Rezension über:

Aage Ansgar Hansen-Löve: Über das Vorgestern ins Übermorgen. Neoprimitivismus in Wort- und Bildkunst der russischen Moderne (= Anfänge), München: Wilhelm Fink 2016, 506 S., 36 Farbabb., ISBN 978-3-7705-5947-3, EUR 59,00
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Rezension von:
Eckhart J. Gillen
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Jessica Petraccaro-Goertsches
Empfohlene Zitierweise:
Eckhart J. Gillen: Rezension von: Aage Ansgar Hansen-Löve: Über das Vorgestern ins Übermorgen. Neoprimitivismus in Wort- und Bildkunst der russischen Moderne, München: Wilhelm Fink 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15.04.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/04/29277.html


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Aage Ansgar Hansen-Löve: Über das Vorgestern ins Übermorgen

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Das vorliegende Werk des emeritierten Slawisten Aage A. Hansen-Löve geht zurück auf weit verstreut publizierte Aufsätze, die für das Buch "massiv überarbeitet", erweitert und aktualisiert wurden im Sinne einer "Homogenisierung von Fakten, Thesen und Stillagen der so unterschiedlichen Ausgangstexte." Hansen-Löve spricht selbst von den "so heterogen scheinenden Bäche(n) und überraschenden Wasserfälle(n)", die mit "völlig neu" konzipierten Passagen schließlich "zu einem vielfarbigen Strom" vereint wurden (15). Unvermeidlich kommt es bei der Neuzusammensetzung der im Anhang ("Quellen der Kapitel", 487f.) aufgeführten 15 Aufsätze und Studien des Autors zu den 13 Kapiteln, 73 Abschnitten und 48 Unterabschnitten des Buches gelegentlich auch zu Wiederholungen.

Hansen-Löve nimmt den Leser auf eine weitverzweigte Reise in den Dschungel der "archaischen Subkultur der russischen Sektenwelt" mit, die ihn abseits der Hauptrichtungen des russischen Symbolismus, Primitivismus, Futurismus, Formalismus und Konzeptualismus auch mit Gnosis und Häretik, Mysterienkulten, Hermetik, Asketik und Kannibalismus, Sekten, chlystischen Tanzkulten, Altgläubigen, Orthodoxien und Häresien konfrontiert. Offensichtlich interessiert sich Hansen-Löve vor allem für die dunkle, irrationale Seite der russischen Moderne, für ihre religiösen, sektiererischen, magischen, aber auch karnevalistisch-absurden Aspekte und weniger für die konstruktivistisch-technizistische.

Der Autor unterscheidet dabei prinzipiell drei Phasen der russischen Avantgarde, eine erste aggressive, die auf Schock und Konventionsbruch, auf den Skandal um jeden Preis setzt, den man als Vorspiel auf "jene Totalitarismen, die nach den 'Goldenen Zwanzigern' in den stählernen Dreißigern die totale Macht und dann den totalen Krieg eroberten", verstehen kann (169). Parallel zu dieser Phase der negativen Verfremdungs-Ästhetik entwickelt sich eine konstruktive, die auf Basis archaischer Codes eine "neue Universal-Sprache", eine "Universalpoetik" (Velimir Chlebnikov) anstrebt. Der auf das Archaische und Archetypische zielende Neoprimitivismus konnte zu einem Identität stiftenden Positivmodell für die russischen Künstler werden, die in der Ikone und der bäuerlichen Gebrauchskunst den ungekünstelten Ausdruck des Lebens zu entdecken glaubten. Natalja Gontscharowa erklärte anlässlich ihrer Ausstellung 1913: "Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich alles studiert, was der Westen mir geben konnte, aber im Grunde hat mein Land alles hervorgebracht [...]. Nun schüttle ich den Staub von meinen Füßen und lasse den Westen hinter mir [...] Mein Weg führt zu der Quelle aller Kunst, dem Osten." Während in Frankreich und Deutschland Künstler in exotische, von Europa kolonisierte Länder reisten oder in ethnologische Museen gingen, lag in Russland das Paradies des Primitivismus im eigenen Hinterland, in den schamanistischen Kulturen Sibiriens, in der tartarisch-mongolischen Kultur der asiatischen Steppe und in der bäuerlichen Kultur des ländlichen Russlands. Der Maler Alexander Schewtschenko, der den Begriff Neoprimitivismus prägte, erklärt 1913: "Man nennt uns Barbaren und Asiaten. Ja, wir sind Asien und wir sind stolz darauf, denn 'Asien ist die Wiege der Völker'".

