Rezension über:

Michel Lauwers: Monastères et espace social. Genèse et transformation d'un système de lieux dans l'Occident médiéval (= Collection d'études médiévales de Nice; Vol. 15), Turnhout: Brepols 2014, 620 S., zahlr. Farb-, s/w-Abb., ISBN 978-2-503-53581-4, EUR 75,00
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Rezension von:
Gabriela Signori
Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Gabriela Signori: Rezension von: Michel Lauwers: Monastères et espace social. Genèse et transformation d'un système de lieux dans l'Occident médiéval, Turnhout: Brepols 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/27857.html


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Michel Lauwers: Monastères et espace social

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Der 19 Beiträge umfassende Sammelband präsentiert die Ergebnisse einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, die sich aus Vertretern der Universitäten Nizza, Lyon, Tours, Dijon, Vercelli und Neapel zusammensetzte und in den Jahren 2008-2011 aktiv war. Der Band kreist um die für das Mönchtum zentrale Frage: Wie setzte die Klosterarchitektur den in den Regeln verlangten Bruch mit der "Welt" um? Nach welchen zeit- und raumspezifischen Mustern wurde der Klosterkomplex, der immer aus mehreren Gebäuden bestand, gedacht, geordnet und modelliert (1)? Die Einleitung fällt im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Bandes, der sechshundert Seiten stark ist, irritierend kurz aus. Bilanz ziehen muss der Leser also selbst.

Programmatisch leitet Sofia Uggé den ersten der drei Bandteile ein, der der Trias 'Modelle, Repräsentationen, Figuren' gewidmet ist. Ihr Interesse gilt der in der frühmittelalterlichen Regelliteratur verwendeten Raumsemantik (15-42). Zunächst inventarisiert sie die zentralen Orte: die Klausur(mauer), die Pforte, das Oratorium, das Refektorium (das Dormitorium erscheine erst spät, erstmals in der Fructuosus-Regel), die Küche, das Sprechzimmer, die Arbeitsräume etc. und deckt die Leerstellen auf (die Existenz eines Scriptoriums werde noch in keiner Regel erwähnt). Bemerkenswert sei das Vorherrschen generischer Begriffe beziehungsweise das weitgehende Fehlen eines spezifischen Raumvokabulars (37). Der Semantik entsprächen die Befunde der Archäologie, die in der Frühzeit des Klosterbaus noch auf keine "rigiden Schemen" gestoßen sei (38). Noch im 9. Jahrhundert sei es zu früh von der Existenz einer "monastischen Architektur" auszugehen. Das ändere sich erst im Reformmönchtum des 10. Jahrhunderts. Auf das Pachomianische Mönchtum geht Sofia Uggé nicht ein, auch Michel Lauwers nicht, der ihre Befunde aufgreift und danach fragt, wann, weshalb und wie die Religiosen vermehrt über den Raum nachdachten, in dem sie lebten und den sie unterschiedlich "monumentalisierten" (43-109). Lauwers identifiziert drei beziehungsweise vier basale Prozesse, die die Verräumlichung des Klosters beschleunigten: die Gemeinschaftsbildung (45-63) sowie die Rationalisierung, Spiritualisierung und Sakralisierung des Klosters, die sich in der Semantik widerspiegle (64-91). Abschließend wendet er sich dem Wandel des Klausurbegriffs zu und der sich im hohen Mittelalter ausbreitenden Tendenz zu einer "realistischen" Raumexegese (91-109).

Cécile Caby folgt der mönchtumsspezifischen Rezeptionsgeschichte der Prophetenworte (Jes 50,2): "Siehe, mit meinem Schelten mache ich das Meer trocken und die Wasserströme zur Wüste, dass ihre Fische vor Mangel an Wasser stinken und vor Durst sterben." Von gänzlich anderen Raumkonzeptionen handeln die beiden originellen Beiträge von Uta Kleine und Paul Feron. Kleine fokussiert auf die Pläne ("Karten" sei der falsche Begriff) von Marmoutier, Sindelberg und Zwettl (die "Bärenhaut"), in denen Herrschaft, Recht und Ökonomie auf unterschiedliche Art und Weise verknüpft beziehungsweise visualisiert würden (147-84). Feron befasst sich mit sogenannten "Kontestationskarten" aus dem Süden Frankreichs (Maguelone, Saint-Gilles und Lérins), Zeichnungen, die im Kontext von Rechtsstreitigkeiten um Fischereirechte angelegt worden sind (185-209).

