sehepunkte 17 (2017), Nr. 10

Anja Weisenseel: Bildbetrachtung in Bewegung

Die Salonausstellungen der Pariser Kunstakademie im 18. Jahrhundert eignen sich als exemplarisches Untersuchungsfeld zur Herausbildung von Ausstellungen und Kunstkritik, des Kunstpublikums und der Präsentations- und Rezeptionskonventionen bildender Kunst. Forschende können nicht nur auf umfangreiches, gut zugängliches Quellenmaterial zurückgreifen, sondern auch auf zahlreiche Studien zu den Akteuren und Akteurinnen und Institutionen des französischen Kunstbetriebs in dieser Zeit. Das von Thomas Crow in den 1980er-Jahren skizzierte Bild der entstehenden Kunstöffentlichkeit vor dem Hintergrund der absolutistischen Repräsentationspolitik konnte so in den letzten beiden Dekaden noch weiter ausdifferenziert werden. [1]

Anja Weisenseel hat sich in ihrer nun publiziert vorliegenden, 2014 an der Universität Hamburg angenommenen Dissertationsschrift dem notorisch schwierigen Thema der Kunstbetrachtung gewidmet, dessen Beschreibung auch heute, im Zeitalter von Zielgruppenanalysen und physiologischen Messungen schwer greifbar geblieben ist. Wie der Titel des Buches andeutet, nähert sie sich ihrem Gegenstand auf doppelte Weise: auf der einen Seite über die Figur des - explizit männlich und im Singular benannten - Kunstbetrachters, auf der anderen über die Entwicklung von Sehgewohnheiten, die, wie die Autorin eingangs feststellt, nicht nur physiologisch, sondern auch institutionell bedingt sind. Sie greift dabei auf die bekannte Quellensammlung zur Kunstkritik des 18. Jahrhunderts, die Collection Deloynes, zurück, die zahlreiche Empfehlungen und Beobachtungen zur Kunstbetrachtung inner- und außerhalb der Akademieausstellungen enthält. Zudem wird für die in der Kunstkritik und in der akademischen Kunsttheorie beschriebenen Methoden und Techniken der Kunstbetrachtung sensibilisiert: Bildvergleich, Nahsicht, Fernsicht, Überblick, "coup d'œil" und dergleichen. Damit stellt sich schon bald die Frage, ob die erhaltenen Texte das Sehen beschreiben, anleiten, oder das Sprechen über Bilder vermitteln wollen, bzw. wieweit sie einfach als Unterhaltungsliteratur fungierten.

In den ersten Hauptkapiteln zur Figur des Kunstbetrachters und zur Ausstellungssituation zeigen sich manche Probleme im Verhältnis zwischen Fragestellungen und Material. Der Fokus auf die Salons ist nachvollziehbar, erlaubt er doch detaillierte Darstellungen - etwa einen lohnenden Abriss über Hängungskonflikte und -konventionen. Eine wichtige Ergänzung aber fehlt, nämlich deren institutionelle Kontextualisierung als Instrumente der absolutistischen Kulturpolitik, die auch über die Abgrenzung von anderen (alternativen, konkurrierenden und zum Teil schließlich verbotenen) Präsentationskontexten bildender Kunst geschah. Weder die Place Dauphine-Ausstellungen oder diejenigen der Académie de Saint-Luc noch das weite Feld der Kunstpräsentation in kirchlichen Kontexten, in Galerien, Auktionen oder in Kunstsammlungen werden als Vergleichsfelder zur Situierung der erhaltenen Quellen genutzt, wobei der Hinweis auf fehlende Literatur zum Zeitpunkt der Erarbeitung des Manuskripts kaum überzeugt: Selbst die in der Bibliografie genannte Forschung wird in dieser Hinsicht nicht berücksichtigt. [2] Damit bleibt, trotz des Hinweises der Autorin auf die Bedeutung der institutionellen Rahmung und ihrer Beobachtung, "dass sich die Kunstkritik ab Mitte des 18. Jahrhunderts oftmals als Institutionskritik äußerte" (105), die kulturpolitische Dimension der Salonausstellungen unerschlossen. Auf ganz ähnliche Weise wird die Figur des "Betrachters" als repräsentativ vorausgesetzt, ohne weiter kontextualisiert zu werden. Der Verzicht auf geschlechtsspezifische Perspektivierungen der erhaltenen Quellen etwa ist verblüffend und verstellt bedeutende Argumentationslinien der Kunstkritik des 18. Jahrhunderts. Paradoxerweise bleibt daher, trotz des engen Fokus auf die Salonausstellungen, der konkrete Rahmen, innerhalb dessen Kunstbetrachtung geübt und kommentiert wurde, wenig greifbar.

