Rezension über:

Richard de Mediavilla: Premier Quodlibet. Traduction et notes par Alain Boureau (= Bibliothèque Scolastique; 9), Paris: Les Belles Lettres 2015, LXXXIV + 235 S., ISBN 978-2-251-61009-2, EUR 55,00
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Richard de Mediavilla: Deuxième Quodlibet. Introduction, édition critique et traduction par Alain Boureau (= Bibliothèque Scolastique; 10), Paris: Les Belles Lettres 2016, XCII + 437 S., ISBN 978-2-251-61010-8, EUR 55,00
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Richard de Mediavilla: Troisième Quodlibet. Édition critique et traduction par Alain Boureau (= Bibliothèque Scolastique; 12), Paris: Les Belles Lettres 2017, XC + 373 S., ISBN 978-2-251-44635-6, EUR 55,00
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Rezension von:
Nikolaus Egel
Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Nikolaus Egel: Richard de Mediavilla: Quodlibets (Rezension), in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 1 [15.01.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/01/29604.html


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Richard de Mediavilla: Quodlibets

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Der doctor solidus genannte Franziskaner Richard de Mediavilla (ca. 1243-1308), der - wie der Name bereits andeutet - aus Menneville in der Picardie (und nicht, wie es die Tradition mitunter will, aus dem Ort "Middleton" in England) stammte, ist einer jener originellen scholastischen Denker, die trotz ihrer immensen Bedeutung für die weitere Geistesgeschichte bis weit ins 17. Jahrhundert hinein bisher zu wenig zur Kenntnis genommen worden sind und die - sehr zu Unrecht - stets im Schatten der "Großen" des 13. und 14. Jahrhunderts (etwa Thomas von Aquin oder Johannes Duns Scotus) standen. Als Schüler von Wilhelm de la Mare und Matthaeus von Acquasparta, die er in Paris gehört hatte, übernahm er zwar von ihnen einige Gedankengänge, entwickelte sie aber auf grundlegende Weise weiter und gelangte mitunter zu Schlussfolgerungen, die Überlegungen seiner berühmten franziskanischen Nachfolger Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham vorwegzunehmen scheinen. Auch war er zu seiner Zeit durchaus nicht unbekannt: als jahrelanger Magister regens der Pariser Universität, als Provinzial der Ordensprovinz Francia sowie als spiritueller Mentor Ludwigs von Anjou hat er auf seine Zeit nicht nur geistig, sondern auch politisch eingewirkt und war in den damaligen intellektuellen Zirkeln mit Sicherheit präsent.

Daher ist es erfreulich, dass Alain Boureau nach seiner hervorragenden Monografie über Richard de Mediavilla aus dem Jahr 2010 [1], die das bis dahin gültige Referenzwerk über diesen wichtigen scholastischen Autor von Edgar Hocédez [2] aus dem Jahr 1925 ablöste, sowie seiner Edition und Übersetzung der Questiones disputatae Richard de Mediavillas in sechs Bänden (2011-2014) [3] nun auch die drei Quodlibeta, die neben Richards Sentenzenkommentar und seinen Quaestiones zu dessen wichtigsten Schriften zählen, in Edition und Übersetzung in drei Bänden vorgelegen konnte. Alain Boureau datiert die Abfassung der Quodlibeta auf die 90er-Jahre des 13. Jahrhunderts, womit sie ungefähr zeitgleich mit den Questiones disputatae desselben Autors entstanden sind.

Die in den Quodlibeta von Richard de Mediavilla behandelten Themengebiete sind von erstaunlicher Vielfalt: das erste Quodlibet, das aus 22 Quaestionen besteht, behandelt aufeinanderfolgend Fragen bezüglich Gott, Christus und der geschöpflichen Welt (etwa über die intellektive Seele, die Freiheit des Willens, aber auch die Natur des Lichtes) sowie zahlreiche weitere metaphysische und naturphilosophische Fragen, die mit diesen Themen in Zusammenhang stehen.

In dem mit 31 Quaestionen längsten, zweiten Quodlibet dominieren - neben der für die Datierung des Werkes wesentlichen 30. Quaestion über die steuerlichen Verpflichtungen der Kleriker - vor allem folgende Themen: die Kategorie der Quantität in Verbindung mit Diskussionen über die Eucharistie, die Abstufung der Formen in der geschaffenen Welt, mögliche Begrenzungen der Macht Gottes sowie zahlreiche naturphilosophische und moralische Fragestellungen.

Das dritte Quodlibet schließt die Serie mit 28 weiteren Quaestionen ab, in denen die grundlegenden Gedankengänge Mediavillas noch einmal vertieft und erweitert werden, wobei hier vor allem die Auseinandersetzungen mit Petrus Olivi und den Spiritualen eine besondere Rolle spielen. Neben weiteren Überlegungen bezüglich der Eucharistie, der Quantität, des Bußsakraments und über rechtliche Fragen, wird hier auch ein neues Thema angesprochen: die kritische Auseinandersetzung mit der Vorstellungskraft, die im Kreis der Franziskaner der Zeit eine besondere Rolle spielte. Dementsprechend behandelt Mediavilla in seinen Quaestionen hier die Möglichkeit von Behexung, der Voraussage durch Träume und der Beeinflussung der Dinge durch Zauberei über eine gewisse Entfernung. Zudem werden verschiedene Zustände der Sünde thematisiert.

