Rezension über:

Hermann Wellenreuther: Citizens in a Strange Land. A Study of German-American Broadsides and their Meaning for Germans in North America, 1730-1830 (= Max Kade German-American Research Institute Series), University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2013, XVI + 352 S., 16 Farb-, 37 s/w-Abb., 38 Tabellen, 1 Karte, ISBN 978-0-271-05937-2, USD 94,95
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Rezension von:
Ulrike Kirchberger
Fachgruppe Geschichte im Fachbereich 5, Universität Kassel
Redaktionelle Betreuung:
Susanne Lachenicht
Empfohlene Zitierweise:
Ulrike Kirchberger: Rezension von: Hermann Wellenreuther: Citizens in a Strange Land. A Study of German-American Broadsides and their Meaning for Germans in North America, 1730-1830, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/24757.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Atlantische Geschichte" in Ausgabe 15 (2015), Nr. 7/8

Hermann Wellenreuther: Citizens in a Strange Land

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Wer sich mit der Geschichte der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts beschäftigt, wird früher oder später über die Frage nachdenken, wie eigentlich Kommunikation zwischen den Kontinenten und in kleineren regionalen Zusammenhängen in den Kolonien funktionierte. Wie ließen sich Informationen über Ereignisse in anderen Erdteilen, politische Ideologien und theologische Lehrsätze über den Atlantik transferieren und vor Ort verbreiten? Welche Leserkreise konnte man mit Büchern, Traktaten, Pamphleten, Almanachen, veröffentlichten Predigttexten und anderen publizierten Textformaten erreichen? Entstanden durch die Verbreitung dieser Publikationen öffentliche Räume? Wie muss der Historiker die einzelnen Quellengattungen beurteilen?

In verschiedener Hinsicht ist das Thema gut erforscht. Es liegt eine Reihe von Arbeiten über die Buchkultur in der atlantischen Welt vor, und es ist bekannt, wie und mit welchen Textformaten unterschiedliche christliche Glaubensgemeinschaften ihre interne Kommunikation über den Atlantik organisierten. In vielen Bereichen fehlen jedoch entsprechende Untersuchungen. Es ist weitgehend unerforscht, wie das aus Europa über den Atlantik transportierte Schriftgut in den nordamerikanischen Kolonien verteilt und rezipiert wurde und wie überhaupt Kommunikationsprozesse im kolonialen Hinterland abliefen.

Wichtige Aufschlüsse zu dieser Frage bietet nun Hermann Wellenreuthers jüngstes Buch über die deutschsprachigen Einblattdrucke, die in der Zeit von 1730 bis 1830 in Pennsylvania, einer Kolonie mit einem hohen Anteil an protestantischen Einwanderern aus Baden und Württemberg, produziert und verbreitet wurden. Zusammen mit einem Team von Experten hat Wellenreuther 1.682 dieser Blätter aus verschiedenen Archiven und Bibliotheken zusammengetragen. Gedruckt wurde allerdings sehr viel mehr. Einblattdrucke waren billiger als Bücher oder Traktate. Sie konnten leicht erworben werden.

Die Untersuchung hat nicht das Ziel, eine neue Theorie zu Öffentlichkeit und Kommunikation in der Frühen Neuzeit zu entwickeln. Hermann Wellenreuther bleibt dicht an seinen Quellen. Im Zentrum des Buches stehen die Beziehungen zwischen den Produzenten und den Konsumenten von Einblattdrucken und die konkreten Interessen, die die Entstehung der Drucke bedingten. Im ersten Kapitel wird untersucht, in welchen Druckereien Einblattdrucke produziert wurden, wer die Texte verfasste und den Druck in Auftrag gab, wie der Vertrieb und der Verkauf organisiert wurden und wer die Drucke erwarb und las. In den folgenden drei Kapiteln werden eingehende Textanalysen vorgenommen, die den Inhalt der Drucke erschließen. Zunächst werden die Themenfelder diskutiert, die sich mit dem Alltagsleben der Siedler beschäftigten, also beispielsweise Handzettel, in denen Arzneimittel angepriesen wurden, Liebesgedichte, Ratschläge zur Kindererziehung und vieles andere mehr. Diese Broadsides hatten oft einen marktorientierten, zweckgebundenen Charakter. Sie richteten sich an eine vom Verfasser des jeweiligen Blattes klar definierte Leserschaft. Das folgende Kapitel behandelt die religiösen Themen, mit denen sich über die Hälfte der Drucke befassten. Blätter, auf denen biblische Geschichten, Gebete und Haussegen gedruckt standen, wurden viel in den Bet- und Bibelstunden verwendet, die in pietistischen Privathaushalten eine große Rolle spielten. Das abschließende Kapitel setzt sich mit den politischen Themen auseinander, die vor allem in der Zeit nach 1800 vermehrt in den Einblattdrucken zur Sprache kamen.

