Rezension über:

Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten, München: C.H.Beck 2015, 352 S., eine Kt., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-68163-9, EUR 24,95
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Rezension von:
Vasily Arslanov
Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Vasily Arslanov: Rezension von: Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten, München: C.H.Beck 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/27625.html


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Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer

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Am 1. November 1521 hätte die Wiedergeburt der christlichen Kirche beginnen können: so kündigte es zumindest ein deutscher Prediger namens Thomas Müntzer an, der sich damals in Prag aufhielt. Im Lande des berühmten Kämpfers für die Wahrheit Jan Hus werde die neue Kirche entstehen und ihren Siegeszug antreten. Diese Ankündigung blieb jedoch ohne bemerkbare Folgen; vielleicht auch, weil sie nicht öffentlich verbreitet wurde, denn von einer Bekanntmachung des "Prager Sendbriefes" gibt es keine Zeugnisse. Ganz anders erwies sich die Wirkung der "95 Thesen", die 4 Jahre davor Martin Luther in Wittenberg veröffentlichte. So wird an den 31. Oktober 1517 nächstes Jahr bundesweit feierlich erinnert - vom 1. November 1521 aber haben die meisten Menschen kaum etwas gehört. Dabei hat der Erfolg der Reformation die historische Erinnerung an verschiedene alternative Reformkonzepte durch Propagierung bestimmter Deutungsmuster und Unterdrückung konkurrierender Geschichtsbilder geprägt, und das gilt zuallererst für das reformatorische Werk Thomas Müntzers, eines der erbittertsten Gegner Luthers. Lange Zeit wurde Müntzer von der lutherischen Historiographie als Enfant terrible der Reformation angesehen. Erfreulicherweise hat sich die Geschichtsschreibung in der 2. Hälfte des 20. Jh. weitgehend sachlich mit Müntzer auseinandergesetzt und eine Reihe seriöser Biographien hervorgebracht. Dennoch konstatiert der Hamburger Historiker Hans-Jürgen Goertz in Bezug auf das moderne Müntzerbild: "Mit Thomas Müntzer verbinden sich im öffentlichen Bewusstsein, wenn überhaupt, kaum gute Erinnerungen" (266). Um im Vorfeld des Reformationsjubiläums das Interesse des allgemeinen Lesepublikums an dieser umstrittenen Gestalt der deutschen Geschichte zu wecken, hat Goertz eine neue Biographie Müntzers vorgelegt, die sein Leben und Werk frei von Dämonisierung, aber auch von Glorifizierung darstellen soll.

Das Buch von Goertz ist eine gründlich überarbeitete und ergänzte Fassung seiner 1989 erschienenen Müntzerbiographie. [1] Der Aufbau ist im neuen Buch beibehalten, abgesehen vom ersten Kapitel, das in den Anhang verschoben und um eine ausführliche Übersicht der Müntzerforschung ergänzt wurde. Der Anhang enthält außerdem (sich mit dem Hauptteil teilweise überschneidende) Überlegungen zu Müntzers Relevanz für die heutige Theologie, eine Karte mit Müntzers Lebensstationen (288) sowie eine vergleichende Zeittafel mit Angaben zu Müntzer, Luther und allgemeinen politischen und kulturellen Ereignissen ihrer Zeit (289-297). Die Einleitung ordnet die erste Ausgabe in den Kontext der ost-westdeutschen Müntzerdebatte ein: das Buch sollte "die antagonistischen Deutungsalternativen, entweder Theologe oder Sozialrevolutionär", auflösen (9). Dies versuchte Goertz mit der These, dass die eigentümliche Melange aus der spätmittelalterlichen Mystik und Apokalyptik, die Müntzers Theologie kennzeichne, "mit innerer Konsequenz" zu seiner Teilnahme an sozialen Kämpfen der Zeit führte. Dass er an dieser Deutung auch nach 26 Jahren festhält, ist schon aus dem neuen Untertitel ersichtlich, der das revolutionäre Element bei Müntzer betont. Die Revision besteht deshalb vorwiegend in der Berücksichtigung der neueren Forschungsergebnisse und Verweisen auf die neue Müntzeredition (der "Sendbrief an die Stolberger" hätte nach dieser Ausgabe zitiert werden können).

