Rezension über:

Sylvia Köchl: »Das Bedürfnis nach gerechter Sühne«. Wege von »Berufsverbrecherinnen« in das Konzentrationslager Ravensbrück , Wien: Mandelbaum 2016, 340 S., ISBN 978-3-85476-507-3, EUR 24,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Frank Nonnenmacher
Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Frank Nonnenmacher: Rezension von: Sylvia Köchl: »Das Bedürfnis nach gerechter Sühne«. Wege von »Berufsverbrecherinnen« in das Konzentrationslager Ravensbrück , Wien: Mandelbaum 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 4 [15.04.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/04/29913.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sylvia Köchl: »Das Bedürfnis nach gerechter Sühne«

Textgröße: A A A

Seit über 70 Jahren gibt es ein anhaltendes Schweigen über eine Opfergruppe der nationalsozialistischen Verfolgung: die "Vorbeugungshäftlinge". So wurden im NS-System Frauen und Männer bezeichnet, die z.B. wegen wiederholten Diebstahls, Einbruchs, (damals strafbarer) Bettelei, Zuhälterei, Verstoßes gegen Meldegesetze, oder Hilfe bei Abtreibung zu Gefängnis verurteilt waren. Nach der Verbüßung ihrer jeweiligen Haftstrafen hätten diese Menschen - wenn es rechtsstaatlich zugegangen wäre - in Freiheit gelangen und eine Chance, ja sogar Unterstützung dabei erhalten müssen, in einem Leben ohne Straftaten gesellschaftlich wieder Fuß zu fassen. Im NS-Staat jedoch konnte jeder Kleinkriminelle, der drei Mal zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt war, am Tag seiner Entlassung aus dem Gefängnis, also nach vollständig verbüßter Haft, von der KriPo oder GeStaPo wieder festgenommen und nach kurzer Polizeihaft ohne weiteres Verfahren in ein Konzentrationslager eingeliefert werden. Diese Menschen wurden dort als "Berufsverbrecher" bezeichnet und mit einem grünen Stoffdreieck ("Winkel") gekennzeichnet, das an die linke Brustseite der Häftlingskleidung genäht wurde. Gemäß der NS-Ideologie gab es Menschen, die genetisch so "veranlagt" waren, dass es in ihrer Natur lag, Verbrechen zu begehen, so dass ein gesunder "Volkskörper" sich von diesen Menschen befreien musste. Sie wurden als "Ballastexistenzen" betrachtet, die "ausgemerzt" und in den Konzentrationslagern "durch Arbeit vernichtet" werden sollten. In zehntausenden von Fällen ist dies in den von der SS verwalteten KZ auch gelungen.

Die Diskriminierung der "Grünwinkligen" hielt nach 1945 an. Sie bildeten keine organisierte Opfergruppe und erhielten keine Entschädigung - sie beantragten diese zumeist nicht einmal. Sie hinterließen auch keine Selbstzeugnisse, sie schwiegen meist auch innerhalb der Familie über ihr Schicksal. Die Gesellschaft ignorierte sie, und die Forschung hatte jahrzehntelang kein Interesse an dieser Häftlingsgruppe; es gab nicht einmal den Versuch, Zeitzeugnisse zu sichern. Die Vorstellung, diese Menschen seien "zu Recht" im KZ gewesen, ist bis heute gar nicht so selten anzutreffen.

Erst im Jahre 2016 erschienen zwei größere wissenschaftliche Studien zu den Häftlingen mit dem grünen Winkel. Dagmar Lieske untersuchte in ihrer Arbeit "Unbequeme Opfer?" die "'Berufsverbrecher' als Häftlinge in Sachsenhausen". Wenig später erschien die hier besprochene Arbeit von Sylvia Köchl, deren Interesse dem Schicksal österreichischer KZ-Insassinnen mit dem grünen Winkel gilt.