Der Zugang über die Quellengattung des Einblattdrucks ermöglicht viele neue Einsichten in die Geschichte der deutschstämmigen Siedler in Pennsylvania. So wird das "Kloster" Ephrata, das im Besitz einer Druckerpresse war, in seiner Bedeutung wesentlich aufgewertet. Neues Material wird ferner über den Umgang der deutschsprachigen Siedler mit dem Thema der Haltung aus Afrika stammender Sklaven geliefert. Auch die gelegentlich vorgenommenen deutsch-britischen Vergleiche sind aufschlussreich. Interessant ist beispielsweise der Hinweis, dass im Vergleich zu den religiös aufgeladenen Einblattdrucken, die bei den deutschsprachigen Pietisten in großer Zahl zirkulierten, in englischsprachigen Einblattdrucken nur selten religiöse Inhalte zu finden waren (193). Die Anglikaner, vermutet Wellenreuther, hätten das Book of Common Prayer und die vorhandenen Predigtsammlungen für ihre Hauskreise benutzt. Nun ist es allerdings völlig unklar, wie das anglikanische Laienvolk in Nordamerika die vergleichsweise langatmigen gedruckten Predigten rezipierte, die von London aus über den Atlantik transportiert wurden. Man könnte auch spekulieren, dass für die Anglikaner der Einblattdruck deshalb keine attraktive Textform war, weil sie den häuslichen Bibelstunden der Pietisten kritisch gegenüberstanden und ihren Glauben eher im Sonntagsgottesdienst auslebten. Die einblättrige Kurzbotschaft war wohl tatsächlich ein Format, das deutschsprachigen Pietisten in kleiner Runde zur Erbauung diente.

Was den Aussagewert der Broadsides angeht, so weist Hermann Wellenreuther immer wieder darauf hin, dass sich aus den Einblattdrucken keine umfassende Sozialgeschichte der Deutschen in Pennsylvania schreiben lässt. Die Texte vermitteln das Bild einer in sich geschlossenen deutschen Welt ohne Außenkontakt. Die britischen Kolonisten wurden in den analysierten Druckerzeugnissen weitgehend ausgeblendet. Dem stand eine Lebenswirklichkeit entgegen, in der die deutschsprachigen Pietisten vielfältige Kontakte zu Briten bzw. anderen nicht-deutschen Kolonisten pflegten. Deutsch- und englischsprachige Geistliche arbeiteten immer wieder zusammen. Die Pietisten in Pennsylvania verstanden sich als Teil einer großen atlantischen Erweckungsbewegung. Hinzu kamen tiefe konfessionelle Spaltungen und politische Gegnerschaften, die das Bild von der "deutschen" Gemeinschaft in Frage stellen. Über das Medium des Einblattdrucks wurde dennoch ein "deutsches" Zusammengehörigkeitsgefühl betont und an breitere Leserkreise kolportiert. Hier trägt die Analyse der Broadsides zu einer weiteren Ausdifferenzierung des bereits bestehenden Bildes von der Komplexität der interkonfessionellen Beziehungen und der Formation von ethnischen Identitäten bei.

Das Buch leistet einen maßgeblichen Beitrag zu der bislang unzureichend beantworteten Frage, wie säkulares Wissen, religiöse und politische Inhalte bei Bauern und Handwerkern im kolonialen Hinterland von Pennsylvania verbreitet wurden. Was die Frage nach der Entstehung von "Öffentlichkeiten" anbelangt, so scheint diese Kategorie nicht recht zu greifen. Das hängt wohl damit zusammen, dass die Broadsides zwar an weite Leserkreise verteilt, dann aber, gerade was die religiösen Themen anbetraf, eher in den privaten Raum hineinwirkten. Der Begriff der "Öffentlichkeit" wird von Wellenreuther jedenfalls kaum gebraucht. Er verwendet vielmehr das Konzept des "Marktes", um die Produktions- und Vertriebsmechanismen der Drucke zu erklären. Dieser Ansatz ermöglicht es, Kommunikationswege zu rekonstruieren und relativ präzise nachzuweisen, welche Inhalte von wem in Umlauf gesetzt wurden und welche Käufer- und Leserschichten angesprochen werden sollten. So erschließt sich nicht nur ein ganz neuer Einblick in die Kommunikationsstrukturen des atlantischen Raumes, es entsteht auch ein faszinierendes Panorama der Lebens- und Glaubenswelten der deutschsprachigen Minderheit in Pennsylvania.

Ulrike Kirchberger