Rezension über:

Tom Fletcher: Naked Diplomacy. Power and Statecraft in the Digital Age, London: HarperCollins 2016, 310 S., ISBN 978-0-00-812756-5, GBP 18,99
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Rezension von:
Holger Berwinkel
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Holger Berwinkel: Rezension von: Tom Fletcher: Naked Diplomacy. Power and Statecraft in the Digital Age, London: HarperCollins 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/10/29190.html


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Tom Fletcher: Naked Diplomacy

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Wenn Zeitgeschichte wirklich Geschichte ist, "die noch qualmt", dann steht die hier geschriebene Geschichte lichterloh in Flammen. Fletcher thematisiert die Anpassung der Diplomatie an das Internet, insbesondere an Soziale Netzwerke, und an die Vollvernetzung der Menschheit durch mobile Endgeräte. Mit einem klaren Weltbild möchte er in seinem Zeitzeugenbericht Sinn stiften. Beste Voraussetzungen also für eine Rezension, doch sind seit dem Erscheinen des Buchs im Frühjahr 2016 die Grundfesten dieses Narrativs erschüttert worden. Der Rezensent hat seinen fast fertigen Text nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gelöscht und fühlte sich erst nach der französischen Präsidentschaftswahl auf sicherem Boden, um die Arbeit dann wieder aufzunehmen.

Fletcher ist ein Vertreter der anglo-amerikanischen außenpolitischen Elite. Das Paradigma einer auf Menschenrechte und Freihandel ausgerichteten liberalen Weltordnung zum Zweck der Selbstentfaltung des Individuums ist ihm selbstverständlich. Dazu seien mitunter bewaffnete Interventionen nötig, während multilaterale Ordnungen wie die Europäische Union vor allem hinderlich seien. Fletcher diente den britischen Premierministern Blair, Brown und Cameron von 2007 bis 2011 als außenpolitischer Privatsekretär, also in einer Schlüsselfunktion, bevor er als Botschafter nach Beirut wechselte (bis 2015). Dort betrieb er eine intensive, auf Facebook und Twitter gestützte Public Diplomacy, die sich außerhalb staatlich reglementierter Kanäle an die Zivilgesellschaft des Gastlandes wandte. Das Buch ist die Summe seiner Erfahrungen im interpretierenden Rahmen seines Weltbildes.

Die einleitende "Short History of Diplomacy" ist für ein allgemeines Publikum gedacht. Historiker werden allenfalls von der Aussage überrascht, dass Wallenstein, ein "bohemian politican", den Westfälischen Frieden ausgehandelt habe (96). Fletcher entgeht das Ausmaß der Revolution, die der Telegraf für die Diplomatie bedeutete. [1] Die gegenwärtigen Veränderungen wie zunehmendes Handeln in Netzwerkstrukturen und wachsendes Gewicht nichtstaatlicher Akteure sind eben nicht so präzedenzlos, wie Fletcher es darstellt. Auch ermöglichten Telegramme überhaupt erst die bürokratische, von Analysen getriebene Steuerung der Diplomatie aus den Außenministerien, die heute selbstverständlich ist und die zunehmende Abhängigkeit von Big Data vorwegnimmt, die Fletcher für das nächste Jahrzehnt prognostiziert.

Locker bis flapsig geht es um die von der Informationstechnologie ausgelöste Datenflut, die zum einen die traditionellen Kommunikationssysteme der diplomatischen Apparate überlaste, zum anderen neue Methoden der politischen Analyse ermögliche. Gleichzeitig mache es die Digitalisierung zunehmend schwieriger, Außenpolitik auf Geheimnissen aufzubauen, wie die Affären Assange und Snowden gezeigt hätten. Das Internet entziehe sich trotz immer neuer Regulierungsversuche seinem Wesen nach der staatlichen Kontrolle. Somit verändere es die Spielregeln eines Geschäfts, das voll und ganz auf Kommunikation aufbaue.

Soft Power ist für Fletcher der Kern seines auf die Zivilgesellschaft ausgerichteten Verständnisses moderner Diplomatie: Sport, (Pop-)Kultur und die Vermarktung von Nationen müssten zwar durch harte politische und militärische Macht im Hintergrund gestützt werden, letztlich habe Österreich durch Conchita Wursts Gewinn des European Song Contest aber mehr für seine internationale Reputation gewonnen als durch Jahre klassischer Regierungsarbeit, werde Großbritannien in Gestalt der Premier League, des Britischen Museums oder der BBC wahrgenommen. Solche Botschaften könnten nicht mehr in den klassischen Formen von Kommuniqués veröffentlicht werden, doch sei ein oberflächliches Twitter-Feuerwerk ebenso schlecht. Entscheidend sei vielmehr, durch Transparenz und Kommunikation auf Augenhöhe Authentizität und Glaubwürdigkeit zu vermitteln: "naked diplomacy". Auch Gipfel und andere protokollarische Großereignisse müssten neben der Sache die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit beachten. Traditionelles Pokern käme hier schlecht weg, meint Fletcher (178) und stellt fest: "The European leader who has most consistently got what they [sic!] wanted, over a longer period of time and with fewer claims of triumph, is Angela Merkel." - Überhaupt liest sich das Buch in diesen zentralen Kapiteln wie ein Handbuch deutscher Außenpolitik.

