Rezension über:

Wolfram Kaiser / Jan-Henrik Meyer (eds.): Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-making 1958-1992 (= Palgrave Studies in European Union Politics), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, XIV + 275 S., ISBN 978-1-1370-1764-2, GBP 63,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Henning Türk
Essen
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Henning Türk: Rezension von: Wolfram Kaiser / Jan-Henrik Meyer (eds.): Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-making 1958-1992, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/24696.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Wolfram Kaiser / Jan-Henrik Meyer (eds.): Societal Actors in European Integration

Textgröße: A A A

Die Entscheidungsfindung in der Europäischen Union (EU) ist ein komplexer Prozess. Sie wird nicht nur von den drei klassischen Organen der EU, der Kommission, dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament beeinflusst, sondern auch von gesellschaftlichen Akteuren. Diese bringen sich als Lobbygruppen, Non-Profit-Organisationen oder in anderen Zusammenschlüssen in den Entscheidungsprozess ein. Die politikwissenschaftliche Literatur hat sich mit diesem Phänomen vor allem für die Phase nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht auseinandergesetzt, mit dem die bisherige Europäische Gemeinschaft (EG) am 1. November 1993 in die EU transformiert wurde. Dabei wurde eine deutliche Zunahme des Einflusses gesellschaftlicher Gruppen diagnostiziert.

Dieser Perspektive der Politikwissenschaft wollen die Herausgeber mehr historische Tiefenschärfe verleihen, mit der deutlich wird, wie stark die Einflussnahme gesellschaftlicher Akteure bereits vor 1993 war. Gleichzeitig wollen sie die historische Integrationsforschung um eine neue Dimension erweitern, da die Forschung aus ihrer Sicht bisher vor allem aus nationalen oder supranationalen Blickwinkeln die Entwicklung der EG/EU analysiert und die transnationalen Einflüsse gesellschaftlicher Akteure zu wenig beachtet habe. Nach der an manchen Stellen etwas überambitionierten Einleitung, folgen dann neun gut gewählte Fallbeispiele, die den Ansatz illustrieren. Abgerundet wird der Band durch eine Zusammenfassung der Herausgeber, in der diese die Ergebnisse des Bandes erläutern und auf Forschungsdesiderate aufmerksam machen.

Ein großes Verdienst der Herausgeber und Autoren ist die Kohärenz des Bandes. Entsprechend dem an der englischen Unterscheidung zwischen policy (Inhalt), politics (Prozess) und polity (Form) orientierten Untertitel geht es in den Aufsätzen zunächst immer um die Frage, wie sich die gesellschaftlichen Akteure auf europäischer Ebene organisierten und inwiefern dabei eine Europäisierung festzustellen ist. Anschließend wird dann anhand eines Fallbeispiels untersucht, auf welche Weise die Akteure versuchten, politische Entscheidungen auf EG-Ebene zu beeinflussen. Abschließend folgt immer ein Ausblick.

Die Spannweite der ausgewählten gesellschaftlichen Akteure ist dabei sehr weit, was einen Reiz des Bandes ausmacht. So werden parteipolitische Zusammenschlüsse (Wolfram Kaiser, Christian Salm), industrielle und agrarische Interessenverbände (Lucia Coppolaro, Carine Germond, Werner Bührer/ Laurent Warlouzet), Gewerkschaften (Francesco Petrini), Unternehmen (Martin Rempe), wissenschaftlich orientierte Verbände (Morten Rasmussen) und Neue soziale Bewegungen (Jan-Henrik Meyer) analysiert. Thematisch reichen die Aufsätze von der Handelspolitik, über die Agrarpolitik, Industriepolitik, Wettbewerbspolitik und Entwicklungspolitik, bis zum Europarecht und der Umweltpolitik. Etwas aus dem Rahmen fällt der Aufsatz von Karen Heard-Lauréote, die sich keinen einzelnen gesellschaftlichen Akteur vornimmt, sondern fragt, inwiefern der von der Kommission nach 1993 vorgenommene intensive Einbezug gesellschaftlicher Akteure zu einer Demokratisierung des Entscheidungsprozesses geführt habe. Dieses Argument der Kommission und der Verbände für eine Integration der "Zivilgesellschaft" in den Entscheidungsprozess sieht Heard-Lauréote durchaus kritisch, da die Verbände unter anderem selbst nicht demokratisch organisiert oder legitimiert seien.

