Rezension über:

Anette Baumann / Joachim Kemper (Hgg.): Speyer als Hauptstadt des Reiches. Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 20), Berlin: de Gruyter 2016, VII + 248 S., 9 Farb-, 7 s/w-Abb, ISBN 978-3-11-049981-0, EUR 59,95
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Rezension von:
Sven Düwel
Fürstenwalde
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Sven Düwel: Rezension von: Anette Baumann / Joachim Kemper (Hgg.): Speyer als Hauptstadt des Reiches. Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 4 [15.04.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/04/29999.html


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Anette Baumann / Joachim Kemper (Hgg.): Speyer als Hauptstadt des Reiches

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Der Sammelband beinhaltet 13 Aufsätze, die auf eine im Oktober 2015 in Speyer veranstaltete Tagung zurückgehen. Sie widmen sich den ca. 160 Jahren des Reichskammergerichtes (RKG) [1] in der Reichsstadt Speyer (1527-1689/90), wobei sie auf die dortigen (periodischen) Reichstage (1526/29/42/44/70), das Reichsregiment (1527-1530), den kaiserlichen (ab 1559: Reichs-) Hofrat (insbesondere 1544), die Reichsdeputationen, den administrativen Herrschafts- und Aufenthaltsort der Kaiser, den (symbolischen) Ort der Grablegen alter salischer und habsburgischer Kaiser respektive Könige sowie den permanenten Bischofsitz rekurrieren.

Nach einer luziden Einleitung der beiden Herausgeber - sie prononcieren, dass bis dato Speyer als "zentraler politischer und juristischer Versammlungsort in der Forschung nicht präsent" (3) gewesen sei - behandeln die ersten fünf Aufsätze Speyer als Zentralort des Reiches (Siegrid Westphal, Osnabrück; Gabriele Haug-Moritz, Graz; Eva Ortlieb, Wien; Yves Huybrechts, Marburg sowie Anette Baumann, Gießen und Wetzlar). Die Behauptung "Speyer war das Reich" (3, 24) erscheint dabei zumindest für die 1530er-Jahre durchaus berechtigt, nachdem fast alle Reichsinstitutionen dort versammelt gewesen waren. Zudem war der Zeitraum 1530-1541 stark von Religions- / Reformationsprozessen geprägt gewesen, wenngleich ein "rechtlicher Krieg" gegen die Protestanten nie stattgefunden hatte. Vor allem der Aufsatz von Huybrechts zu den auf dem 1570er-Reichstag geführten Diskussionen hinsichtlich des Burgundischen Reichskreises und den erfolgreich getätigten Versuchen, diesen Reichskreis auch weiterhin in das römisch-deutsche Reich (das Huybrechts fälschlicherweise als eine frühneuzeitliche Europäische Union anzusehen scheint) inkorporiert zu wissen, zeigt beispielhaft die zeitgenössische politische Bedeutung Speyers auf. Schließlich bekam Burgund gleich zwei Assessoren am RKG und eine Teilnahme an Reichsdeputationen zugebilligt, während das RKG selbst in diesem Reichskreis kaum Handlungsspielraum besaß. Dass die RKG-Visitationen in Speyer nach 1555 sehr gut funktionierten, hat zudem Baumann ziseliert. Schließlich hatte das RKG dies erst dem Reichshofrat [2] zu verdanken, aus dessen Reihen die für die Justizaufsicht zuständigen kaiserlichen Kommissare zumeist herstammten, die zugleich am Reichstag fungierten.

Es schließen sich drei Aufsätze an, die Speyer als (ab 1540: evangelische) Reichsstadt behandeln (Joachim Kemper, Frankfurt/Main; Martin Armgart, Koblenz sowie Anja Rasche, Lübeck und Speyer). Vieles erinnert dabei an die Situation in Wetzlar nach der Translokation des RKG (1693-1806), insbesondere was das Zusammenleben der Bürger mit dem RKG-Personal und den katholischen Hochstiften, (Frauen-) Klöstern und Domkapiteln anbelangt. So beweist Rasche erstmals, wo der Sitz des RKG mit den Gebäuden überhaupt verortet werden muss, nachdem Speyer sich zumeist durch ein "Fehlen von baulichen Zeugnissen [von vor 1689] im heutigen Stadtbild" (114) auszeichnet: nicht im, sondern vom Ratshof ausgehend! [3]

