Rezension über:

David Cesarani: "Endlösung". Das Schicksal der Juden 1933 bis 1948. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, Berlin / München: Propyläen 2016, 1100 S., 2 Kt., ISBN 978-3-549-07417-6, EUR 42,00
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Rezension von:
Stephan Lehnstaedt
Touro College, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Lehnstaedt: Rezension von: David Cesarani: "Endlösung". Das Schicksal der Juden 1933 bis 1948. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, Berlin / München: Propyläen 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/30287.html


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David Cesarani: "Endlösung"

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Der 2015 verstorbene englische Historiker David Cesarani hat kurz vor seinem Tod noch eine monumentale Gesamtdarstellung des Holocaust vorgelegt, die sich explizit an ein breiteres Publikum wendet. Die Einleitung reflektiert deshalb ausführlich die damit verbundenen Konsequenzen und thematisiert etwa die öffentliche Wahrnehmung von Viehwaggons als universelle Symbole für den Völkermord - obwohl alleine in Babi Yar mehr Menschen erschossen als aus ganz Belgien deportiert worden sind. Es sind diese und andere Hinweise, die die Überlegungen zu einer wichtigen Reflexion über Holocaust-Education und ihre problematischen Ikonen und Schwerpunkte werden lassen. Cesarani, der selbst viele Jahre als Berater in der politischen Bildung gewirkt hat, zeigt sich dabei betont selbstkritisch.

Dem Großteil seiner Überlegungen lässt sich nur zustimmen. Cesarani weist darauf hin, dass Aussagen und Memoiren aus der Zeit nach 1945 eben nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Opfer sind, weil die allermeisten von ihnen schlicht nicht überlebt haben; das gilt in noch höherem Maße für diejenigen, die heute noch leben: sie haben den Holocaust als Kinder überlebt. In diesem Sinne war der Genozid an den europäischen Juden auch nicht von einheitlichen Handlungen und Erfahrungen gekennzeichnet, sondern stellt sich höchst individuell dar. Zu beachten ist zudem, dass "Holocaust" als Begriff eine kulturelle Konstruktion ist.

Cesarani nennt außerdem am Anfang das, was er als seine wichtigsten Argumente bezeichnet: Die NSDAP wurde nicht deshalb gewählt, weil sie antisemitisch war; es gab kein systematisches und zusammenhängendes Vorgehen gegen die Juden; der Holocaust stand zum Kriegsgeschehen in einer unmittelbaren Abhängigkeit; die Ermordung produktiver Arbeiter in Gettos und Konzentrationslagern stellte keine Inkonsequenz dar, denn diese waren volkswirtschaftlich kaum bedeutsam.

Anders als hier postuliert ist das oben genannte - meist seit vielen Jahren - in der Forschung unumstritten und findet selbstverständlich in den entsprechenden Gesamtdarstellungen seinen Niederschlag. Die nichtakademische Wahrnehmung sieht anders aus, aber genauere Ausführungen dazu gibt es nicht. Innovativ oder neu ist dieses Buch daher kaum zu nennen, vielmehr bleibt der Eindruck, dass es sich bei den angekündigten Neubewertungen um verkaufsfördernde Aufmerksamkeitserregung handelt. Unter Marketing lässt sich getrost auch die Ankündigung neuer Zäsurierungen verbuchen. Das gilt insbesondere für die im Titel enthaltenen Jahreszahlen 1933-1948 - der Teil nach Kriegsende ist lediglich ein Epilog im Umfang von 32 Seiten.

Es handelt sich hier um eine klassische chronologische Darstellung des Holocaust. Sie beschränkt sich auf die Juden als Opfer und verzichtet beispielsweise darauf, Interdependenzen mit anderen Gruppen herauszuarbeiten. Cesarani argumentiert sehr intentionalistisch und stellt Adolf Hitler ins Zentrum der "Genesis des Genozids": Für den Völkermord war demnach weniger Antisemitismus entscheidend als vielmehr Hitlers Angst vor den Juden als entscheidendem Einflussfaktor im Krieg. Der "Führer" wollte nach 1941 an ihnen Rache nehmen, weil sie die USA in den Weltkrieg getrieben hätten. Wieso das nicht antisemitisch sein soll, bleibt allerdings unklar.

Bei dieser intentionalistischen Vorgehensweise treten lokale Spielräume und Initiativen, die Ian Kershaw als "dem Führer entgegenarbeiten" bezeichnete, deutlich zurück. Stattdessen stellt Cesarani als Erklärungsansatz für regionale Dynamiken und Entwicklungen auf die militärische Führungsstrategie der Auftragstaktik ab, bei der Untergebene ihre allgemein gehaltenen Befehle nach einer Situationsbeurteilung auf eigene Weise umsetzen. Diese Nuancierung gegenüber Kershaw ist immerhin recht originell und einer genaueren Untersuchung wert. Und so ist, trotz einiger Kritik, Cesaranis Buch durchaus lobens- und lesenswert. Es ist mit seiner strengen Chronologie klar und konzise gegliedert, kurze Unterkapitel bieten Informationen zu verschiedensten Themen, erleichtern die Orientierung und erlauben ein schnelles Nachlesen. Dabei sind Forschungserkenntnisse und -diskussionen zwar meist nicht ausgebreitet, werden aber in aller Regel überzeugend zugunsten der Lesbarkeit aufgelöst.

Höchst erfreulich ist zudem, wie West und Ost berücksichtigt und in ein Gesamtbild integriert sind. Die Länge der jeweiligen Abschnitte orientiert sich grob an den Opferzahlen und verzichtet so auf eine geografische Gleichgewichtung. Hier zeigt sich große Meisterschaft in der Komposition, zumal Cesarani sich bei vielen Passagen von den jeweiligen Fachleuten hat beraten lassen. So kann er selbst unter Rückgriff auf ausschließlich englische und ausgewählte deutsche Literatur ebenso umfassend wie stimmig beispielsweise über das Warschauer Getto oder Kollaboration in Osteuropa berichten. Freilich bleiben einige Lücken; kleine Gettos etwa - in denen alleine im Generalgouvernement rund eine halbe Million Menschen leben mussten - sind eine Blindstelle.

Aber Spezialisten werden sogar bei einem über tausendseitigen Werk immer Aspekte entdecken, die fehlen. Doch dieses Monitum ist billig. Der Gesamtdarstellung für ein breites Publikum fehlt nichts Wichtiges; alles, was man unbedingt zum Holocaust wissen muss, findet sich hier. Und noch viel, viel mehr. Selbst Experten werden hier noch unbekannte Dinge lesen können. Cesaranis Zusammenstellung mag vielleicht nicht überraschend sein, aber sie ist durchaus im positiven Sinne erschöpfend - denn der Holocaust wird sich wohl nie vollständig erklären lassen. Und letztlich stellt sich ja nicht nur die Frage, welcher Umfang denn überhaupt noch lesbar ist bzw. gelesen wird, sondern vor allem, wie es sich besser machen lässt - und nicht nur anders. Die Antworten darauf fallen naturgemäß subjektiv und verschieden aus. (M)eine ist: Es bleiben ein überzeugendes Gesamtnarrativ und eine vielleicht konservative, aber keinesfalls unangemessene Deutung des Holocaust, die dessen Komplexität eindrucksvoll vor Augen führt. Alles in allem ein Buch, das viele Leser verdient.

Stephan Lehnstaedt