Welche allgemeinen Erkenntnisse lassen sich aus den heterogenen Beispielen gewinnen? Der Sammelband bestätigt mit seinem Schwerpunkt auf den 1970er Jahren die in den letzten Jahren vorgenommene Revision der früheren Auffassung, die 1970er Jahre seien eine Phase der Stagnation für die europäische Integration gewesen ("Eurosklerose"). Stattdessen wird deutlich, wie in dieser schwierigen Phase auch mit Hilfe gesellschaftlicher Akteure neue Politikfelder erschlossen wurden (z.B. mit der Umweltpolitik) oder spätere Vorhaben vorbereitet wurden (z.B. die Süderweiterung).

Zudem zieht sich ein Aspekt wie in roter Faden durch die Aufsätze: Die Kommission bemühte sich bereits frühzeitig darum, mit europäischen Verbänden zu verhandeln und nicht mit einzelstaatlichen Interessengruppen. Sie förderte auf diese Weise entsprechende Zusammenschlüsse, wie zum Beispiel das Comité des organisations professionelles agricoles (COPA) im Agrarbereich. Wie die Kommission als Antreiber europäischer Zusammenschlüsse fungierte, wird besonders in Morten Rasmussens Aufsatz deutlich, der die enge finanzielle und personelle Verbindung des Legal Service der Kommission mit den juristischen Vereinigungen im Bereich des Europarechts betont. Davon erhoffte sich die Kommission eine stärkere Anerkennung des europäischen Rechts und der Rolle des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in den Mitgliedsländern.

Auch die Grenzen des Einflusses gesellschaftlicher Akteure werden deutlich. Das gilt zum Beispiel für die Entwicklungspolitik. So scheiterte der Versuch der sozialistischen Parteien, die Entwicklungspolitik der EG in den 1970er Jahren stärker an den globalen Bedürfnissen auszurichten, an der Intransigenz der französischen Regierung, welche die Zusammenarbeit auf diesem Feld lange Zeit zur Sicherung des französischen Einflusses in ihren ehemaligen Kolonien nutzen wollte.

Der Band liefert mit seinen Beispielen ein gewichtiges Argument dafür, zukünftig gesellschaftliche Akteure noch stärker in die Erforschung des europäischen Integrationsprozesses einzubeziehen. Dabei erscheint es meines Erachtens auch lohnenswert, die Rolle einzelner Persönlichkeiten intensiver auszuleuchten, die als Grenzgänger zwischen politischer und wirtschaftlicher Ebene fungierten. Einige Persönlichkeiten werden in dem Band genannt, in ihrer Rolle aber nicht weiter analysiert. Welche Rolle spielte zum Beispiel der integrationspolitische Tausendsassa Étienne Davignon, der es bis zum Vizepräsidenten der EG-Kommission brachte und anschließend in Vorständen und Aufsichtsräten diverser europäischer Großunternehmen und Lobbygruppen saß und noch sitzt? Was bedeutete der Wechsel des ehemaligen Kommissionpräsidenten François-Xavier Ortoli an die Spitze des französischen Total-Konzerns? Wenn man diese eng mit den EG-/EU-Institutionen verbundenen Repräsentanten starker gesellschaftlicher Kräfte genauer in den Blick nimmt, könnte man dem von Jan-Henrik Meyer, Wolfram Kaiser und ihren Autoren mustergültig vorgeführten Ansatz noch eine interessante weitere Perspektive hinzufügen.

Henning Türk