Rezension über:

Mathias Middelberg: "Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?". Hans Calmeyer - "Rassereferent" in den Niederlanden 1941-1945, Göttingen: Wallstein 2015, 270 S., 66 Abb., ISBN 978-3-8353-1528-0, EUR 19,90
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Rezension von:
Johannes Koll
Wirtschaftsuniversität, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Koll: Rezension von: Mathias Middelberg: "Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?". Hans Calmeyer - "Rassereferent" in den Niederlanden 1941-1945, Göttingen: Wallstein 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6 [15.06.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/06/27567.html


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Mathias Middelberg: "Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?"

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Bei der Beschäftigung mit Nationalsozialismus und Holocaust stellt der Osnabrücker Rechtsanwalt Hans Georg Calmeyer (1903-1972) eine besondere Herausforderung an Analyse und Interpretation dar: Innerhalb des Reichskommissariats für die besetzten niederländischen Gebiete leitete er zwischen 1941 und 1945 jene Dienststelle, die auf Antrag darüber entschied, ob jemand im Sinne der "Nürnberger Gesetze" vom September 1935 als "Voll-", "Halb-", "Vierteljude" oder aber als "Arier" galt. Damit trug Calmeyer große Verantwortung bei der Entscheidung über Leben und Tod. Schon von der Funktion her zählt der Leiter der "Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus der Verordnung 6/41" - wie offiziell die ebenso umständliche wie verharmlosende Bezeichnung seines Büros lautete - zu den hochgradig ambivalenten Figuren der deutschen Besatzungsgeschichte während des Zweiten Weltkriegs. War Calmeyer ein zweiter Schindler, ein Schwindler oder jemand, der sich wissentlich oder unwissentlich von Antragstellern und ihren Rechtsvertretern betrügen ließ? Die Beurteilungen der Mit- und Nachwelt divergieren gewaltig: Während er für die einen Teil der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie war, die im Fall der Niederlande mit der höchsten Deportationsrate unter den besetzten westeuropäischen Ländern mit erschreckender Effizienz wütete [1], sahen andere in ihm und seinen Mitarbeitern den Retter von Tausenden jüdischer Menschenleben und betrachteten es als eine folgerichtige Entscheidung der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Calmeyer posthum als "Gerechten unter den Völkern" zu ehren (1992).

Der profundeste Kenner auf diesem Gebiet ist Mathias Middelberg, der ebenfalls aus Osnabrück stammt, wie sein Protagonist promovierter Jurist ist und derzeit ein Mandat im Deutschen Bundestag hat. Seit seiner rechtshistorischen Dissertation hat sich Middelberg intensiv mit der Vita und den Aktivitäten von Hans Calmeyer auseinandergesetzt. [2] Im Wallstein-Verlag hat er im vergangenen Jahr eine kompakte, gut lesbare Biographie vorgelegt. Welches Bild wird hier von Calmeyer gezeichnet?

Mit Hilfe von zahlreichen veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen aus vorwiegend deutschen und niederländischen Archiven kann Middelberg überzeugend deutlich machen, dass Calmeyer zu jenen bürgerlichen Konservativen gehörte, die den Weg Deutschlands in den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg mitmachten, dem NS-Regime aber nicht ohne Reserve gegenüberstanden: Calmeyer trat nicht der NSDAP, geschweige denn der SS bei und hat als Anwalt Kommunisten vertreten; nach Hitlers "Machtergreifung" verlor er gar für zehn Monate seine Zulassung, weil er die "Rote Hilfe" unterstützt hatte. Immerhin trat er zwei genuinen NS-Organisationen bei: Calmeyer gehörte dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund und dem Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps an.