Im zweiten Bandteil ('Orte, Zirkulation, Hierarchie') überwiegen mit Ausnahme der knappen Ausführungen von Jean-Michel Picard (213-25) zur Raumorganisation der irischen Großklöster Beiträge zu Einzelklöstern: Frederico Marazzi stellt die wechselhafte Geschichte des lombardischen Klosters San Vincenzo al Volturno vor (228-53), Gisela Cantino Wataghin diejenige der Abtei Novalesa bei Susa (255-87) und Élisabeth Lorans diejenige des ehemaligen Inselklosters Marmoutier (289-352). In vergleichender Perspektive setzt sich Sébastien Bully mit der Galerie (überdeckter Gang, der verschiedene Gebäudeteile verbindet) des Juraklosters Saint-Claude auseinander (353-86), während Alain Rauwel am Beispiel von Saint-Bénigne in Dijon die Aufmerksamkeit auf die räumlichen Bedingungen der Privatmesse lenkt, die sich als Praxis im Verlauf des 11. Jahrhunderts ausbreitete (377-86). Abschließend fokussieren Anne Baud auf die Reformarchitektur Clunys (387-99) und Daniel Prigent auf die Raumorganisation des Doppelklosters Fontevraud (401-24).

Im dritten und letzten Teil des Sammelbandes ('Räume, Funktionen, Umwelt') geht Hans Rudolf Sennhauser zunächst den Bauphasen der frühen eidgenössischen Benediktinerklöster nach (427-33). Fast überall sei dem Klosterbau der Bau einer Kapelle oder Kirche vorausgegangen. Étienne Louis konzentriert sich auf die Frühgeschichte des Frauenklosters Hamage bei Douai, das sich später zu einer Dependenz des Klosters Marchiennes entwickelte (435-71), und Luc Bourgeois auf die Befestigungsmaßnahmen der Abteien Saint-Hilaire und Saint-Maixent bei Poitiers (473-502). Auf das klösterliche Bestattungswesen geht der Beitrag von Gisela Cantino Waraghin und Eleonora Destefanis ein (503-53). Der erste Teil handelt von Orten, der zweite von Personen. Zur Diskussion stehen die Bedeutung der Heiligengräber, der Einfluss der Reliquienverehrung auf das Bestattungswesen und die ersten bekannten Klosterfriedhöfe (die Reichenau, Müstair und Sankt Gallen, Brescia und Pavia, Hamage und Ganagobie). Im zweiten, den sozialen Dimensionen gewidmeten Teil geht es zuerst um die Bestattung der Äbte, dann um die Laienbegräbnisse (Wearmouth, Farfa, San Vincenzo al Volturno, Novalesa). Es stört die kategorische Ausklammerung der deutschsprachigen Forschungsliteratur.

Nicolas Reveyron systematisiert die eingangs aufgeworfene Frage nach den Zwängen, denen der Klosterbau unterworfen war (555-84). Er schlägt vor zwischen geomorphologischen, mnemotopischen, liturgischen und sozialen Zwängen zu unterscheiden, die unter anderem zu einer unterschiedlichen Raumorganisation von Frauen- und Männerklöstern führten. Abschließend greift Yann Codou an ausgewählten Beispielen aus dem Süden Frankreichs das in vielen Beiträgen gestreifte Thema der Kirchenvielzahl auf, die seit längerem als Charakteristikum der frühmittelalterlichen Kloster- und Kathedralkomplexe gilt (585-609).

Trotz ihrer thematischen und räumlichen Breite ergeben die Beiträge ein stimmiges, in sich geschlossenes Gesamtbild, nicht zuletzt weil sie mehrfach aufeinander rekurrieren, von denselben Leitklöstern handeln und dieselben Grundeinsichten teilen. Bei einem Band, der den Anspruch erhebt, den gesamten Okzident abzudecken, stört allerdings die auffällige Konzentration auf Westeuropa. Weitgehend ausgeklammert sind nicht nur die Iberische Halbinsel und die britischen Inseln, sondern auch weite Teile des Kontinents. Fürwahr, an Vergleichsmaterial hätte es, was Mitteleuropa anbelangt, nicht gemangelt. Den Verdienst des Bandes, der Wesentliches zur besseren 'Verortung' des früh- und hochmittelalterlichen Mönchtums beiträgt, sollte der Einwand aber in keiner Weise schmälern.

Gabriela Signori