Rezension über:

Roland Günter: Vom Elend der Denkmalpflege und der Stadtplanung. Kommunale Studien zur Philosophie des Bewahrens und des Zerstörens (= Einmischen und Mitgestalten; Bd. 24), Essen: Klartext 2015, 426 S., ISBN 978-3-8375-1414-8, EUR 22,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Johannes Warda
Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung, Bauhaus-Universität Weimar
Redaktionelle Betreuung:
Jessica Petraccaro-Goertsches
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Warda: Rezension von: Roland Günter: Vom Elend der Denkmalpflege und der Stadtplanung. Kommunale Studien zur Philosophie des Bewahrens und des Zerstörens, Essen: Klartext 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/28022.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Roland Günter: Vom Elend der Denkmalpflege und der Stadtplanung

Textgröße: A A A

Innerhalb der denkmalpflegerischen Literatur scheinen Generalabrechnungen, Streit- und Kampfschriften sowie "Abgesänge" eine besonders populäre Gattung zu sein. [1] Roland Günter, Kunsthistoriker, Denkmalpfleger und bürgerbewegtes Urgestein, ist ein Meister dieses Faches. Der langjährige Vorsitzende des Werkbundes Nordrhein-Westfalen legt mit "Vom Elend der Denkmalpflege und der Stadtplanung" eine regelrechte Anklageschrift vor, die der verantwortlichen Politik (weniger der institutionalisierten Denkmalpflege) ein vernichtendes Zeugnis ausstellt. Der Untertitel "Kommunale Studien zur Philosophie des Bewahrens und des Zerstörens" verweist dabei auf den geografischen Bezug des Bandes: Hier geht es fast ausschließlich um Vorgänge der vergangenen Jahrzehnte in Nordrhein-Westfalen - und damit um ein Bundesland, dessen Denkmalschutzpolitik jüngst immer wieder in der Kritik stand (36f.).

Um es gleich vorweg zu sagen: Eigentlich ist Günters Schrift eine Zumutung für die Leser und Leserinnen. Und das weiß der Autor auch, weshalb er zu Beginn anmerkt, die Sprunghaftigkeit und etwaigen Wiederholungen seien modernen Lesegewohnheiten geschuldet (6). Wer sich für Alternativformen der Denkmalpflege und Stadtplanung interessiert, dem seien an dieser Stelle die wesentlich übersichtlicheren Streitschriften "Stadtmassaker" und "Kein Geld? Trotzdem handeln mit Visionen" empfohlen. [2]

Wer sich von Günters Parforceritt durch NRW-Lokalpossen dennoch nicht abschrecken lässt, wird am Ende mit einer utopischen Vision belohnt: Nämlich der eines Gemeinwesens, das die Gestaltungspotentiale der baulich-räumlichen Umwelt ernst nimmt, sich also von den Orten und Architekturen her denkt und die menschlichen Bedürfnisse dabei trotzdem in den Mittelpunkt stellt. Entsprechend legt Günter seinen Band als assoziatives Selbstgespräch an, als Streifzug zu biografischen Stationen, ausgefochtenen Kämpfen und Weggefährten. Hilfreich zur Orientierung ist dabei das kommentierte Inhaltsverzeichnis (7f.). Günters Ausführungen kreisen um einen Kerngedanken: Die Vorstellung von Denkmalpflege als gesellschaftlicher Bewegung (89). Für Günter ist das eine philosophische Praxis, die Orte in ihrer Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft "auffindbar" macht (134). Wiederkehrende Bezugspunkte sind Einzelpersonen ("Licht-Gestalten", 56 und 340-351), die es vermochten, Visionen für die integrierte Inwertsetzung des Kulturerbes zu entwickeln. Genannt wird immer wieder das Projekt IBA Emscher-Park mit seinen maßgeblichen Protagonisten Christoph Zöpel und Karl Ganser.

Günter gehört zu den Verfechtern einer über konservatorische Fragen im engeren Sinne hinausgehenden Denkmalpflege, wie sie auch von Lucius Burckhardt, Georg Mörsch, Wilfried Lipp und anderen vertreten wird. Schon in ihren frühen Schriften vertraten Günter und seine Mitstreiter einen engagierten, sozialbewussten Denkmalbegriff. So im Jahr 1975, dem vielbeschworenen Europäischen Denkmalschutzjahr. Damals wandte sich Günter mit Heinrich Klotz und Gottfried Kiesow gegen die schönfärberische Feier einer vor allem um das Bild der Altstadt bemühten Denkmalpflege. Gemeinsam veröffentlichten sie den Band "Keine Zukunft für unsere Vergangenheit. Denkmalpflege und Stadtzerstörung". [3] Der Buchtitel war eine polemische Variation auf das offizielle Motto des Denkmalschutzjahres "Eine Zukunft für unsere Vergangenheit" und prangerte die stadtplanerischen Missstände im Zusammenhang mit der Altstadtsanierung an.