Nach der Revolution 1917 folgt auf den Neoprimitivismus ein pragmatischer Konstruktivismus, der als "Produktionskunst" die Künstler zur Gestaltung einer neuen Gesellschaft in die Pflicht nimmt. Mit der freiwilligen "Nullstellung" der Kunst und der Forderung, jeder Künstler sei ein Ingenieur, ein Techniker, der die neue Welt konstruiert, wurde die Kunst als Medium einer kritischen Reflexion der Gesellschaft aufgegeben. Malewitschs "Architektonen" haben nichts mit El Lissitzkys "Wolkenbügeln" über Moskaus Ringstraßen zu tun, sie sind Modelle einer Welt, in denen die Schwerkraft abgeschafft ist (174).

Hansen-Löves drittes Avantgardemodell reagiert auf das Scheitern der Neoprimitivismen und der Utopien von der möglichen Konstruktion einer neuen Welt des Fortschritts und der Ordnung. Im Zeichen der Dekonstruktion werden angesichts des Stalinismus "die den Avantgarden immanenten Totalitätsphantasien und ihre linksutopischen Projektionen selbst zum Gegenstand der Verfremdung" (175) und Objekt satirischer Darstellung, wie z.B. in dem Fünfjahrplan-Roman "Die Baugrube", aus dem Andrej Platonow mit subversiver Ironie einen Anti-Produktionsroman macht. Der Moskauer Konzeptualismus der 1960er-Jahre und die Postmoderne kündigen sich hier bereits an. Diese postmoderne Abrechnung mit der revolutionären sowjetischen Avantgarde distanzierte sich scharf von deren autoritären Führern wie Majakowski oder Malewitsch, von ihrem phallischen Kult der Männlichkeit und des Heldentums, mit denen sie die totalitären Pläne eines omnipotenten Staates zur radikalen Umgestaltung der Natur unterstützten. Auf den Kollaps der kommunistischen Moderne reagierten die Moskauer Konzeptualisten mit Sarkasmus, wenn Kabakow erklärt, ihm und seinen Freunden stünden z.B. die Fleischpasteten einer Köchin in der Gemeinschaftsküche einer Kommunalwohnung näher als die hängenden Konstruktionen eines Rodtschenko.

Hansen-Löves Schema der drei parallelen bzw. konsekutiven Avantgarden Russlands wird überwölbt und synthetisiert von seiner Theorie der Re-Progression, dem "Übersprung vom Heute über das Vorgestern ins Übermorgen" (29), die er auf einem grafischen Schema mit zwei Pfeilen veranschaulicht: einem kleinen aus dem Heute zurück und einem die Gegenwart überwölbenden großen Pfeil aus der Vergangenheit in die Zukunft. Von einer gedachten Gegenwart des mimetisch dreidimensionalen Raums folge der Sprung über den Rückgriff auf die sakrale zweidimensionale Fläche der Ikone, die von den Neoprimitivisten wieder entdeckt wurde, in die Zukunft einer imaginierten vierten Dimension im Suprematismus einer kosmisch entgrenzten Welt.

Wo allerdings liegt in dieser über fast vier Jahrzehnte gedehnten Großepoche der russischen Avantgarden zwischen 1900 und den 1930er-Jahren das "Heute"? Verkörpern es die um 1913 trotz der Avantgarde immer noch dominierenden Realisten und Neorealisten? Sie lassen sich keineswegs automatisch dem reaktionären, großbürgerlichen und aristokratischen Milieu zuschlagen. Gerade Angehörige der linken Intelligenz wie Plechanow und Gorki oder ein Berufsrevolutionär wie Lenin sympathisierten nicht mit den Kunstrevolutionären, sondern mit einer mimetischen, dreidimensionalen, traditionsbewussten Kunst. Der "große Bruch" der Avantgarden war, wie Felix Philipp Ingold in seiner bahnbrechenden Studie und Dokumentation "Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913" (Berlin 2013) ausführt, keineswegs so einschneidend, weniger nachhaltig, glich vielmehr "einer Zickzackbewegung", die das, "was sie an der einen Stelle ausgrenzte, andernorts doch wieder zuließ." (Ingold, 232)

Das eindrucksvolle Handbuch von Hansen-Löve, das als Summe eines intensiven Forscherlebens gelten kann, kartografiert die russischen Avantgarden kenntnisreich und detailverliebt und lässt sie unter dem Mikroskop zahlreicher Einzelstudien lebendig werden. In diesem Labyrinth von Motiven und Metaphern verliert der Leser immer wieder einmal den roten Faden der ihm vertrauten Geschichte der russischen Avantgarde, was aber für ihn kein Schaden sein muss.

Eckhart J. Gillen