Rezension über:

Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer (Hgg.): Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 315 S., ISBN 978-3-412-50369-7, EUR 60,00
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Rezension von:
Dieter Langewiesche
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Rezension von: Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer (Hgg.): Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28991.html


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Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer (Hgg.): Vom Vorrücken des Staates in die Fläche

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Es geht in diesem Buch darum, Prozesse der "Verstaatlichung" im Europa des 19. Jahrhunderts zu untersuchen, indem Akteure vor allem der lokalen und regionalen Handlungsebenen in den Mittelpunkt gestellt werden. Was in den Sozialwissenschaften als performing state bezeichnet wird, soll als komplexer Aushandlungsprozess in vier zentralen Leistungsbereichen moderner Staatlichkeit analysiert werden: Ressourcen, Recht, Legitimation und Wohlfahrt. Ziel des Bandes ist es, die Entstehung dieser Staatlichkeit als "Vorrücken des Staates in die Fläche" sichtbar zu machen, konkretisiert "vor allem im Aufbau zunehmend rechtstaatlich gebundener (Leistungs-)Verwaltungen und in Infrastrukturprojekten" (30). Gelungen sei diese neue Form von moderner Staatlichkeit "dort am ehesten, wo Top-down- und Bottom-up-Perspektiven in Einklang zu bringen waren, mit anderen Worten, wo Lokalverwaltungen gemäß den Vorstellungen der Beamtenapparate in den Hauptstädten als Transmissionsriemen in die Provinzen und bis in die Dörfer funktionierten und örtliche Bevölkerungen sich über die Verwaltungen an der Gestaltung der eigenen Belange beteiligen konnten" (23). Auch in "Form des rechtlich gebundenen Protests" (23), nicht aber, so ist zu ergänzen, in Gestalt von gezielten Rechtsbrüchen, seien es Revolutionen oder Proteste außerhalb der Rechtsbahnen. Es geht um Lernprozesse unter allen Beteiligten, um "Professionalisierung der Amtsträger durch das Einfordern von Partizipation" (26), um die Abhängigkeit von Bürokratisierungsverläufen nicht nur von staatlichen Vorgaben, sondern auch von den "gesellschaftlichen Begebenheiten vor Ort" (26). Die ausführliche Einleitung weist dies als "europäisches Strukturphänomen" (27) aus, dessen konkrete Vielfalt und dessen Kontingenz die Beiträge beleuchten sollen.

Dieses Programm, das Ganzenmüller und Tönsmeyer entwerfen, wird eingelöst. Geboten wird kein systematischer Zugriff auf die vier Leistungsbereiche moderner Staatlichkeit, wohl aber analysieren je fünf Studien das "administrative Vorrücken in die Fläche" und die "infrastrukturelle Durchdringung und Stadtentwicklung" (so die Kapitelüberschriften). In den abschließenden zwei Beiträgen unter dem Titel "Kulturelle Legitimationsangebote" vermag ich den Bezug zum Leitthema nicht zu sehen, denn hier geht es darum, wie sich der italienische Adel in den Städten kulturell inszenierte, um seinen Status zu behaupten (Gabriele B. Clemens), und um die Staatsvorstellungen der russischen Großfürstin Maria Pavlovna als Ehefrau des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach (Raphael Utz).

Geboten wird ein breites europäisches Panorama. Vier Beiträge beziehen sich auf Russland und seine europäischen Peripherien. Malte Rolf analysiert, wie die zarische Verwaltung im Königreich Polen Kooperationsmöglichkeiten suchte, die aber begrenzt blieben, während Christoph Augustynowicz die Akteure untersucht, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an der Raumnutzung in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz beteiligt waren. Felix Heinert erläutert, wer um 1900 an den "Aushandlungen des Schlachtzwangs" in Riga beteiligt war und wie die städtischen Akteure ihre Interessen gesamtstaatlich zu legitimieren suchten. Eindrucksvoll führt Werner Benecke vor Augen, welche gesellschaftlichen Aufgaben die russische Armee bei der Alphabetisierung und Hygienisierung der Rekruten seit der Wehrpflichtreform von 1874 erfüllte und welche Bedeutung den Auswahlverfahren zukam, die so angelegt waren, dass die dörflichen Gemeinschaften und die Familien erhebliche Mitwirkungsmöglichkeiten erhielten. Der Staat bekam zwar vornehmlich diejenigen jungen Männer, die als entbehrlich galten, doch das Verfahren sicherte die "zivile Sozialverträglichkeit" (69) und da es öffentlich war, wurde es als gerecht akzeptiert.

Nicole Immig betrachtet einen bislang kaum erforschten Bereich: Wie in den Gebieten, die der griechische Staat 1881 durch den Vertrag von Konstantinopel zugesprochen erhielt, versucht wurde, die nichtchristliche Bevölkerung - ca. zehn Prozent, überwiegend Muslime - staatlich zu integrieren. Dass es nicht gelang - nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1897 verließen die meisten Muslime die Region - lag wohl vornehmlich an der Unfähigkeit der griechischen Staatsbehörden, den muslimischen Neubürgern das zu bieten, was Regierung und Monarch versprochen hatten. Ganz anders verliefen "die Prozesse der Durchstaatlichung und der Ausweitung der Staatstätigkeit auf kommunaler Ebene" (129) in drei Landgemeinden Frankreichs und Luxemburgs, die Norbert Franz untersucht. Hauptakteure waren die Bürgermeister in ihrer Doppelrollte als Vertreter des Staates und zugleich der lokalen Gesellschaft. In Spanien wirkten die Provinzgouverneure und die Gemeindesekretäre als Schaltstellen zwischen Staat und Gemeinde. Hier dominierte die "Institution des caciquismo" (132), wie das System von Patronage und Klientelismus genannt wird, die Entwicklung (Hedwig Herold-Schmidt). Schließlich runden drei Beiträge zum preußischen Pommern, zur Habsburgermonarchie und zu England die europäische Perspektive des Bandes ab. Es geht jeweils um Infrastrukturpolitik, welche die Herausgeber als die Wohlfahrtsdimension des 19. Jahrhunderts bezeichnen. Dirk Mellies verfolgt am Chaussee- und Eisenbahnbau die Probleme zwischen Zentrum und Provinz, einen geeigneten Modus zu finden. Er bestand in der zunehmenden Dezentralisierung der Prozesse. Weitaus komplexer verlief die Abstimmung zwischen Peripherie und Region im imperialen "politischen Mehrebenensystem" (194) der Habsburgermonarchie. Auch hier war, so Jana Osterkamp am Beispiel der Meliorationen, der "Steuerungsmodus [...] die Dezentralisation" (195). Sie beurteilt diese Infrastrukturpolitik als ineffektiv. Aber woran will man dies messen? Ein europäisches Normalmaß gab es nicht. Die Analyse des "Nineteenth-century English Local Government" durch Christopher Hamlin zeigt eindringlich, wie verschlungen die Wege waren, auf denen die vielfältigen Institutionen des Local Governement als "the composites of centuries of statutes and customary practices, of uncoordinated evolution" (201) verändert wurden.

"Das Vorrücken von Staaten in die (nichtkoloniale) Fläche im 19. Jahrhundert" - ein "europäisches Strukturphänomen", so die Herausgeber (27). Allerdings ein außerordentlich vielfältiges. Der Band lässt erkennen, wie anspruchsvoll systematische Erkundungen angelegt werden müssen, um zu vergleichenden Aussagen zu kommen.

Dieter Langewiesche