Schließlich folgen drei weitere Aufsätze, die sich den Nachbarterritorien von Speyer widmen (Hans Ammerich, Koblenz; Andreas Deutsch, Heidelberg und Alexander Jendorff, Giessen), d.h. das Verhältnis Speyers zu den Katholiken (das Fürstbistum Speyer als kurmainzer Hausdiözese und kurpfälzischer "Satellit", der Stadtklerus in Speyer und die Kraichgauer Ritterschaft), zu den Calvinisten (die Kurpfalz und ab 1605 Hessen-Kassel), zu den Lutheranern (Hessen-Darmstadt und Kursachsen) und zu dem paritätischen Ober- und Kurrheinischen Reichskreis bzw. deren jeweiligen Interaktionen mit dem als Bühne des Konfliktaustrages fungierenden RKG. Das Ende des Sammelbandes bilden zwei Aufsätze, die einen neuen Zugang auf Speyer betreffende Quellenfunde präsentieren (Hans-Helmut Görtz, Freinsheim und Sylvia Kabelitz, Leipzig). So geben exemplarisch die kirchlichen Taufbücher aus Speyer ein beredtes Zeugnis von den Netzwerken des dortigen RKG-Personals ab.

Das 17. Jahrhundert kommt in diesem Sammelband leider etwas zu kurz, was aber nicht verwundern darf. Denn bereits ab 1614 hatte der Niedergang des RKG in Speyer begonnen: infolge des Krieges (1618-1648) mit einhergegangenen Zerstörungen, der Reichshofratsordnung (1654), der eingesetzten zentrifugalen Tendenzen im Reich als Konsequenz der sich geänderten Reichsverfassungswirklichkeit (ab 1648) sowie der systematischen Zerstörung von Speyer durch Brandschatzung und Vertreibung der Bevölkerung durch die Franzosen (1689). Dass der Titel "Speyer als Hauptstadt des Reiches" dahingehend berechtigt scheint, muss also zumindest für das 17. Jahrhundert bezweifelt werden. [4] Gleichwohl belegen die ca. 54.800 Prozessakten bis zum Jahr 1689 eine rege und stete Tätigkeit des RKG in Speyer. [5]

In nuce bleibt zu konstatieren und ohne polemisieren zu wollen, dass ebenso Wien, Regensburg, Frankfurt/Main, Worms, Esslingen, Nürnberg, Augsburg, Wetzlar etc. als Hauptstädte des Reiches angesehen werden müssten, sodass der Sammelband mit der Thematik "Speyer als Hauptstadt des Reiches" den Leser anfangs in die Irre führt. Zudem wird sich wohl auch zukünftig dem RKG eher aus der Institutionen-, Verfahrens- bzw. Prozessaktenperspektive angenähert werden. Ob dabei entscheidend ist, dass das RKG temporär in Speyer ansässig gewesen war, kann wohl bezweifelt werden. Vielmehr steht zu befürchten, dass Speyer auch in Zukunft aus der Perspektive reiner Stadtgeschichte betrachtet werden wird. Gleichwohl sind die Aufsätze des Sammelbandes, wenngleich manche etwas kurz gerieten, nebst einigen qualitätsvollen Farbfotos durchweg sehr gelungen und werden zum weiteren Verständnis des RKG wesentlich beitragen. Der Sammelband ist zudem subtil redigiert. Ein Autorenverzeichnis und ein Register fehlen hingegen. Die kurze Bearbeitungszeit zwischen Tagungszeitpunkt (2015) und Erscheinen des Sammelbandes (2016) kann als positives Beispiel dafür angesehen werden, dass Aufsätze durchaus schnell publiziert vorliegen können, sofern der Wille dafür vorhanden ist.


Anmerkungen:

[1] Zum RKG vgl. die beiden Reihen "Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich" (ab 1973) und "Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung" (ab 1985).

[2] Vgl. Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich; Bd. 33), Wien 1942 [ND 1970].

[3] Zum Zeitfenster 1688/89 hatte der Rezensent zur Thematik der Reichskriegserklärung gegen Frankreich im Jahr 1689 alle Reichsakten im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien sondiert, sodass er von den vielen Beilagen in den Akten weiß, die das RKG in Speyer und dessen Zerstörung betreffen. Er glaubt sich auch noch daran zu erinnern, dass er in diesen Akten einige Zeichnungen von Speyer und dem RKG gesehen hatte.

[4] Themenblock I bezeichnet Speyer als "Zentralort des Reiches", was ebenso wie "juristischer Mittelpunkt des Reiches und Residenz des Rechts" (98) die Sache wohl eher trifft.

[5] Hartmut Harthausen: Das Reichskammergericht in Speyer, in: Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar, 2. Aufl., Wetzlar 1997, 17. Zu Speyer vgl. auch 15-23, 36f. und 52f.

Sven Düwel