Rezension über:

Manuel Borutta / Jan C. Jansen (eds.): Vertriebene and Pieds-Noirs in Postwar Germany and France: Comparative Perspectives, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2016, XVI + 300 S., ISBN 978-1-137-50840-9, EUR 69,99
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Rezension von:
Claudia Moisel
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Moisel: Rezension von: Manuel Borutta / Jan C. Jansen (eds.): Vertriebene and Pieds-Noirs in Postwar Germany and France: Comparative Perspectives, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15.11.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/11/29322.html


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Manuel Borutta / Jan C. Jansen (eds.): Vertriebene and Pieds-Noirs in Postwar Germany and France: Comparative Perspectives

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Anzuzeigen ist ein ungewöhnliches Buch: Der von Manuel Borutta und Jan C. Jansen verantwortete Sammelband ist nicht nur ansprechend in der Aufmachung, klug im Detail und vielfältig in seiner thematischen Breite, sondern vor allem konzeptionell anregend. Bereits der Titel "Vertriebene und Pieds-Noirs in Postwar Germany and France" löst bei der Lektüre zunächst Verblüffung aus, vor allem aber reflexartig die Frage, weshalb nur bislang niemand auf die Idee gekommen war, die beiden für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zentralen Migrationsbewegungen aus den "imperial borderlands" (1) der beiden europäischen Nachbarländer jemals vergleichend zu diskutieren. Bei allem Interesse für die deutsch-französischen Zusammenhänge im Allgemeinen, das legen zumindest die Herausgeber nahe, interessieren wir uns im Besonderen zu selten für die Ungleichzeitigkeit der NS-Nachgeschichte und des postkolonialen Erfahrungsraumes der französischen Nation in ihren möglichen Bezügen.

Umso anregender die zusammenfassenden Überlegungen des französischen Deutschlandexperten Etienne François, der zunächst mit dem überraschenden Bekenntnis aufwartet, beide Narrative in seiner eigenen Biografie eng verflochten zu wissen: Haben seine 1917 in Algerien geborene Mutter und der 1945 aus dem schlesischen Breslau geflüchtete Schwiegervater trotz geografischer Distanzen vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht? So reizvoll der Vergleich anmuten mag: Es sei dies kein einfaches Unterfangen, denn schon allein zahlenmäßig, das stellt François an den Beginn seiner Überlegungen, übersteigen Flucht und Vertreibung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße die algerische Frage um ein Vielfaches. Folgt man François, so sind es deshalb die im Sammelband in Teil fünf vorgestellten Überlegungen zu Erinnerung und Gedächtnis, die für eine vergleichende Betrachtungsweise in besonderer Weise sich anbieten.

Ähnlich argumentieren Borutta und Jensen in ihrer Einleitung, wo sie der Verflechtungsgeschichte eine Absage erteilen, vielmehr plädieren für den historischen Vergleich, der in diesem Fall und bei aller möglichen Kritik an der Methode dem Untersuchungsgegenstand angemessen sei: "Germany and France after 1945 shared a highly entangled history [...]. However, these entanglements were not the main forces behind the integration of Vertriebene and Pieds-Noirs." (4f.) In beiden Fällen habe es sich jedoch um eine zahlenmäßig bedeutsame und in bewaffneten Konflikten erzwungene Wanderungsbewegung innerhalb eines vormals geografisch und politisch als Einheit aufgefassten Territoriums gehandelt, wobei die Integration trotz umfassender staatlicher Unterstützungsangebote von vielfältigen Fremdheitserfahrungen gekennzeichnet gewesen sei.