Das Verdienst dieser sehr umfangreichen Edition und Übersetzung der Quodlibeta Richards de Mediavilla durch Alain Boureau steht außer Frage. Dass er nach der Veröffentlichung der Questiones disputatae weiterhin die Kraft und das intellektuelle Durchdringungsvermögen hatte, nun auch die Quodlibeta - das zweite Hauptwerk dieses bislang zu wenig bekannten Autors - in drei Bänden in so kurzer Zeit fertigzustellen, kann man nicht hoch genug einschätzen. Es ist eine ausgezeichnete Leistung, die uns einen weiteren wichtigen Text des 13. Jahrhunderts nun erstmals in Edition und französischer Übersetzung erschließt. Dafür gebührt Alain Boureau größter Dank von allen, die sich mit Richard de Mediavilla und den theologischen und politischen Diskussionen gegen Ende des 13. Jahrhunderts auseinandersetzen.

Dennoch gibt es einige kleine Kritikpunkte, die hier kurz angeführt sein sollen. Sie schmälern Boureaus Leistung gerade auch vor dem Hintergrund der oben genannten großen Monografie jedoch kaum. Die generelle Einführung zu Leben und Werk Richards de Mediavilla ist mit 15 Seiten (Bd. 1, VII-XXII) ein wenig kurz ausgefallen. Hier hätte sich der Rezensent über eine etwas ausführlichere Einführung gefreut. Dieses Manko wird jedoch insofern wettgemacht, als Alain Boureau jedem der Quodlibeta eine sehr ausführliche Kommentierung und Besprechung aller einzelnen Quaestionen voranstellt, die den Leser sehr gut über den jeweiligen Kontext der verschiedenen Quaestionen informieren und ihre Bedeutung verdeutlichen.

Boureau hat seiner lateinischen Edition den Frühdruck aus Brescia zugrunde gelegt (1591), den er mit sechs Manuskripten abgeglichen hat, deren genaue Provenienz und Entstehungszeit dem Leser jedoch nicht genannt werden. Der lateinische Text entspricht nicht den Ansprüchen einer kritischen Edition, ein Stemma wird nicht angegeben, was auch den Nachvollzug des Apparats in der Edition ein wenig erschwert. Alain Boureau gesteht das jedoch offen ein, wenn er schreibt, dass er "une édition partiellement critique" (Bd. 1, XXII) vorlegen möchte, die nicht den Anspruch einer kritischen Edition erhebt. Vorliegende Edition ist der Ausgabe von Brescia (1591) dennoch vorzuziehen, weshalb jeder Leser diese Einschränkung gerne nachsehen wird. Zweifellos wird Boureaus Edition zur Grundlage für alle weiteren Forschungen über Richard de Mediavilla werden. Und anhand der Kürze der Zeit und des Umfangs der Aufgabe kann auch hier der alte römische Grundsatz gelten: "Bis dat, qui cito dat."

Vielleicht mag Boureaus besondere Aufmerksamkeit auf der französischen Übersetzung gelegen haben, denn diese ist - wie schon bei den von ihm übersetzten Questiones disputatae - ausgezeichnet. Sie gibt die lateinische Diktion der Quodlibeta hervorragend wieder und fügt dem lateinischen Text sogar Eleganz hinzu, ohne ihm dadurch untreu zu werden. Es ist eine Freude, die Übersetzung zu lesen, was auch durch ein Glossar erleichtert wird, das der Edition und Übersetzung vorangestellt ist. Schön wäre es freilich gewesen, wenn der Verlag sich hätte entschließen können, den Bänden noch ein Personen- und Sachverzeichnis hinzuzufügen, was das Nachschlagen im Text mit Sicherheit erleichtert hätte. Dafür gibt es am Ende eines jeden Bandes jedoch einen Nachweis der im Text direkt angeführten Zitate, was hilfreich ist.

Um mir ein abschließendes Urteil zu erlauben: Alain Boureau hat zwar keine kritische, aber dennoch eine verlässliche und unbedingt zu empfehlende moderne Edition der Quodlibeta Richards de Mediavilla mit sehr gelungener französischer Übersetzung in drei Bänden vorgelegt, die die bisherigen Textausgaben dieses Werkes in jeder Hinsicht weit übertreffen. Schon der Umfang dieses Projektes (mehr als 1000 Seiten) ist beeindruckend und verdient Respekt. Die Ausführung ebenso. Kleine Kritikpunkte, die aber ohnehin jeder Leser anders sehen wird, fallen anhand dieses ambitionierten Projekts kaum ins Gewicht. Seine Edition und Übersetzung der Quodlibeta sei jedem, der Richard von Mediavilla und die denkerischen Bemühungen der mittelalterlichen Intellektuellen kennenlernen möchte, wärmstens empfohlen. Um mit einem Seneca-Zitat durch den Zeitgenossen Richards de Mediavilla, Roger Bacon, zu schließen: "Es wird eine Zeit kommen, in der der Tag und die Sorgfalt einer weiter entfernten Zeit das, was nun verborgen ist, ans Licht bringen werden." Alain Boureau hat mit seiner Edition und Übersetzung einen weiteren wichtigen Schritt auf diesem Weg getan. Dafür gebührt ihm unser Dank.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Alain Boureau: L'inconnu dans la maison: Richard de Mediavilla, les Franciscains et la Vierge Marie à la fin du XIIIe siècle, Paris 2010.

[2] Vgl. Edgar Hocédez: Richard de Middleton: sa vie, ses œuvres, sa doctrine, Louvain / Paris 1925.

[3] Vgl. Richard de Mediavilla: Questions disputées, hg. u. übers. v. Alain Boureau, lat.-frz., 6 Bde., Paris 2011-2014.

Nikolaus Egel