Rezension über:

Frank Ahland: Bürger und Gewerkschafter Ludwig Rosenberg 1903 bis 1977. Eine Biografie (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen; Bd. 61), Essen: Klartext 2016, 514 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-8375-1611-1, EUR 39,95
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Rezension von:
Sebastian Voigt
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Voigt: Rezension von: Frank Ahland: Bürger und Gewerkschafter Ludwig Rosenberg 1903 bis 1977. Eine Biografie, Essen: Klartext 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/12/29021.html


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Frank Ahland: Bürger und Gewerkschafter Ludwig Rosenberg 1903 bis 1977

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Bedarf es wirklich noch weiterer Biografien von Gewerkschaftsfunktionären? Aus gutem Grund hat die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in ihrer Förderpolitik seit einigen Jahren die sozio-ökonomischen Veränderungen der 1970er Jahre in den Fokus genommen. Nichtsdestoweniger stellen fehlende Biografien einiger Gewerkschafter, wie etwa die des ehemaligen IG Chemie Vorsitzenden Hermann Rappe, Forschungsdesiderate dar, die eine Perspektivenerweiterung auf die Geschichte der Bundesrepublik böten. Wie derartige Biografien aussehen könnten, demonstriert die Studie von Frank Ahland über Ludwig Rosenberg - von 1962 bis 1969 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Das Buch basiert auf umfangreichen Archivrecherchen und gliedert sich den lebensgeschichtlichen Zäsuren folgend in sieben Kapitel. Diese individuellen Einschnitte kongruieren jeweils mit politischen Brüchen, sodass dem Autor eine kluge Verschränkung von Biografie mit der Geschichte der deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung gelingt. Den Anspruch, weder eine reine Lebensbeschreibung noch eine bloße Organisationsgeschichte vorzulegen, formuliert Ahland im einleitenden Kapitel. Ihm gehe es darum, die Handlungsspielräume der Gewerkschaften, ihre interne Entwicklung wie auch ihre Außenbeziehungen im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung darzulegen. Für dieses Vorhaben eignet sich Rosenberg, gerade weil er sich von den klassischen Gewerkschaftsfunktionären unterschied.

Er kam 1903 in Berlin in einer assimilierten Familie des jüdischen Bürgertums zur Welt. Nach dem Tod des Vaters 1924 verließ Rosenberg das Gymnasium und übernahm das Tuchgeschäft. Er genoss die kulturelle Liberalität der "Roaring Twenties". Rosenberg erfuhr aber immer wieder auch antisemitische Anfeindungen. Den Aufschwung nationalistischer Bewegungen beobachtete er mit Sorge. Obwohl er sich intensiv mit Texten von Karl Marx befasst hatte, stand er dem Kommunismus als Bewegung distanziert gegenüber, da die dogmatische Radikalität seiner politischen Grundhaltung widersprach. Zur Verteidigung der Weimarer Republik und zur Abwehr der rechten Gefahr schloss er sich dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold an und wurde Mitglied der SPD.

Außerdem trat er dem liberalen Gewerkschaftsbund der Angestellten (GdA) bei, wo er 1928 die erste Stelle bekam. Für diese Entscheidung zugunsten eines "gelben" Verbandes musste er sich oft im DGB rechtfertigen. Der junge Rosenberg brachte es schnell bis zum stellvertretenden Bezirksgeschäftsführer. Angesichts des Aufstiegs der NSDAP hoffte die GdA-Führung vergeblich, durch eine opportunistische Politik die Organisation zu retten. Rosenberg wurde als Jude entlassen und entschloss sich Mitte 1933 aus "Angst um Leib und Leben" (44) zur Flucht.

In England betätigte er sich im Umfeld anderer exilierter Gewerkschaftler. Darüber hinaus beteiligte er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten an den alliierten Kriegsanstrengungen. So war Rosenberg u.a. der Sprecher der BBC Sendung "Arbeiterstunde". Außerdem arbeitete er bis Ende 1945 als Berater der amerikanischen Regierung für Gewerkschaftsfragen und stand mit dem Geheimdienst "Office of Strategic Services" in Kontakt. Viele exilierte Gewerkschafter hofften, dass sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung am Aufbau einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft beteiligen würde; eine Einschätzung, die bald durch die Realität widerlegt wurde. Dennoch übernahm er 1946 das gewerkschaftliche Zonensekretariat in Bielefeld. Bald leitete er den wirtschaftspolitischen Hauptausschuss des Gewerkschaftsrates der Bi-Zone. Im 1949 neugegründeten DGB wurde ihm schließlich die Leitung der für das "Ausland" zuständigen Hauptabteilung II übertragen.

Nach dem 4. DGB-Bundeskongress 1954 übernahm Rosenberg die Abteilung Wirtschaftspolitik im geschäftsführenden Bundesvorstand. Er vertrat eine moderate Gegenposition zum Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts, Victor Agartz, dessen Konzept der expansiven Lohnpolitik einen konfrontativen Kurs vorsah. Sein Rücktritt kurz darauf wurde häufig Rosenberg angelastet, wofür es laut Ahland allerdings keine klaren Beweise gäbe. Die zweite Hälfte der 1950er Jahre war geprägt von den ersten Annäherungen auf europäischer Ebene. Rosenberg befürwortete dezidiert die Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft und erhoffte sich davon eine grundlegende Demokratisierung. Den Gewerkschaften sollte dabei eine wichtige Rolle zukommen.