Wie negativ sich die jahrzehntelange Forschungsabstinenz auf die Forschungsvoraussetzungen und die Datenlage auswirkt, beschreibt Sylvia Köchl gleich zu Anfang. Sie fand niemanden mehr, den sie hätte befragen können: "Es sollte keinem unserer Projekte gelingen, eine Ravensbrück-Überlebende zu kontaktieren und zu interviewen, die als 'Berufsverbrecherin' mit dem grünen Winkel inhaftiert gewesen war." (14/15)

Sylvia Köchl fand schließlich die Namen von mindestens 42 österreichischen Grünwinkel-Frauen, von denen nachweislich elf im KZ ermordet wurden; bei 22 Frauen bleibt bis heute unklar, ob sie überlebt haben oder nicht, "nur neun Frauen überlebten nachweislich. Aber keine von diesen lebte noch zum Zeitpunkt des Beginns meiner Recherchen." (26) Ohne authentische biographische Quellen war Sylvia Köchel fast ausschließlich auf polizeiliche Haftbücher, Dokumente aus den Gedenkstätten und die Gerichtsakten angewiesen, um die Lebensgeschichten der österreichischen "Berufsverbrecherinnen" zu rekonstruieren. Immerhin ergibt diese Datengrundlage, dass sie die Lebensgeschichten von acht Frauen gut belegen kann. Sie alle hatten mehrere Vorstrafen entweder wegen Bettelei, Veruntreuung oder Diebstahl (meist geringe Geldbeträge, Kleidung oder Lebensmittel) oder wegen an anderen Frauen vorgenommenen Abtreibungen.

Auffallend sind in den beschriebenen Fällen die sich ähnelnden sozialen Hintergründe (81ff): Die Frauen kommen aus krisenhaften Familien, sind außereheliche oder von den Eltern ignorierte Kinder, haben eine geringe Schulbildung bis hin zum faktischen Analphabetismus, sind Produkt einer frühen Schwangerschaft, haben selbst Abtreibungserfahrungen, leben in katastrophalen Wohnverhältnissen; Armut, Krankheiten und Alkoholismus sind verbreitet. Kinderarbeit ist die Regel, kriminelle "Karrieren" beginnen früh mit der als Überlebensstrategie notwendig erscheinenden Selbstverständlichkeit des Stehlens. Nach Verbüßung ihrer Haftstrafen kamen sie als Grünwinklige in das Frauen-KZ Ravensbrück.

Vier von ihnen (Anna Schatz, Therese Pimsel, Rosina Schmidinger und Marie Berger) überlebten das Lager nicht. Kreszenz Kalt und Margarethe Tomaselli waren nach Verbüßung von Haftstrafen wegen Diebstählen und Betrügereien als "Berufsverbrecherinnen" ins KZ deportiert worden. Sie überlebten. Ihre Spuren verloren sich; bis 2016 hat sich niemand für ihr Schicksal interessiert.

Gut belegt ist das Schicksal zweier weiterer Frauen: Johanna Manz wurde von der SS zur Blockältesten im sogenannten "Zigeunerblock" gemacht, wo sie die von der SS in sie gesetzten Erwartungen von systematischer Härte gegenüber den Mithäftlingen bis hin zu Prügeln und Demütigungen voll erfüllte. Sie wurde nach der Befreiung vom Volksgericht Wien zu einer mehrjährigen Haftstrafe nach dem "Kriegsverbrechergesetz" verurteilt. (282) Johanna Manz kann als Beispiel zur Bestätigung eines Vorurteils gelten, das in vielen Nebensätzen in Berichten von politischen KZ-Häftlingen (die den roten Winkel getragen hatten) über die "Grünen" aufscheint: Sie seien Helfershelfer und Handlanger der SS gewesen, sie seien selbst zu Tätern geworden. Wesentlich zu diesem pauschalen Verdikt beigetragen hat leider der an sich untadelige Eugen Kogon, der in seinem Standardwerk "Der SS-Staat" an einer Stelle die Denkweise der Nazis aufnahm und zu den "Grünen" anmerkte, "dass die Zahl derer unter ihnen, die weder verbrecherisch veranlagt waren noch wirklich schwere Strafen hinter sich hatten, kaum ins Gewicht fiel". [1] Richtig ist: Im zynischen System der Häftlingsselbstverwaltung wurden Häftlingen von der SS Funktionen zugewiesen, in welchen sie begrenzte Macht über Mithäftlinge hatten. Schon wer als Blockältester, Sanitäter oder Essenzuteiler eingesetzt war, hatte eine solche Macht und er konnte (und sollte) sie willkürlich einsetzen. Von diesem System delegierter Macht ließen sich nicht nur "grüne", sondern auch Häftlinge anderer Winkelfarben, also auch politische Häftlinge mit dem roten Winkel korrumpieren, wie bereits Lutz Niethammer 1994 belegte. [2] Wo KZ-Häftlinge die ihnen von der SS übertragene Funktion zur Willkür missbraucht haben, war dies nach dem Ende der NS-Herrschaft rechtlich zu würdigen, gerichtlich zu verfolgen und moralisch zu verurteilen. Aus diesem Grund gab es Strafverfahren gegen ehemalige Häftlinge, die zum Teil in lange Freiheitsstrafen, sogar Todesstrafen mündeten. Aber, und dies gilt es anzuerkennen: Wer den Verlockungen der von der SS verliehenen Machtposition nicht widerstehen konnte, konnte in diese Situation nur geraten, weil er auf Grund der Willkürherrschaft widerrechtlich im KZ war.

