechend titelführend ist: "La Mariée mise à nu par les célibataires, même" (1915-1923). Wie sie in einer kompliziert verfassten Einführung erklärt, entschied sie sich für eine Einteilung in sechs Kapiteln, denen sie entweder je einen Aufsatz und dazu vier bis zehn der ausgestellten Werke in Einzelbesprechungen zuordnete, oder auch, wie zum sechsten Kapitel, sogar vier Aufsätze. Herbert Molderings, der zu dem einzig fehlenden Bild in der Ausstellung "Tu m' " von 1918 seine früheren Studien mit neuen Erkenntnissen anreicherte, ist mit Annabelle Görgen einer der wenigen ausländischen Autoren der stark französisch geprägten Riege, darunter so bedeutende Duchamp-Kenner wie Yves Peyré, Fréderic Migayrou und Jean Clair. Gleiches gilt im Übrigen für die in Fußnoten genannten Autoren. Wie konnte es geschehen, dass man Linda Dalrymple Henderson nicht erwähnte, die schon 1998 Duchamp im Zirkel von Wissenschaft und Technik minutiös untersuchte und den Autoren des Buches wertvolle Quellen vermittelte? Und so geschah es, dass gerade Forschungsergebnisse wie die von Rudolf Herz nicht berücksichtigt wurden, dass nämlich Duchamp gar nicht in der Lage gewesen war, etwa Cranachs Bilder in der Alten Pinakothek zu sehen, weil man bis heute nicht genau weiss, welche von Cranachs Werken damals ausgestellt waren, und dass Gleiches auch für Böcklins Bild "Magna Mater" (1868) galt. Im Baseler Kunstmuseum befand es sich damals noch nicht. So blieb es denn bei der falschen Legende im Pariser Gold-Katalog. Dennoch bieten die Kapitel mit ihren Duchamp gemäß verrätselten Titeln wie: 'Apparition d'une apparence' (Kap. 2), 'Inconscient organique (mécanique viscérale)' (Kap. 5) neues ikonografisches Material neben einem neuen Fundus an Abbildungen aus heterogenen Quellen, die der Künstler vermutlich alle gekannt und wohl auch benutzt hat. Allein schon deshalb ist es eine Freude, diese Kunst der interdisziplinären Bildkultur aus Naturwissenschaft, Medizin, Ingenieurskunst, Anthropologie, Karikaturen und Alltagskultur auf Duchamps Werk bezogen zu sehen und sich sodann den verschiedenen Exegesen der Forscher zu überlassen. Nicht selten muss man dabei schmunzeln.

Die eigentliche Sensation, endlich kaum gezeigte Bilder aus den unterschiedlichen und schwer zugänglichen Standorten der Welt im Buch vereint zu sehen, beginnt in dem goldenen Buch erst auf Seite 72. Lieber stellte man seine Readymades von 1919 (!) und 1913 voran. Man lernt Duchamp dann doch als ungeschickten Adepten von Manet, Redon, Kandinsky, Derain, Jugendstilmalern wie den nun erst entdeckten Louis M. Eilshemius (1864-1941) und Kubisten sowie Matisse kennen, - sieht, wie er mit ruppigem Pinsel seine häuslich Badenden oder auch im Grünen sitzenden, vollbusigen Schönen erst schwarz und zum Fleisch hin blau umrandet, die Schatten grün auffüllt und mit diesen Akten so bildfüllend umgeht, dass sie im Bildkäfig gefangen scheinen. Offensichtlich packte ihn oft die Langeweile, denn viele Bilder sind nicht zu Ende gemalt. Manche Figur im konservativen Outfit wie das Porträt seiner Schwester Yvonne (entstanden 1907 oder 1909) löst sich am Schenkel plötzlich in ein Gewirr abstrakt-bunter Pinselzüge auf, als wäre das Bild hier wie Glas gesprungen. Man sieht es verwirrt, denn schon bald zeigt sich Duchamp als großer Könner in Werken wie: "Akt, die Treppe hinuntersteigend" (1911) und den feingeschliffenen Organ-Konstruktionen der "Mariée" (1912) (auch auf dem Buchumschlag) und "Le Passage de la vierge à la mariée" (1912). Hierfür hat Duchamp eine geradezu altmeisterliche Qualität der Malerei entwickelt. Beides ist also wahr: dass Duchamp kein guter Maler gewesen sein soll und dass er es ausgezeichnet konnte (wenn er nur wollte?). Gleiches gilt übrigens für seine Zeichnungen: Versiert wusste er Karikaturen mit ihren anzüglichen Bildlegenden herzustellen, die schon seine Idee "Eros c'est la vie" enthalten, während andere Zeichnungen einen zögerlich experimentierenden Duchamp vorführen, der auf vielen transparenten Bildplänen hintereinander die Welt der Schachfiguren und der Spieler zusammenführte. Gerade dieses Thema und ihre vielleicht weniger einleuchtenden Bildlösungen gehören dennoch zu den Werken, bei denen man Duchamp wie im Labor arbeitend erfährt. Erst viel später gab der angebliche Ikonoklast zu, insgeheim als Alchemist gearbeitet zu haben. Seine Malerei spielte dabei keine untergeordnete Rolle. Um also mit einer falschen Legende aufzuräumen, ist die kritische Lektüre dieses reichhaltigen Buches unumgänglich.

Antje von Graevenitz