Rezension über:

Matthias Braun / Bernd Florath (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1981. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 320 S., eine CD-ROM, 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-37505-1, EUR 30,00
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Rezension von:
Andreas Malycha
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Malycha: Rezension von: Matthias Braun / Bernd Florath (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1981. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/28282.html


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Matthias Braun / Bernd Florath (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1981

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Die von Matthias Braun und Bernd Florath bearbeiteten geheimen Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) an die SED-Führung aus dem Jahre 1981 eröffnen aufschlussreiche Einblicke in die gesellschaftspolitischen Spannungsfelder zu Beginn der 1980er Jahre, die wesentlich zur schleichenden Erosion der SED-Herrschaft beigetragen und schließlich zu deren Ende geführt haben. Neben dem Erstarken der politischen Opposition im polnischen Nachbarland (Solidarność), die auf die DDR ausstrahlte, entwickelten sich die negativen Reaktionen in der Bevölkerung auf die nicht eingelösten materiellen Versprechungen der Honecker-Führung zu einer Bedrohung des Herrschaftsanspruchs der Staatspartei. Denn Anfang der 1980er Jahre war das Wirtschafts- und Sozialprogramm der SED praktisch gescheitert. Stagnierendes Wirtschaftswachstum, steigende Ausgaben für die sozialen Wohltaten sowie eine erhebliche Verteuerung und Kürzung der lebensnotwendigen Erdöllieferungen aus der Sowjetunion, die ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen konnte, verursachten eine ernste Wirtschafts- und Versorgungskrise. Negative außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen (Anstieg der Rohstoffpreise), vor allem aber volkswirtschaftliche Missstände und die Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft führten zu einem wirtschaftlichen Verfall und zu drohender Zahlungsunfähigkeit gegenüber westlichen Gläubigern, so dass die DDR schließlich in ihre finale Existenzkrise stürzte.

Der Umstand, dass nicht nur unter den führenden SED-Wirtschaftsfunktionären, sondern auch in der für die Wirtschaft zuständigen Hauptabteilung (HA XVIII) des MfS seit Anfang der 1980 Jahre die Furcht vor dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR wuchs, spiegelt sich in den Berichten allerdings kaum wider. Braun und Florath weisen in ihrer Einleitung daher zu Recht darauf hin, dass alle Berichtsreihen des Jahrgangs 1981 von den üblichen Mustern parteilicher Berichterstattung keineswegs abweichen. Was die ZAIG über bestimmte aktuelle Probleme in Politik, Wirtschaft, Ökonomie und Gesellschaft an ausgewählte Führungsmitglieder übersandte, hatte aufgrund der Selbstzensur ihrer Verfasser keinen seismografischen Charakter. Denn eine zusammenfassende Analyse der grundlegenden Ursachen für die auftretenden Missstände, zu der das MfS aufgrund der vielen Detailinformationen von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Kontaktpersonen (KP) durchaus in der Lage gewesen wäre, legte es dem Politbüro nicht vor. Stattdessen beschränkte es sich auf Informationen über Havarien in den volkseigenen Betrieben, angebliches Fehlverhalten staatlicher Leiter und darauf, vermeintliche feindliche Einflüsse von außen für die beschriebenen Missstände verantwortlich zu machen. Die wirklich brisanten Lageeinschätzungen und Analysen blieben unter Verschluss und der internen Auswertung des MfS vorbehalten. Zudem behielt sich Minister Mielke vor, einige Berichte dem Generalsekretär lediglich mündlich zu übermitteln. Die an Honecker persönlich weitergeleiteten Stimmungsberichte der ZAIG belegen, dass Mielke selbst dem SED-Generalsekretär brisante Informationen über die Versorgungslage und die Bevölkerungsstimmung nicht zumuten wollte.