Entscheidend für die Tätigkeit in Den Haag war, dass Calmeyer sich darum bemühte, Sand ins Getriebe der Judenverfolgung zu streuen. So kehrte er beispielsweise die Beweislast um, indem nicht der Petent, sondern seine Behörde eine Schlechterstellung in der rassischen Hierarchisierung gemäß den "Nürnberger Gesetzen" beweisen musste. Bei der Beschaffung von Dokumenten unterließ er die Einbeziehung von deutschen Ämtern auf Reichsgebiet. Ohne Echtheitsprüfung ließ er Urkunden oder Bescheinigungen von niederländischen Behörden, Gerichten und der Israelitischen Kultusgemeinde sowie - entgegen einer ausdrücklichen Weisung des Reichsjustizministeriums - eidesstattliche Erklärungen von Jüdinnen und Juden als Beweismittel zu. Mehr noch: Calmeyer ließ sich bewusst gefälschte Beweismittel vorlegen, verlangte aber nicht zuletzt zu seinem eigenen Schutz, von Petenten und ihren Anwälten so betrogen zu werden, dass die entsprechenden Dokumente notfalls einer kritischen Überprüfung durch eine andere Behörde Stand gehalten hätten. Bei "Mischlingen" ließ er prinzipiell die Minderjährigen außer Betracht, und zwar unter Berufung auf niederländisches statt deutsches Recht - "das war dreist". [3] Bei einem absehbar negativen Bescheid ließ Calmeyer die Betroffenen so rechtzeitig informieren, dass diese die Möglichkeit hatten, vor der Verhaftung durch den Sicherheitsdienst unterzutauchen. Schließlich bemühte er sich zeitweilig - wenn auch letztlich vergeblich -, den sephardischen Juden ("Portugiesische Israeliten") kollektiv die Ausreise auf die iberische Halbinsel zu ermöglichen.

Die Bilanz von Calmeyers Wirken schildert Middelberg denn auch als singulär: Insgesamt beschied Calmeyers Entscheidungsstelle zwei Drittel der 5.700 eingereichten Anträge positiv und trug durch die Umwandlung des Status "jüdisch" auf "Mischling" oder von "Mischling" auf "arisch" in mindestens 4.000 Fällen entscheidend zum Schutz vor Deportation und Ermordung bei. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen hat Calmeyer Middelberg zufolge "mehr Juden gerettet als jeder andere Deutsche während des Zweiten Weltkriegs". (218)

Dabei waren seine Spielräume eng begrenzt: Beim Versuch, so großzügig wie möglich zu verfahren, ohne allzu offensichtlich aufzufallen, musste Calmeyer mit dem Reichssippenamt, dem Reichsinnen- und dem Reichsjustizministerium Instanzen umgehen, die wesentlich rigoroser vorgingen als seine Entscheidungsstelle. Besonders aber die SS und niederländische Kollaborateure stellten eine permanente Bedrohung von Calmeyers Arbeit dar: Diese Kreise verfolgten mit Argusaugen seine Entscheidungen und brannten darauf, ihn regimeintern als Betrüger zu demaskieren und die Entscheidungsstelle in die eigenen Hände zu bekommen. Wären ab 1944 nicht die Luftangriffe und der Vormarsch der Alliierten dazwischen gekommen, hätten sie ihr Ziel vermutlich erreicht - mit fatalen Konsequenzen für Calmeyer, seine Mitarbeiter und viele Petenten, deren Fälle neu aufgerollt worden wären.

Die Entwicklung von Calmeyers Wirken in Den Haag stellt Middelberg sehr anschaulich dar. Hierzu trägt die Schilderung von Einzelfällen bei, die mitunter durch geeignete Abbildungen unterstützt wird. Dass dies alles auf relativ engem Raum in den biographischen Kontext von Calmeyers Lebensgeschichte und in den historiographischen Kontext der deutschen Besetzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg eingebettet wird, verdient Anerkennung.

Vor dem Hintergrund der strukturellen Ambivalenz von Calmeyers Aufgabe kommt allerdings die "dunkle Seite" zu kurz, die ihm moralisch bis ans Lebensende zu schaffen gemacht hat: die von der Entscheidungsstelle abgelehnten Anträge. Wie wurden negative Bescheide von seiner Dienststelle begründet? Hat Calmeyer erfolgversprechende Anträge um Besserstellung ohne Not abgewiesen? Lassen sich Versuche einer unmittelbaren Einwirkung von Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart, dem fachlich zuständigen Generalkommissar Friedrich Wimmer oder von Dienststellen von Sipo und SD auf sein Büro nachweisen? Wie auch immer - Middelbergs Gesamtbewertung von Calmeyers Agieren unter denkbar schwierigen Bedingungen ist derart fundiert, dass sie dessen Ehrung als "Gerechter unter den Völkern" nachvollziehbar macht.


Anmerkungen:

[1] Siehe hierzu jüngst zusammenfassend Frits Boterman: Duitse daders. De jodenvervolging en de nazificatie van Nederland (1940-1945), Amsterdam / Antwerpen 2015.

[2] Mathias Middelberg: Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer in den besetzten Niederlanden 1940-1945, Göttingen 2005.

[3] Interview von Wolfgang Büscher mit Mathias Middelberg, in: Die Welt vom 15. April 2015, URL: http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article139558215/Auf-einmal-hatten-ganz-viele-Juden-arische-Vaeter.html [Zugriff: 30. April 2016].

Johannes Koll