Goertz geht chronologisch vor und bezieht die Analyse der Schriften Müntzers in das biographische Narrativ ein. Damit macht er den Bezug mancher schwer verständlichen Stellen zu bestimmten Problemen und Gegebenheiten deutlich. Die Beschreibung jeder neuen Lebensstation Müntzers wird mit allgemeinen Informationen zur sozialpolitischen Lage versehen, die das soziale Umfeld, in dem Müntzer agierte, rekonstruieren lassen. Dabei weist der Autor auf z.T. massive Lücken in der Überlieferung hin und warnt zu Recht vor spekulativen Annahmen, etwa in Bezug auf die Rolle der sozialen Herkunft von Müntzers Anhängern in Zwickau (71). Dass der Müntzerbiograph doch in einigen Fällen auf den Konjunktiv angewiesen ist, zeigen beispielsweise die Ausführungen zur Reise nach Süddeutschland 1524 und einem möglichen Kontakt zu den Bauern (190-193). Aufgrund des Mangels an Quellen ist ein genaues Bild von Müntzers Sympathisanten in der Zeit von seiner Distanzierung von Luther bis zur Niederlage bei Frankenhausen schwer zu zeichnen. Obwohl Goertz die Quellen behutsam interpretiert, ist zu bemerken, dass er bei der Quellenlektüre nicht immer mit gebotener Sorgfalt vorgegangen ist: so wird das Wort "Greck" (Augenentzündung) mit "Griechen" verwechselt (81), obwohl die Edition die richtige Bedeutung bietet. [2] An dieser Stelle seien auch einige anderweitige Ungenauigkeiten genannt: die von Müntzer benutzte Tertullian-Ausgabe ist 1521 erschienen (68); der Brief an Melanchthon ist auf 1522 zu datieren (98); Hans Zeiß war Schosser, nicht Amtmann (123).

Als Deutungsrahmen für die Interpretation der Müntzerschen Kirchenkritik und ihrer breiten Unterstützung dient Goertz der Begriff "Antiklerikalismus", der in seinen zahlreichen Publikationen erläutert wurde. [3] Entscheidend für die Aufnahme der Ideen Müntzers durch den "gemeinen Mann" sei die Verbindung der "antiklerikalen Atmosphäre" mit dem "kommunalen Geist" der städtischen und ländlichen Protestbewegungen gewesen (24). Mag die These vom Antiklerikalismus als Nährboden des reformatorischen Radikalismus allerlei Couleur einiges für sich haben, so erscheint der Begriff bei der Frage nach der Motivation einzelner Müntzeranhänger kaum hilfreich, sind doch Karlstadt oder die Schweizer Täufer, die ebenfalls antiklerikal gesinnte Anhänger hatten, zu ganz anderen Folgen gekommen als Müntzer. Ebenfalls fraglich ist die Engführung des Müntzerschen Ordnungsbegriffes und der Forderungen der Bauern (235): unklar ist, warum dieses Element der Müntzerschen Theologie die Bauern mehr ansprechen konnte als etwa Luthers Freiheitsschrift. Problematisch ist auch, die kritische Stellung zur Obrigkeit allein auf die dem Ordnungsbegriff zugrundeliegende Unterscheidung von Kreaturenfurcht und Gottesfurcht zurückzuführen (147). Denn der gescheiterte Versuch einer Verständigung mit den kursächsischen Fürsten legt nahe, dass das Bündnis Müntzers mit den Bauern eher eine Koinzidenz als eine innere Konsequenz seiner Theologie war.

Dagegen scheint die Bereitschaft zur Anwendung der Gewalt bei Müntzer schon lange vor der "Fürstenpredigt" präsent zu sein. Der Zusammenhang zwischen der Legitimation der Gewalt und Apokalyptik ist nachvollziehbar, sollte aber um eine Diskussion der Bedeutung des Alten Testaments bei Müntzer ergänzt werden. [4] Angriffe auf die Kleriker konnten auch ohne apokalyptische Begründung gerechtfertigt werden, z.B. mit dem Notwehrargument. Insgesamt bleibt nach der Lektüre des Buches die Entwicklung der Apokalyptik bei Müntzer unklar (vgl. einander widersprechende Aussagen zur Ankunft des Antichristen, S. 93 und 227), zumal ihre seit dem Ende 1524 rasant zunehmende Bedeutung schwer als Konsequenz des theologischen Denkens zu erklären ist, bei dem der Vorrang der Mystik festgestellt wird (102). Die Rolle der äußeren Faktoren in der Theologie Müntzers macht Goertz selbst deutlich, z.B. bei der Einordnung des Briefes an Melanchthon in den Kontext der innerreformatorischen Debatten in Wittenberg. Auch bei der Analyse der Apokalyptik in den späten Schriften wünscht der Leser, dass sie stärkere Berücksichtigung fänden.

Hans-Jürgen Goertz hat eine gründlich erforschte und vorzüglich geschriebene Müntzerbiographie vorgelegt, die sich auf den aktuellen Forschungsstand stützt und zur weiteren Beschäftigung mit Müntzer anregt. Abgesehen von den oben erwähnten wenigen Ungenauigkeiten bietet das Buch im Ganzen sichere Informationen sowie erwägenswerte Hypothesen und fördert ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Theologen.


Anmerkungen:

[1] Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär, München 1989.

[2] Vgl. Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. H. Junghans und A. Kohnle. Bd. 2: Thomas Müntzer. Briefwechsel. Bearb. v. S. Bräuer und M. Kobuch, Leipzig 2010, 86.

[3] Vgl. z.B. Hans-Jürgen Goertz: Pfaffenhaß und groß Geschrei: die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517-1529, München 1987; Ders.: Antiklerikalismus und Reformation: sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 1995.

[4] Vgl. auch die Kritik an der Deutung Müntzers als Apokalyptiker bei R. Emmet McLaughlin: Apocalypticism and Thomas Müntzer, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 95 (2004), 98-131.

Vasily Arslanov