Was Fletcher mit "powerful political communication" (157) meint, illustriert er mit eigenen Erfahrungen aus Beirut. Er spendete Blut für die Opfer eines Anschlags auf die iranische Botschaft und tweetete ein Foto davon, das prompt vom iranischen Präsidenten retweetet wurde (praktische Erfahrungen mit dem Web 2.0 sind eine Voraussetzung, um das Buch mit Nutzen zu lesen). Um ein Zeichen gegen die Diskriminierung von Migranten zu setzen, tauschte er als Doku-Soap seinen Posten mit einer aus Äthiopien zugewanderten Hausfrau: Sie nahm einen Termin im libanesischen Innenministerium war und er putzte. Damit sei es gelungen, ein authentisch-glaubwürdiges Symbol für Großbritanniens politische Botschaft zu kreieren. Deutlicher kann der Kontrast zu einem klassischen Verständnis der Aufgaben eines Botschafters nicht ausfallen.

Aber das Netz ist für Fletcher nicht nur ein neues Werkzeug der Diplomatie, sondern schafft eine neue Realität. Dass Facebook seinen Mitgliedern die Angabe einer kosovarischen Staatsbürgerschaft erlaubt, sei ein reales Gegengewicht zur schleppenden Anerkennung Kosovos durch andere Staaten. Smartphones in den Taschen von Regierungschefs verändern von Grund auf das Format von Gipfelkonferenzen; auf solche scheinbaren Banalitäten aufmerksam zu machen, ist eine Tugend des Buchs.

Das Plädoyer für digitale Soft Power gipfelt in einer Fundamentalkritik an traditioneller Machtpolitik, für die Stalins berühmter Ausspruch herhalten muss, wie viele Divisionen wohl der Papst habe. Hier muss freilich die Kritik an dem Buch als Zeitdiagnose ansetzen. 2009 war es entscheidend für die Ausbreitung der Grünen Revolution in Iran, dass Twitter auf Intervention des US-Außenministeriums eine zu Wartungszwecken geplante Unterbrechung seines Dienstes verschob. In einer Zeit, als der Präsident Obama hieß und kurz darauf ein "Arabischer Frühling" erblühte, lag es nahe, unter diesen Eindrücken im Internet vor allem ein Werkzeug emanzipatorischer Bewegungen zu sehen, die den westlichen Idealen von 1989 folgten. Fletcher bietet ohnehin keine reflektierende Insider-Geschichte dieser Jahre, die im Maßstab der Zeitbeschleunigung durch das Netz schon als Epoche bezeichnet werden können. Natürlich wurde sein Buch vor dem Erscheinen in Whitehall gründlich gegengelesen; vor diesem Hintergrund ist vielleicht auch das ideologisch eigentlich unverträgliche Plädoyer für geheimdienstliche Netzüberwachung zu lesen. Aber ganz grundsätzlich wird sein Narrativ durch Entwicklungen der letzten Jahre infrage gestellt: asymmetrische Interventionskriege, die von ihren Anstiftern auch als Abwehr westlicher zivilgesellschaftlicher Einflussnahme verstanden werden, netzbasierter globaler Terrorismus, Wanderungsbewegungen, die sich mit Smartphones dezentral selbstorganisieren, die Desintegration der politischen Systeme in westlichen Staaten, die die liberale Idee gefährden, die sich eigentlich digital verbreiten sollte. Die Frage, wer wie viele Divisionen mustern kann, hat eine fast vergessene Qualität angenommen.

Vor diesem Hintergrund liest sich das Buch als zu flache Variation des Cyberspace-Manifests von 1996 [2] - es ist mehr Bekenntnisschrift als Zeitgeschichte. Fletcher erkennt und beschreibt eine Reihe von Phänomenen korrekt, aber mit geringerem Tiefgang als bereits erschienene Veröffentlichungen von Machern des digitalen Zeitalters wie Jared Cohen, der im Planungsstab des State Department 2009 dafür sorgte, dass Twitter in Iran online blieb und danach zu Google wechselte. [3] Im Literaturverzeichnis einer fachhistorischen Studie zur digitalen Diplomatie des Westens in den Jahren 2009 bis 2014 darf Fletchers Buch nicht fehlen, wäre aber nicht unter Sekundärliteratur aufzuführen, sondern bei den Quellen: als Zeugnis für die Mentalität einer zentralen Gruppe von Akteuren.


Anmerkungen:

[1] David Paull Nickles: Under the Wire. How the Telegraph Changed Diplomacy, Cambridge/MA 2003.

[2] https://www.eff.org/de/cyberspace-independence, abgerufen am 28. Juni 2017.

[3] Jared Cohen / Eric Schmidt: The New Digital Age. Reshaping the Future of People, Nations, and Business, New York 2013.

Holger Berwinkel