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Gudrun Knaus: INVENIT, INCENSIT, IMITAVIT. Die Kupferstiche von Marcantonio Raimondi als Schlüssel zur weltweiten Raffael-Rezeption 1510-1700, Berlin: de Gruyter 2016, XII + 267 S., 108 Farb- u. s/w-Abb., ISBN 978-3-11-034758-6, EUR 79,95
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Rezension von:
Ulrike Keuper
Akademie der Bildenden Künste, München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Ulrike Keuper: Rezension von: Gudrun Knaus: INVENIT, INCENSIT, IMITAVIT. Die Kupferstiche von Marcantonio Raimondi als Schlüssel zur weltweiten Raffael-Rezeption 1510-1700, Berlin: de Gruyter 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 6 [15.06.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/06/29273.html


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Gudrun Knaus: INVENIT, INCENSIT, IMITAVIT

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Was die Publikationsfülle anbetrifft, war 2016 ein ergiebiges Jahr für den Bologneser Kupferstecher Marcantonio Raimondi (um 1480-um 1534). Neben zwei Aufsatzbänden, die eine Ausstellung an der University of Manchester begleiten [1], sind zwei Dissertationen erschienen, die sich mit dem wichtigsten Propagandisten Raffaels im Medium der Druckgrafik befassen. Anne Bloemacher konzentriert sich in ihrer Doktorarbeit auf die Zusammenarbeit zwischen Raffael und Raimondi. [2] Bei Gudrun Knaus steht hingegen das Nachleben der Bildfindungen Raffaels in den Aneignungen und Transformationen durch Künstler der frühen Neuzeit im Zentrum, für die Raimondis Stiche die Basis bereiteten.

Zunächst skizziert Knaus an ausgewählten Blättern die unterschiedlichen Facetten der Zusammenarbeit zwischen Raffael und Raimondi ab 1510 in Rom (27-62). Mal gab Raffael Bildmotive durch genauer ausbuchstabierte modelli vor, mal lagen dem Kupferstecher bloß vage Skizzen vor, die er zu Kompositionen weiterentwickelte. Wurde Raimondi im 19. Jahrhundert noch als passiv-geistloser Vervielfältiger von Raffaels Bildideen verschmäht, so sind heute seine kongeniale Rolle und druckgrafische Meisterschaft längst Gemeinplatz.

Knaus gibt zudem einen Überblick über die Funktionen des Kupferstichs als Studienmaterial während des 16. und 17. Jahrhunderts, in der zeichnerischen Ausbildung (auch von Amateuren) und als Vorlage zur Entwicklung eigener Kompositionen (63-86). Des Weiteren trägt die Autorin Exemplare von Raimondis Druckgrafik zusammen, die Spuren solcher Aneignungen aufweisen, mal in Form von Quadrierungen, mal in Form einer originellen Verwandlung durch Durchpausen: aus der vorderseitigen Figurengruppe des "Bethlemitischen Kindermords" wird so eine liebliche Szene der Mutterliebe (88-97); auch solche Zeichnungen, die das Strichbild der Druckgrafik studieren und dieses augentäuscherisch simulieren, finden Berücksichtigung (97-105).

Im Anschluss an diesen Abschnitt zur zeichnerischen Auseinandersetzung mit der Grafik behandelt Knaus exemplarisch eine Reihe intermedialer Übertragungen einer Kreuzabnahme, für die Raimondi mutmaßlich eine Skizze Raffaels mit einem Kupferstich von oder nach Mantegna verschmolz (105-122). Dabei zeigt sie auf, wie die nachfolgenden Künstler das Motiv sowohl an die Bedingungen des Zielmediums - Druckgrafik, Malerei, Tapisserie - als auch an die Sehgewohnheiten ihres Publikums anpassten. Hier gewinnt der Vergleich zur "Übersetzung" besonders hohe Plausibilität, der in der Forschung zu Reproduktionsgrafik Tradition hat und den Knaus für die Auseinandersetzung mit interkulturellen Bildtransfers stark macht (267).

Neben dem Triptychon eines Antwerpener Meisters (Westfälisches Landesmuseum Münster) und einem Brügger Wandteppich bespricht Knaus auch eine Miniatur, die vermutlich für den Großmogul von Indien oder dessen Sohn angefertigt wurde (um 1598, Victoria & Albert Museum, London) (115-118). Leider bleibt es der einzige in der Studie behandelte Fall, bei dem ein lose auf Raffael zurückgehendes Bildmotiv in einen außereuropäischen Kontext transferiert wird. Mehr solcher Beispiele hätten einer Studie gut angestanden, deren erklärter Horizont - siehe Untertitel - in der "weltweiten" Raffael-Rezeption liegt.

Den Nachahmern der Kreuzabnahme war freilich weniger an dem künstlerischen Dialog mit dem Schöpfer des Originals gelegen, als an der bequemen Übernahme einer ikonografischen Vorlage. Im Hauptteil hält sich Knaus dagegen an "etablierte[n] Künstler[n], die den Wettstreit mit Raffael suchten" (262): an Parmigianino, Anthonis van Dyck, Nicolas Poussin und Rembrandt.

