Rezension über:

Rainer Eckert: Revolution in Potsdam. Eine Stadt zwischen Lethargie, Revolte und Freiheit (1989/90), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017, 456 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-374-05022-2, EUR 25,00
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Rezension von:
Peter Ulrich Weiß
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Peter Ulrich Weiß: Rezension von: Rainer Eckert: Revolution in Potsdam. Eine Stadt zwischen Lethargie, Revolte und Freiheit (1989/90), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 7/8 [15.07.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/07/30912.html


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Rainer Eckert: Revolution in Potsdam

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Als brandenburgische Landeshauptstadt besitzt Potsdam nicht nur ein touristisches Image als Sport-, Film- und preußische Residenzstadt, sondern auch eine geschichtliche Zuschreibung als regionales Zentrum von Opposition und friedlicher Revolution in der DDR. Mit Matthias Platzeck wurde ein prominenter Vertreter der frühen Potsdamer Ökologiebewegung erst Oberbürgermeister, dann SPD-Ministerpräsident. Seine bürgerbewegte Vita spielte sich in einer Stadt ab, die vor 1989 politisch, ökonomisch und kulturell im Schatten Ost-Berlins lag und eigentlich im Ruf einer "roten Grenz-, Garnison- und Kaderstadt" stand. Dass es ausgerechnet hier zu einer frühen und starken Mobilisierung von Oppositionskräften und Protestwilligen kam, ist eine erklärungsbedürftige Auffälligkeit der brandenburgischen Umbruchgeschichte - dass es lange brauchte, bis sich Historikerinnen und Historiker dafür zu interessieren begannen, sicherlich ebenso. Die Anzahl der Potsdam- und Brandenburg-bezogenen Forschungsbeiträge zum Thema ist im überregionalen Vergleich überschaubar. Nun liegt mit der Studie des ehemaligen Leiters des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig Rainer Eckert eine umfängliche Darstellung vor, die sich "1989" aus lokalhistorischer Perspektive widmet.

Gegenstand der Studie sind Entstehung und Hergang der Revolution sowie das diesbezügliche Wirken der politischen Oppositionskräfte in der Havelmetropole. Zwar wurden die brandenburgischen Bezirke vom Herrschaftsapparat zunächst kaum als politische Unruhe-Regionen wahrgenommen. Doch blieb die Bezirksstadt nicht von der landesweiten Entwicklung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre abgekoppelt. Insbesondere seit 1987 entstanden unter dem Dach der städtischen Kirchen sowie innerhalb des örtlichen Kulturbundes diverse Gesprächskreise und Gruppierungen, die nicht nur regimekritisch diskutierten, sondern auch nonkonforme und oppositionelle Aktivitäten entfalteten - und als solche in den Fokus von Geheimdienst und Behörden gerieten. Diese hätten allerdings, so Eckert, die ihnen vorliegenden Informationen und Beobachtungen vielfach auch fehlgedeutet, sowohl was konkrete Bewertungen und Zuordnungen als auch die allgemeinen Gefahr- und Risikoabschätzungen für die Zeit ab Frühjahr/Sommer 1989 betrafen.

Das Kapitel "Opposition in Potsdam" stellt in Form eines langen Abrisses die wichtigsten Zirkel, Kreise und Orte vor, wo nonkonform gelebt, regimekritisch diskutiert und oppositionell agiert wurde. Die kaleidoskopartige Zusammenstellung offenbart ein gleichermaßen buntes wie vielschichtiges Spektrum, das im kleinen Maßstab die Mannigfaltigkeit abbildet, wie sie im benachbarten Ost-Berlin oder auch in Großstädten wie Leipzig und Dresden anzutreffen war. Regimekritisches Potenzial sieht der Autor vor allem in den oppositionellen Gruppen unterm evangelischen Kirchendach, in der alternativen Jugendkultur und bei der Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtgestaltung (ARGUS). Dass sich ausgerechnet im vergleichsweise sauberen Potsdam eine starke, nicht-kirchliche grüne Bewegung bildete, kann als Potsdamer Spezifikum gelten. Trotz der präsentierten Fülle an Gruppen betont Eckert, dass es sich im Kern nur um wenige gehandelt habe ("ca. 20 Persönlichkeiten", 415), die als Motor der Oppositions- bzw. Bürgerbewegung gewirkt hätten. Die erste Informationsveranstaltung des Neuen Forums in Potsdam-Babelsberg am 4. Oktober und die am Ende gewaltsam aufgelöste Demonstration für Reformen in der Stadtmitte drei Tage später mit jeweils mehreren Tausend Teilnehmern werden zu Recht als Beginn der lokalen Massenprotestbewegung und Revolution gewertet. Dieser vergleichsweise frühe Beginn der öffentlichen Proteste sticht innerhalb der brandenburgischen Bezirke hervor, in denen ansonsten eher ein verspäteter Revolutionsanfang zu verzeichnen war. Während das Neue Forum im "heißen Herbst" zunächst die mit Abstand größte und wichtigste Oppositionskraft darstellte, avancierten nach dem Fall der Mauer, wie Eckert materialreich ausweist, schon bald die Sozialdemokraten zur stärksten politischen Partei unter den neuen Kräften. Dass sich die Potsdamer Verhältnisse trotz der Entfernung zur Hauptstadt angesichts von Westgrenze und längeren Fahrtwegen nicht im isolierten Reagenzglas, sondern im Resonanzraum Ost-Berlins und seiner Milieus entwickelten, kommt an verschiedenen Stellen zur Sprache.