Für die Interpretation der Dokumente sind die in der Einleitung aufgelisteten Adressaten der Berichte außerordentlich hilfreich. In der Regel erhielten Politbüromitglieder, aber auch Regierungsvertreter nur jene Informationen, die ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich zugeordnet werden konnten. Die meisten Informationen erhielt Herta König, Abteilungsleiterin im Ministerium der Finanzen. Diese Berichte beinhalten ausschließlich wöchentliche Statistiken aus dem sogenannten Mindestumtausch bei Einreisen westdeutscher Besucher in die DDR bzw. nach Ost-Berlin. Das lässt darauf schließen, dass auch das MfS den Deviseneinnahmen angesichts der nicht mehr beherrschbaren Verschuldung gegenüber dem westlichen Ausland besonderes Augenmerk widmete. SED-Chef Honecker rangiert bei den ZAIG-Informationen an zweiter Stelle; viele davon durch Mielke mündlich übermittelt. Auch Paul Verner, ZK-Sekretär für Kirchenfragen, liegt quantitativ weit vorn. Die vergleichsweise große Zahl von Berichten zum Thema Kirche spiegelt nicht nur die innerkirchlichen Auseinandersetzungen, sondern auch die wachsenden Spannungen im Verhältnis zwischen Staat und evangelischer Kirche wider, die im Ergebnis der zunehmenden Militarisierung der DDR-Gesellschaft entstanden waren. Die sich unter dem Dach der Kirche herausbildende christlich motivierte Friedensbewegung wertete das MfS als Basis "einer sich früher oder später organisierenden Untergrundbewegung der DDR" (14), die das MfS künftig effektiver bekämpfen wollte. Diese Informationen sind mehr als alle anderen vom ideologischen Feindbild des MfS geprägt, was auch auf die Einschätzungen zu kritischen Intellektuellen zutrifft, die das MfS als Störenfriede bei der Umsetzung der Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftspolitik der SED hinstellte.

Darüber hinaus veranschaulichen insbesondere die Berichte zur instabilen Versorgungslage und - damit zusammenhängend - zur Stimmung der Bevölkerung die tendenziöse Informationspolitik des MfS. Da die aus den Bezirksdienststellen des MfS und den Hauptabteilungen der Zentrale kommenden Informationen mehrere Filter durchliefen, in denen allzu brisantes Material abgeschwächt oder gänzlich herausgenommen wurde, vermitteln die in der ZAIG zusammengefassten Informationen für die Führungsmitglieder nur einen stark geschönten Eindruck von den ursprünglichen internen Lageeinschätzungen des MfS. Bei der Interpretation der Dokumente sollte deshalb stets berücksichtigt werden, dass in den MfS-Berichten die angeführten kritischen Haltungen zur SED-Politik in der Regel als Minderheitsmeinungen bzw. Einzelmeinungen präsentiert wurden. Bei sensiblen Themen, die politische Stimmungen und somit die Legitimation der SED-Herrschaft berührten, so beispielsweise in den Berichten über Reaktionen aus der Bevölkerung zur Situation in Polen, wurde nur die halbe Wahrheit übermittelt und tendenziös berichtet.

Auf alle Themenfelder der ZAIG-Berichte des Jahres 1981 kann hier nicht eingegangen werden. Den Herausgebern ist in ihrer Einschätzung zuzustimmen, dass sich in den Dokumenten trotz der Selbstzensur und der "ideologisch bedingten Wahrnehmungsverzerrungen der Staatssicherheit" (7) grundlegende Problemlagen von Gesellschaft, Politik und Ökonomie offenbaren. Insgesamt geben die dokumentierten ZAIG-Berichte aufschlussreiche Hinweise auf das Stimmungsbild in der DDR; sie stellen somit eine wichtige zeithistorische Quelle dar. Obgleich der spezifische Blickwinkel des MfS die geschilderten Vorgänge deutlich verzerrt, liefern die in diesem Band vorgestellten Informationsberichte wertvolle Orientierungen für eine umfassende Rekonstruktion von Bevölkerungsstimmungen.

Andreas Malycha