Parmigianino konnte für seine zahlreichen Federzeichnungen nach Raffael teilweise auf die schwer verfügbaren Originalzeichnungen zurückgreifen. Dennoch spielten Druckgrafiken aus dem Umkreis Raffaels eine gewichtigere Rolle. Parmigianinos Studien von Bildkompositionen und Figurengruppen nach Blättern von Ugo da Carpi und Raimondi lassen den Prozess des experimentellen Lernens am Vorlagenmaterial und das Durchdringen und Intensivieren vorgefundener Bildideen sichtbar werden, das den eigenen Bildfindungen vorangeht (123-155).

Van Dycks Studien in seinem während seiner Italienreise entstandenen Skizzenbuch sind dagegen flüchtige Notizen, die der Vergegenwärtigung einzelner Elemente oder ganzer Kompositionen Raffaels dienten (157-172).

Für Poussin wiederum ist Raffael zentrale Referenzfigur, deren Bildschöpfungen in seinem gesamten Schaffen präsent sind. Neben den Originalen in Rom fungierten die Stiche Raimondis und anderer Stecher aus dem Raffael-Umkreis, von denen er hunderte besaß, als Quellenmaterial für seine klassizistische Formensprache (173-208).

Zuletzt wendet sich Knaus Rembrandt zu, dessen Kenntnisse italienischer Kunst vor allem von seiner umfangreichen druckgrafischen Sammlung herreichen. Bei ihm sind nicht nur motivische Übernahmen zu entdecken. Vielmehr vermutet die Autorin auch ein Interesse an der druckgrafisch gestalteten Lichtregie, wie sie in Raimondis "Pest in Phrygien" ein virtuoses Vorbild findet (249-257).

In so gut wie allen Fällen kann man Knaus bei der Identifikation der von Raffael / Raimondi ausgehenden Filiationen problemlos folgen, zumal sie zumeist bereits etablierte Erkenntnisse und Vorschläge referiert. An einer Stelle ist indes Skepsis angebracht, die hier exemplarisch angesprochen werden soll. Über den Vorschlag von Holm Bevers, in Rembrandts Radierung der "Pfannkuchenbäckerin" (1635) verberge sich ein Raffael-Zitat, findet Knaus zur Lektüre der Genreszene im Sinne des "Zitats als geistreichen Scherz" (232-238): Der Knabe im Vordergrund, der sein Süßgebäck durch Körperdrehung vor dem gierigen Hund zu retten versucht, sei dem über Raimondi und Goltzius verbreiteten "Triumph der Galatea" entlehnt; der Witz dieses Bildzitats resultiere gerade aus dem größtmöglichen Kontrast zwischen dem Klassizismus der Bildquelle und dem karikaturesken Genremotiv.

So reizvoll diese Lektüre ist, die auch Jürgen Müller in seiner Studie zu Rembrandt als sokratischem Ironiker verfolgt [3] - ohne flankierende Befunde bleibt sie im Fall der "Pfannkuchenbäckerin" spekulativ. Für sich betrachtet folgt die Haltung des Knaben eher der Logik der Situation, als dass sie dem Zitat diente; Ähnlichkeiten zu Raffaels Putto scheinen zufällig. Das überzeugendere Beispiel für eine dissimulierende Referenz auf das Galatea-Fresko hätte sicherlich die Radierung "Abraham bewirtet die drei Engel" (1656) geliefert, die Müller an der Seite der "Pfannkuchenbäckerin" bespricht.

Der Raffael-Bezug wirkt bei der "Pfannkuchenbäckerin" zu kompliziert gedacht. Denn um als antiidealistischer Künstlerscherz zu zünden, müsste er ja schließlich auch als solcher erkannt werden - was hier zu bezweifeln ist. Dieser Fall erinnert daran, dass für Interpretationen von Bildtransfer-Phänomenen stets innere Plausibilität maßgeblich sein sollte, nicht, wie so oft, der Entdeckungseifer des Betrachters. Bei Knaus bleibt er jedoch die Ausnahme, ansonsten ist die Autorin einer funktionalen Perspektive verpflichtet.

Mit verlässlichen, an den Originalen vollzogenen Rekonstruktionen von Motivwanderungen, leserfreundlichen Zusammenfassungen und durchgehend hochwertigen Abbildungen liefert Gudrun Knaus einen soliden Überblick über verschiedene Stationen der künstlerischen Raffael-Rezeption bis 1700, die ihren Weg über die Stiche Raimondis nahm.


Anmerkungen:

[1] Edward H. Wouk / David Morris (eds.): Marcantonio Raimondi, Raphael and the image multiplied, Manchester 2016; Edward H. Wouk (ed.): Investigating Marcantonio Raimondi, in: Bulletin of the John Rylands Library 92 (Autumn 2016), Nr. 2.

[2] Anne Bloemacher: Raffael und Raimondi. Produktion und Intention der frühen Druckgraphik nach Raffael, Berlin / München 2016.

[3] Jürgen Müller: Der sokratische Künstler. Studien zu Rembrandts Nachtwache, Leiden (u.a.) 2015.

Ulrike Keuper