Zu Roland Günter gehört auch, dass er seinen Anspruch an eine Denkmalpflege als "Sozialschutz" immer praktisch gelebt hat. [4] Sei es in den Bürgerinitiativen zur Erhaltung der Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet, vor allem Oberhausen-Eisenheim (333f.), oder zuletzt beim Kampf für die Max-Taut-Siedlung am Zinkhüttenplatz in Duisburg-Hamborn (95). Seine Texte suchen stets die konstruktive Konfrontation, die es braucht, um die Denkmalpflege aus ihrer gelegentlichen Fixierung auf vermeintliche Schmuckstücke wachzurütteln und ihren Blick auf den größeren Zusammenhang von Siedlung, Quartier und Stadt als behutsam zu gestaltenden Lebensraum zu lenken.

Besonders stark ist Günter dort, wo er über das Dokumentieren planungspolitischer Ungehörigkeiten hinausgeht und mit der ihm eigenen pragmatischen Poesie über Denkmalpflege philosophiert. Die "Argumente für den Denkmalschutz" (22-35) sind in diesem Sinne Ideensammlung und Anregung für eigene Projekte. In der Zusammenschau wird der Band zum eindrücklichen Beleg für die Kurzlebigkeit städtebaulicher Leitbilder: War eben noch allenthalben von Schrumpfung und Leerstand die Rede (369), wo doch Architektur, wenn man den Ressourcenverbrauch bedenkt, eigentlich zu den langfristigeren und sperrigeren menschlichen Tätigkeiten gehört, muss man sich heute über die kurzsichtigen Flächenabrisse der letzten Jahre, insbesondere Duisburg-Bruckhausen, ärgern (370f.). Und so wird sich den interessierten Lesern und Leserinnen bald ein ganzes Panorama vertaner Chancen vor dem inneren Auge auftun - von Gebäude-Ressourcen, deren Wieder- und Weiternutzung nicht zu niederschwelligen Projekten des Tätigwerdens, Produzierens und alternativen Wertschöpfens geworden ist. Überall in Europa, nicht nur im Ruhrgebiet. Aktuelle Brisanz gewinnen Günters Überlegungen nicht nur vor dem Hintergrund der neuen Wohnungsdebatte: In der jüngsten Entscheidung des italienischen Staates, Kulturdenkmale Interessierten mit alternativen Konzepten zu überlassen, dürfte sich Günter, der stets den Blick nach Süden lenkte, ebenfalls bestätigt sehen. [5]

Problematisch erscheinen indes die persönlichen Anfeindungen, etwa der wiederholte Vorwurf fachlicher Inkompetenz (z.B. 65; 398). Sie mögen zwar der ehrlichen, zuweilen recht derben politischen Streitkultur in NRW geschuldet sein, irritieren aber doch ein wenig. Ist Günters Aufreger nur mehr eine hilflose Geste in Zeiten planungspolitischer Ideenlosigkeit? Das ist zumindest die Gefahr. Denn alle berechtigte Empörung sollte nicht lauter sein als die Visionen.


Anmerkungen:

[1] Etwa Wolf Jobst Siedler / Elisabeth Niggemeyer: Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum, Berlin 1964; Adrian von Buttlar et al. (Hgg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern - Eine Anthologie, Gütersloh 2011.

[2] Roland Günter: Stadtmassaker und Sozialverbrechen. Studie zur Kommunalpolitik am Fallbei(l)spiel "Stadtzerstörung und Stadtentwicklung in Duisburg" (= Einmischen und Mitgestalten; Bd. 18), Essen 2013; Deutscher Werkbund NW und weitere Mitwirkende: Kein Geld? Trotzdem handeln mit Visionen! Ein Aufruf, die Köpfe zu verändern: Umdenken für Stadt-Politik und für Eigentätigkeit der Bevölkerung, Essen 2011.

[3] Heinrich Klotz / Roland Günter / Gottfried Kiesow (Hgg.): Keine Zukunft für unsere Vergangenheit. Denkmalschutz und Stadtzerstörung, Gießen 1975.

[4] Roland Günter / Janne Günter: Soziale Architektur und ihre Elemente, Sonderdruck aus: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Bd. 2/3, Gießen 1976, 9.

[5] Michaela Namuth: Ein Wärterhäuschen in Italien?, in: die tageszeitung v. 24./25. Juni 2017, 35.

Johannes Warda