Rezension über:

Andreas Schmidt-Schweizer (Hg.): Die politisch-diplomatischen Beziehungen in der Wendezeit 1987-1990 (= Quellen zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn 1949-1990; Bd. 3), Berlin: de Gruyter 2018, XVI + 744 S., ISBN 978-3-11-048623-0, EUR 169,95
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Rezension von:
Maximilian Graf
European University Institute, Florenz
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Maximilian Graf: Rezension von: Andreas Schmidt-Schweizer (Hg.): Die politisch-diplomatischen Beziehungen in der Wendezeit 1987-1990, Berlin: de Gruyter 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15.04.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/04/31124.html


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Andreas Schmidt-Schweizer (Hg.): Die politisch-diplomatischen Beziehungen in der Wendezeit 1987-1990

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Die deutsch-ungarischen Beziehungen am Ende des Kalten Kriegs wurden bisher vor allem im Kontext der Grenzöffnung vom September 1989 thematisiert. [1] Darüber hinaus waren sie dem deutschsprachigen Publikum primär anhand der Memoirenliteratur erschließbar. [2] Die vorliegende Dokumentenpublikation bedeutet somit einen Quantensprung und reiht sich in die rege Editionstätigkeit zur Geschichte der deutschen Einheit im internationalen Umfeld ein. Als erster Teil einer auf drei Bände konzipierten Reihe zu den politisch-diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn von 1949 bis 1990 nimmt der vorliegende Band zur "Wendezeit" nicht nur das Verhältnis zwischen Bonn und Budapest, sondern auch den ungarischen Transformationsprozess in den Blick. Die DDR bleibt weitgehend ausgeklammert.

Das Werk gliedert sich in eine umfassende monografische Einführung, gefolgt von 75 Dokumenten. Diese umfassen neben den großteils erstmals bzw. erstmals in deutscher Sprache publizierten Akten zu den bilateralen Beziehungen und wechselseitigen Wahrnehmungen auch eine Vielzahl von Schriftstücken zur Transformation in Ungarn, die bereits online veröffentlicht wurden. [3] Auch wenn die Auswahl und die spärliche Kommentierung der Dokumente eine Diskussion der editorischen Praxis erlauben würde, soll hier die Forschungs- und Analyseleistung des Herausgebers Andreas Schmidt-Schweizer im Vordergrund stehen. Die Kontextualisierung der Quellen erfolgt durch Vorbemerkungen zu jedem Dokument, eine Chronologie sowie die einleitende Darstellung zur Entwicklung der Beziehungen von 1949 bis 1990, die einen großen Mehrwert der Publikation darstellt.

Bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 1973 stand die Wirtschaft im Zentrum der ungarisch-westdeutschen Interaktionen. Bereits seit 1966 war die Bundesrepublik der wichtigste westliche Handelspartner Ungarns, 1977 stieg sie im Gesamtaußenhandel des Landes zur Nummer zwei hinter der Sowjetunion auf. Infolge der ebenfalls stark wirtschaftlich motivierten Westöffnung Ungarns in den 1970er-Jahren intensivierten sich auch die politischen Beziehungen. Das im Rahmen der Möglichkeiten gut ausgebaute Verhältnis zwischen Bonn und Budapest überstand auch die letzte Hochphase des Kalten Kriegs Anfang der 1980er-Jahre nahezu unbeschadet. Ungarn kämpfte im Warschauer Pakt um die Fortführung seiner Westpolitik, die Bundesrepublik setzt sich in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kontinuierlich für ungarische Interessen ein. 1984 besuchte Helmut Kohl Budapest. Dies war ein Meilenstein, der Durchbruch in den Beziehungen erfolgte aber erst nach der Machtübernahme Michail Gorbatschows in der Sowjetunion. An dieser Wende zu einer "neuen Qualität" (46) setzt der Dokumententeil des Bandes ein. Mitte 1987 begannen in Ungarn Reformschritte, die nicht nur rasch in die Transformation des Landes mündeten, sondern "überdies bedeutende Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der 'deutschen Frage'" (53) hatten.

Als der ungarische Ministerpräsident Károly Grósz im Oktober 1987 die Bundesrepublik besuchte, verfolgte Bonn die Reformbemühungen des wirtschaftlich am Abgrund stehenden Ungarn mit Sympathie und war bereit, diese durch einen Milliardenkredit zu unterstützen. Budapest beendete nun das DDR-Monopol auf die Repräsentation deutscher Kultur, und auch die deutschsprachige Minderheit in Ungarn war kein Tabuthema mehr. Der von 1984 bis 1991 in Bonn stationierte ungarische Botschafter István Horváth entfaltete eine rege Kontakttätigkeit, über die er direkt an zentrale "Transformer" (92, 119), wie den späteren Außenminister Gyula Horn und den späteren Ministerpräsidenten Miklós Németh, berichtete. Letzterer unternahm bereits als für Wirtschaft zuständiger ZK-Sekretär mehrere Reisen in die Bundesrepublik. Kohl schrieb den politischen Reformen und der wirtschaftlichen Öffnung Ungarns "Modellcharakter" (263) für Osteuropa zu. Bonn unterstützte diese Schritte und wollte seine wirtschaftlichen Chancen nutzen.