In diesem Sinne sind die Ausführungen von Tobias Weger zu den über das Essen vermittelten erinnerungskulturellen Gesten von besonderer Bedeutung, denn spätestens seit den einschlägigen Arbeiten von Maren Möhring wissen wir um die kulturellen Aushandlungsprozesse, welche die vormals als schnödes Alltagshandeln bewertete Nahrungsaufnahme begleiten. [1] Wie rund ein "Knödel" sein darf: Es sind vielfach solche schlichten Fragen, welche im Alltag das Gefühl eines "crucial cultural clash" erzeugt haben mögen und ein Heimweh begründen konnten, möglicherweise sogar als einschneidender empfunden wurden denn materielle Verluste (204). Vor diesem Hintergrund und zu Recht benennt Wegner die Erforschung privater, überwiegend nostalgisch gefärbter Narrative in ihren Bezügen zu den vielfach als revanchistisch identifizierten Diskursen der Vertriebenenorganisationen als Desiderat. Für eine differenzierte Betrachtungsweise plädiert in diesem Sinne auch sein französischer Kollege Michèle Baussant: "Since then the social sciences have often reduced the pied-noir experience to a nostalgia for the colonial system as a whole, an idealization that supposedly found expression in a deliberate, collective falsification of history. This critique draws on the utterances and practices of certain community association leaders, the representativeness of which remain unproven and which sometimes differ from the narratives and practices observed - especially in the private sphere - among Pieds-Noirs generally and their descendants." (212)

Einschränkend ließe sich anführen, dass die einzelnen Beiträge vergleichend nicht durchgängig argumentieren. Es mag dieser Befund seine Begründung finden in dem Umstand, dass die Autoren Neuland betreten, und nicht nur im übertragenen Sinne leistet der auf Englisch vorgelegte Band Übersetzungsarbeit. Die Herausgeber selbst beschreiben einleitend ihr Vorgehen als ein Sichtbarmachen und die thematische Beschränkung auf die beiden Einzelfälle als Methode: "Vertriebene und Pieds-Noirs in Postwar Germany and France is based on a strictly symmetrical structure. The focus on two major cases allows the complexity of both cases to be taken into account, because the comparison is carried out on different analytical levels." (11) Staatsbürgerschaft und die Grenzen der Nation (Shelley Baranowski und Todd Shepard), Integration im Spannungsfeld von (partei-) politischer Instrumentalisierung und Verbandsarbeit (Michael Schwarz / Yann Scioldo-Zürcher, Pertti Ahonen / Claire Eldridge und Frank Bösch / Eric Savarese), Erinnerung und Gedächtnis (Stefan Troebst / Jan C. Jansen) werden für Frankreich und Deutschland in jeweils eigenen Beiträgen und auf dem aktuellen Stand der Forschung abgehandelt.

Nur kursorisch werden die NS-Belastung der Vertriebenenfunktionäre (Michael Schwartz), die Verbrechen der französischen Armee im Algerienkrieg (Jan C. Jansen) oder die ungebrochen hohe Zustimmung der algerischen Aussiedler für die Politik des rechtsextremen Front National (Eric Savarese) thematisiert. Auch die mediale Vermittlung der Ereignisse wäre vergleichend vermutlich ertragreich zu diskutieren. [2] Und weshalb, ließe sich fragen, schweigt sich die französische öffentliche Meinung in der gegenwärtigen "Flüchtlingskrise" zur Algerienfrage aus, während die viel länger zurückliegenden Erfahrungen von Flucht und Vertreibung hierzulande in den Medien vielfach den Referenzrahmen abgegeben haben? Im Kontext der Frankfurter Buchmesse 2017 wird die starke Präsenz der algerischen Erfahrung aktuell vielfältig diskutiert. Für die Geschichtswissenschaften liegt mit dem Sammelband von Borutta und Jensen jetzt ein starkes Argument vor, diese Fragen auch im Kontext der deutsch-französischen Beziehungsgeschichte aufzugreifen und in gängige Narrative zu integrieren.


Anmerkungen:

[1] Maren Möhring: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012.

[2] Vgl. in diesem Sinne die programmatischen Überlegungen von Thomas Lindenberger: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), H. 1, 72-85.

Claudia Moisel