Ein Gegenbeispiel zu Johanna Manz ist die "grüne" Block- und spätere Lagerälteste Marianne Scharinger, die nach ihrer Strafhaft für sechs Jahre ins KZ gesperrt wurde. Nach der Befreiung wurde sie denunziert, kam in Haft und es gab auch bei ihr ein Verfahren vor dem Volksgericht Linz wegen angeblicher Gewalthandlungen gegen Mithäftlinge. Zahlreiche Zeuginnen, vor allem deutsche und österreichische Widerstandskämpferinnen, bezeichneten Marianne Scharinger als "die beste Lagerälteste, die das Lager Ravensbrück besessen hat", dass sie "sehr gerecht" war, dass sie illegale Zusammenkünfte von holländischen Widerstandskämpferinnen gedeckt und den "politischen Abwehrkampf im Lager voll und mit ganzer Kraft gegen das Regime unterstützt hat". (213-217) Die Staatsanwaltschaft bezeichnete die Denunziantin als "notorische Lügnerin" (263) und das Verfahren wurde schließlich eingestellt. Obwohl hiermit sogar juristisch bewiesen wurde, dass Marianne Scharinger sich im Lager nicht nur nichts hat zuschulden kommen lassen und sie vielmehr ein Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsstaates war, ja sogar, dass sie den Widerstand aktiv unterstützt hatte, wurde ihr eine Anerkennung nie zuteil. Im Gegenteil: Ihr Sohn Bastian wurde nach Angaben der Welser Polizei als Polizeianwärter "auf Grund der Vorstrafen seiner Mutter" (265) entlassen.

Sylvia Köchl hat (ebenso wie Dagmar Lieske) mit ihren Forschungen dazu beigetragen, dass das jahrzehntelange Beschweigen dieser Opfergruppe ein Ende hat und man nunmehr die längst überfällige Diskussion über die moralische Anerkennung führen muss. Dafür ist ihr aus erinnerungspolitischer Sicht höchste Anerkennung zu zollen.

In der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich sind die ehemaligen Häftlinge mit dem grünen Winkel bis heute nicht als Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes anerkannt, da sie nicht aus politischen, rassischen, weltanschaulichen oder religiösen Gründen verfolgt worden seien. Sylvia Köchl stellt resümierend fest: "Dabei wäre es doch ganz einfach: Menschen, die wegen Verbrechen oder Vergehen strafgerichtlich verurteilt wurden und ihre Gefängnisstrafen zur Gänze abgebüßt hatten, wurden anschließend auf Betreiben der Kriminalpolizei als 'Vorbeugungshäftlinge' in KZs interniert, um die 'Volksgemeinschaft' von diesen 'Gemeinschaftsfremden' und 'Volksschädlingen' zu schützen. Das ist typisch nationalsozialistisches Unrecht." (305)

Der Rezensent hat im Juli 2016 Dr. Norbert Lammert, den Vorsitzenden des Kuratoriums der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, gebeten, dass sich das Gremium mit der Opfergruppe der "Schwarzen" und "Grünen" befasst und Konsequenzen aus den inzwischen vorgelegten Forschungsergebnissen zieht. In der Satzung heißt es: "Zweck der Stiftung ist die Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas. Die Stiftung trägt dazu bei, die Erinnerung an alle [!] Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen." Der Appell hat jetzt dazu geführt, dass der Beirat der Stiftung am 12. Dezember 2016 die Problematik der bis heute ausgebliebenen Anerkennung intensiv diskutiert hat. Ergebnis ist ein Aufruf, wonach sich - im ersten Schritt - der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages mit der Problematik befassen möge. Eine interfraktionelle Vereinbarung des Deutschen Bundestages könnte folgen. Das wäre eine Geste, die für eine angemessene Erinnerungskultur auch nach über 70 Jahren nicht zu spät käme. Ob alle Fraktionen des Bundestages dazu bereit sein werden, wird zu verfolgen sein.


Anmerkungen:

[1] Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974 [1. Auflage 1946], 68.

[2] Lutz Niethammer (Hg.): Der "gesäuberte" Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, Berlin 1994.

Frank Nonnenmacher