Die innere Entwicklung Ungarns wurde mit Wohlwollen, jedoch ob ihrer Rasanz zeitweise auch mit Sorge verfolgt. [4] Das Urteil schien nach der Umbettung Imre Nagys und der Aufnahme von Verhandlungen am Runden Tisch einhellig positiv. Während der sich zuspitzenden Flüchtlingskrise im Sommer 1989 bestanden dennoch Zweifel an der Einhaltung der Genfer Konvention durch Budapest. Die Entscheidung zur Grenzöffnung machte derartige Besorgnisse obsolet. Schmidt-Schweizer zeigt in diesem Zusammenhang deutlich auf, dass die weitverbreitete Annahme, Bonn hätte die Ausreise der DDR-Bürger erkauft, unzutreffend ist. Der nächste Ungarn-Kredit war längst in Vorbereitung und die Entscheidung der ungarischen Führung über die Grenzöffnung bereits vor dem Treffen von Horn und Németh mit Kohl und Hans-Dietrich Genscher am 24. August 1989 gefallen. "Das ungarische Verhalten führte so bestenfalls zu einer beschleunigten Abwicklung des Milliardenkredits." (155)

Vor dem Hintergrund großer Dankbarkeit der bundesdeutschen Politik erlebten die Beziehungen mit den Besuchen von Genscher und Kohl in Ungarn bis Jahresende neue Höhepunkte. Mit öffentlichen Stellungnahmen zur Frage der deutschen Einheit hielt sich die ungarische Politik weitgehend zurück, Németh konnte sich aber bereits vor der Verkündung von Kohls Zehn-Punkte Plan ein "organisches Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten vorstellen". (601) Botschafter Horváth sah die Einheit aufgrund des Drucks der DDR-Bevölkerung rasch kommen: "Dieser Prozess ist unserer Meinung nach von außen nur minimal zu beeinflussen, er kann von der politischen Führung in den beiden deutschen Staaten bestenfalls verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden." (613) Da es sich um die Vereinigung des zweit- und drittgrößten Handelspartners Ungarns in das Europa des Gemeinsamen Markts handelte, bereiteten die zu erwartenden ökonomischen Auswirkungen in Budapest einiges Kopfzerbrechen. Auch Bedenken gegenüber einer zu einseitigen Anlehnung an Deutschland kamen auf. Kohl versprach im Juni 1990 im Gespräch mit dem frei gewählten Ministerpräsidenten Jószef Antall "jede Unterstützung" seiner Regierung, "damit die sich aus der Wiedervereinigung ergebende Rekonstruktion der ungarisch-ostdeutschen Beziehungen keine bedeutenderen Verluste für die ungarische Wirtschaft bewirkt". (669) Dies war Ausdruck der von Bonn ausdrücklich anerkannten Schlüsselrolle Ungarns "als unmittelbarer Auslöser des explosionsartigen Wandels in Osteuropa", der "den Weg zur Überwindung der Teilung des Kontinents" (677) eröffnete.

Das vorliegende Werk stellt einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Entspannungspolitik des späten Kalten Kriegs, der ungarischen Transformation und zur Geschichte der deutschen Einheit dar. Es rückt einen kleineren, aber umso gewichtigeren europäischen Akteur in seinem Verhältnis zur Bundesrepublik in den Fokus und macht die ökonomische Komponente dieser Prozesse deutlich. Zu hoffen bleibt, dass vermeintliche historiografische Nebenstränge wie dieser, deren Relevanz zeitgenössisch offenkundig war, künftig stärker in das Gesamtbild einfließen werden.


Anmerkungen:

[1] Z.B. Andreas Oplatka: Der erste Riß in der Mauer. September 1989 - Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009.

[2] István Horváth: Die Sonne ging in Ungarn auf. Erinnerungen an eine besondere Freundschaft, München 2000.

[3] Andreas Schmidt-Schweizer (Bearb.): Themenmodul "Umbruch in Ungarn 1985-1990". in: Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte (Online-Quellenedition), hg. vom Herder-Institut, Marburg 2014, online: http://www.herder-institut.de/go/n2-82f590 (zuletzt abgerufen am 3.2.2018).

[4] Mit Blick auf die Frage der Blockzugehörigkeit sehen andere Autoren sogar eine ausdrücklich auf Erhalt des Status quo ausgerichteten Haltung bundesdeutscher Politiker. Vgl. László Borhi: Dealing with Dictators. The United States, Hungary, and Eastern Europe, 1942-1989, Bloomington 2016, 384-388.

Maximilian Graf