Im Gegensatz zur detaillierten Darstellung der Oppositions- und Massenprotestbewegung sind die Ausführungen zum Herrschaftsapparat und seiner Akteure jenseits des MfS eher knapp gehalten. Das Kapitel über SED, MfS und deren protokollierte Bevölkerungsstimmungen widmet sich vor allem der Auswertung der Berichtsinhalte. Diese verweisen zum einen auf das ansteigende Maß an Irritation, Unzufriedenheit und Protesthaltung, zum anderen vermitteln sie den Eindruck einer zunächst sehr überschaubaren Anzahl an "feindlich-negativen Kräften" sowie den festen Glauben der Herrschenden, die Krise bewältigen zu können. Eventuelle Erosionsprozesse innerhalb der Potsdamer SED und Blockparteien vermag Eckert weder in der Funktionärsriege noch an der Parteibasis in nennenswertem Umfang auszumachen. Vor diesem Hintergrund muss allerdings erstaunlich bleiben, warum sich Tausende Potsdamer bereits Anfang Oktober der Protestbewegung anschlossen und die Stadt sich zu einem Zentrum der SED-Reformbewegung entwickeln konnte.

Eckert wertete Archivalien aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv und dem Bundesarchiv aus, doch das Gros seiner Quellen setzt sich aus der BStU-Überlieferung zusammen. Dieses Übergewicht an MfS-Akten prägt sowohl die Autorenperspektive als auch die erzählerische Struktur der Darstellung. Zugleich zementiert es den explizit herrschaftsgeschichtlichen Ansatz der Studie. Einmal mehr wird nach der Lektüre deutlich, dass die geheimdienstliche Überwachung und Durchdringung der untersuchten Oppositionsszene auch in Potsdam ganz massiv war. Dass Eckert neben dem Bürgerkomitee "Rat der Volkskontrolle" und dem Runden Tisch ebenso den wenig bekannten Regionalausschuss für Berlin und die brandenburgischen Bezirke in die Analyse einbezieht, ist positiv hervorzuheben. Damit rückt - stellvertretend für eine Reihe von Gremien der Übergangszeit - kommunalpolitisches Engagement in den Fokus, deren eher verborgenes Wirken jenseits von Demonstrationen und Besetzungen von MfS-Dienststellen den Verlauf des revolutionären Gesamtprozesses ebenfalls bedeutsam beeinflusste.

Die Binnenstruktur des Buches folgt der äußeren Chronologie der Ereignisse und schließt mit den ersten freien Wahlen 1990 bzw. der Gründung des Landes Brandenburg ab. Die analytische Reichweite bewegt sich im Rahmen einer Lokal- bzw. Stadtgeschichte; Entwicklungen in Brandenburg, anderen Regionen oder Großstädten werden eher en passant gestreift. Im Ergebnis bietet das Buch eine umfassende, solide Chronik des politischen Umbruchs 1989/90 in Potsdam, die in ihren akteurszentrierten Passagen streckenweise Züge eines Nachschlagewerks zu bestimmten Gruppen und Ereignissen annimmt und sich somit auch für schulische Vermittlungskontexte eignen dürfte. Mit der Beschreibung der MfS-Aktenüberlieferung zu Beginn sowie einem ausführlichen Literatur- und Archivalienverzeichnis am Schluss des Buches macht der Autor seine Quellen und Referenzen transparent und ermöglicht somit jedem Interessierten, sich von der Fülle des ausgewerteten BStU-Archivmaterials und der Sekundärliteratur zu überzeugen. Eine stimmige Auswahl von bekannten und weniger bekannten Fotografien rundet die Ausführungen ab. Mit seiner faktengesättigten Studie trägt Eckert dazu bei, das historische Wissen über die Potsdamer Revolutionsgeschichte von 1989/90 zu fundieren und den lokal gepflegten Erzählhorizont aus Zeitzeugenerinnerung und Erlebnisbericht um historiographische Perspektiven zu erweitern.

Peter Ulrich Weiß