Nachdem das Gründungsprogramm des DGB und das Aktionsprogramm von 1955 noch Forderungen nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel enthalten hatte, erkannte das neue Düsseldorfer Grundsatzprogramm 1963 die soziale Marktwirtschaft an. Bei dieser programmatischen Wendung stellten der Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner, und Ludwig Rosenberg die beiden Antipoden dar. Ahland formuliert diese Konstellation wie folgt: "War Otto Brenner die treibende Kraft hinter dem Aktionsprogramm, so war Rosenberg der Initiator des neuen Programmes, das 1963 schließlich verabschiedet werden konnte." (201) Das neue Programm gilt gemeinhin als gewerkschaftliches Pendant zum Godesberger Programm der SPD. Kurz vor der Verabschiedung war Rosenberg auf dem 6. Ordentlichen DGB-Bundeskongress zum Vorsitzenden gewählt worden.

Ahland beleuchtet außerdem weitere Aspekte, die Rosenbergs Entwicklung beeinflussten. So hatte der DGB als erste Massenorganisation in der Bundesrepublik mit Rosenberg einen Juden an seine Spitze gewählt. Diese Entscheidung kommentierte seinerzeit die New York Times: "West Germans Elect Jew To Head Trade Unions" (239). Die Herkunft spielte für Rosenberg keine herausgehobene Rolle, jedoch war sie in der Öffentlichkeit ein offenes Geheimnis. Antisemiten diffamierten deshalb den DGB als "jüdischen Laden". Rosenberg erhielt vielfach persönliche Anfeindungen, auch von Gewerkschaftsmitgliedern. Er war nie Mitglied der jüdischen Gemeinde, setzte sich aber für die christlich-jüdische Aussöhnung und das Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen ein. Frühzeitig organisierte der DGB Austauschprogramme mit der israelischen Gewerkschaft "Histadrut" und sprach sich Anfang der 1960er Jahre für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen aus. Die lancierte Unterschriftenaktion stieß jedoch selbst in der eigenen Klientel auf wenig Begeisterung. Doch Rosenberg musste nicht nur die Angriffe von Judenfeinden erdulden, auch das DDR-Regime kritisierte ihn. In einer ins Antisemitische abgleitenden Formulierung titulierte die Ost-Berliner BZ ihn 1954 als einen "Wallstreet-Agenten und Kriegshetzer." (245) In der in den 1960er Jahren heftig geführten Debatte über die Notstandsgesetze nahm Rosenberg eine vermittelnde Position ein. Er sprach sich aber gegen die Beteiligung des DGB an den außerparlamentarischen Protestaktionen aus, wofür er einmal mehr vom linken Flügel kritisiert wurde.

Auf dem Gewerkschaftstag 1969 wurde Ludwig Rosenberg dann von Heinz Oskar Vetter als Vorsitzender abgelöst. Danach engagierte er sich weiter für die europäische Einigung und verfolgte die Politik der neu gewählten sozialliberalen Regierung mit großer Aufmerksamkeit. Am 23. Oktober 1977 starb Rosenberg nach einem Herzinfarkt.

Im abschließenden Kapitel wirft Ahland die Frage auf, was von Ludwig Rosenberg bleibt. Er habe sich immer für eine grundlegende Demokratisierung eingesetzt. Dieses Ansinnen setze die Demokratisierung wirtschaftlicher Strukturen voraus. Deshalb nahm der Mitbestimmungsgedanke einen zentralen Platz in seinem Denken ein. Außerdem unterstützte er die europäische Einigung auf vielfältige Weise. Zugleich verschloss er nicht die Augen vor den restaurativen Tendenzen und der Rückkehr ehemaliger Nationalsozialisten. Insofern symbolisiere Rosenberg gewissermaßen eine Kritik an einer verklärenden Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Ahland verweigert sich der aus seiner Sicht vereinfachenden Interpretation, Rosenberg als "Westernisierer" zu begreifen. Stattdessen betont er das Fortwirken von Traditionen der sogenannten "Weimarianer": "Doch auch wenn diese, zum Teil bürgerlich-jüdische Denktradition noch so klein und zudem durch die Nazis noch dezimiert worden war, so nahm sie doch Einfluss auf die Geschehnisse der 1950er und 1960er Jahre." (409)

Mit der Biografie hat Frank Ahland einen wichtigen Schritt getan, um Ludwig Rosenberg dem Vergessen zu entreißen. Das Buch entwirft ein facettenreiches Panorama eines bewegten Lebens. Insofern stellt es sowohl einen profunden Beitrag zur bundesrepublikanischen Gewerkschaftsgeschichte dar und ist doch zugleich mehr. Die Außenseiterrolle Rosenbergs in der deutschen Arbeiterbewegung, als ein Jude aus bürgerlichen Verhältnissen, der nach Großbritannien ins Exil gezwungen worden war, eröffnet eine Erkenntnisperspektive auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts weit über die des DGB hinaus.

Sebastian Voigt