Die Forschungsinteressen der Autorin gehen deutlich besser dort auf, wo sie diesen selbstgesteckten Rahmen geografisch und zeitlich verlässt: Zum Ende des zweiten Teils behandelt Weisenseel die Diskussion um Nah- und Fernsicht im Zusammenhang mit der empirischen und sensualistischen Philosophie sowie der Sinnesphysiologie. Hier finden sich lohnende Ausführungen, die bis zur Nähe zwischen Kunstbetrachtung und Voyeurismus bzw. Pornografie reichen, wobei sie auch Arbeiten außerhalb der Salons diskutiert. Das dritte Hauptkapitel behandelt anhand konkreter Bildbeispiele das Verhältnis von Tast- und Sehsinn sowie das suggerierte performative Eintreten in das Bild als Strategie bei der Beschreibung von Gemälden. Schließlich widmet es sich dem Pygmalion-Topos als Ausdruck des Verlebendigungsdiskurses der Kunst und weitet die Diskussion mit Blick auf Immersionstechniken bis hin zur Entwicklung optischer Geräte an der Wende zum 19. Jahrhundert aus.

Damit mag die Frage, welche konkreten Praktiken der Kunstbetrachtung im Kontext der Salonausstellungen entwickelt wurden, zwar nur indirekt behandelt sein. Umso klarer allerdings wird ein historischer Bogen entworfen, der die Kunstbetrachtung schon sehr früh abseits der rationalistischen, aufklärungsorientierten Bildungsdiskurse des 18. Jahrhunderts situiert. Wer also gewillt ist, die angekündigte Analyse der Kunstrezeption in den Salons etwas beiseite zu rücken und der Autorin in eine weiter gestreute Diskussion der Debatten um Kunstbetrachtung zu folgen, wird mit anregenden Detaillektüren belohnt.


Anmerkungen:

[1] Beispielhaft dafür u.a. Charlotte Guichard: Les amateurs d'art à Paris au XVIIIe siècle, Seyssel 2008; Frédéric Bußmann: Sammeln als Strategie. Die Kunstsammlungen des Prince de Conti im Paris des ausgehenden Ancien Régime, Berlin 2010; Gerrit Walczak: Altar gegen Altar: Aufstieg und Ende der Pariser Académie de Saint-Luc, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 37 (2010), 219-264; Eva Kernbauer: Der Platz des Publikums. Modelle für Kunstöffentlichkeit im 18. Jahrhundert (= Studien zur Kunst; Bd. 19), Köln / Weimar / Wien 2011; Gerrit Walczak: Bürgerkünstler. Künstler, Staat und Öffentlichkeit im Paris der Aufklärung und Revolution, Berlin 2015. Spezifisch zur Kunstbetrachtung auch außerhalb Frankreichs: Joachim Penzel: Der Betrachter ist im Text. Konversations- und Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1914 (= Politica et Ars. Interdisziplinäre Studien zur politischen Ideen- und Kulturgeschichte; Bd. 13), Münster / Hamburg / Berlin / London 2007; Oliver Kase: Mit Worten sehen lernen. Bildbeschreibung im 18. Jahrhundert (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; Bd. 81), Petersberg 2010.

[2] Schon bei Crow findet sich ausführliches Material zum Konflikt der Académie royale mit den alternativen Pariser Ausstellungsorten. Siehe Thomas Crow: Painters and public life in eighteenth-century Paris, New Haven 1985. Weisenseel vermerkt in ihrer Bibliografie weitere Titel zum Thema.

Rezension über:

Anja Weisenseel: Bildbetrachtung in Bewegung. Der Rezipient in Texten und Bildern zur Pariser Salonausstellung des 18. Jahrhunderts (= Ars et Scientia. Schriften zur Kunstwissenschaft; Bd. 14), Berlin: de Gruyter 2017, X + 397 S., 15 Farb-, 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-044073-7, EUR 79,95

Rezension von:
Eva Kernbauer
Universität für angewandte Kunst, Wien
Empfohlene Zitierweise:
Eva Kernbauer: Rezension von: Anja Weisenseel: Bildbetrachtung in Bewegung. Der Rezipient in Texten und Bildern zur Pariser Salonausstellung des 18. Jahrhunderts, Berlin: de Gruyter 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/10/30231.html


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