Rezension über:

Walter Scheidel: The Great Leveler. Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century (= The Princeton Economic History of the Western World), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017, XVIII + 504 S., 45 s/w-Abb., ISBN 978-0-6911-6502-8, GBP 27,95
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Rezension von:
Lennart Gilhaus
Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Lennart Gilhaus: Rezension von: Walter Scheidel: The Great Leveler. Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 7/8 [15.07.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/07/30917.html


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Walter Scheidel: The Great Leveler

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Zweifelsohne hat Walter Scheidel mit "The Great Leveler" einen großen Wurf gelandet. Inspiriert von den viel beachteten Arbeiten von Anthony Atkinson, Branko Milanovic und Thomas Piketty [1] hat sich Scheidel in seinem umfangreichen Buch nicht weniger als das Ziel gesetzt, die Entwicklung ökonomischer Ungleichheit von der Steinzeit bis in das 21. Jahrhundert nachzuverfolgen. Vor allem stellt Scheidel die These auf, dass es in erster Linie Gewalt gewesen ist, die im Verlauf der Geschichte Einkommensungleichheiten gemindert hat, während Friedenszeiten zu deren Verschärfung beigetragen haben. Insgesamt macht Scheidel vier von ihm als "apokalyptische Reiter" bezeichnete Faktoren aus, die eine Nivellierung der ökonomischen Verhältnisse herbeiführen konnten: Massenmobilisierung im Krieg, transformatorische Revolutionen, Staatskollaps und Pandemien.

In einer kurzen Einführung (1-22) stellt Scheidel zunächst sein Thema und seine Methoden vor und rechtfertigt die Nutzung von Gini-Koeffizient und der prozentualen Verteilung des Gesamteinkommens als Gradmesser für Ungleichheit in modernen wie vormodernen Gesellschaften. Anschließend gibt Scheidel einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung ökonomischer Ungleichheit (23-112), um in den folgenden Teilen die vier oben genannten Faktoren näher zu beleuchten. Dabei nimmt sich Scheidel jeweils ein besonders herausstechendes Beispiel vor, um anschließend kursorisch die Bedeutung von Krieg (113-210), Revolution (211-254), Kollaps (255-288) und Seuche (289-342) in anderen Zeiten und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu beleuchten. Die Bandbreite der Beispiele ist groß: Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert und von Japan bis Mittelamerika finden Gesellschaften Beachtung. In den beiden abschließenden Kapiteln thematisiert Scheidel noch Alternativen zu Gewalt zur Verringerung von Ungleichheit (343-402) und liefert einen Ausblick auf die Entwicklung ökonomischer Ungleichheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts (403-444).

Scheidels Fazit fällt dabei äußerst pessimistisch aus. Er liegt sicher richtig, wenn er Gewalt und gewaltsamen Schocks die weitaus größte Rolle bei der Verringerung von ökonomischer Ungleichheit zuweist. Möglicherweise unterschätzt er aber friedfertige Methoden zu sehr. Auch verharrt Scheidel wohl zu sehr auf der Ebene von Staaten und beleuchtet zu wenig lokale und regionale Faktoren, die etwa für die fragmentierte Welt des europäischen Mittelalters, das abseits der Pest ohnehin nur am Rande diskutiert wird, von äußerster Relevanz gewesen sind. Trugen nicht etwa auch die Zünfte und Gilden teilweise dazu bei, dass die Einkommensverhältnisse in den Städten nicht zu weit auseinanderdrifteten?

Ohnehin greift Scheidel immer wieder auf dieselben Beispiele zurück. Für die Vormoderne stehen mehrfach das römische Imperium und das chinesische Reich (vor allem der Han-Dynastie) im Vordergrund, die Scheidel auch schon in anderen Arbeiten miteinander verglichen hat. [2] Daneben liegt Scheidels besonderer Fokus auf der Zeit der beiden Weltkriege, in der mehrere Faktoren zusammenspielten und die zu einer besonders starken Nivellierung der wirtschaftlichen Verhältnisse führte. Die vor- und frühkoloniale Mesoamerika wird gestreift, afrikanische Gesellschaften und das vormoderne Asien abseits von China kommen hingegen fast überhaupt nicht vor. Nichtsdestoweniger ist der Kenntnisreichtum Scheidels groß und man muss auch in Rechnung stellen, dass ein exemplarisches Vorgehen notwendig ist, um nicht den Rahmen zu sprengen. Gerade die verschiedenen Vergleiche machen aber die Wichtigkeit dieser Arbeit aus. Selten findet man Bemerkungen zum Untergang des weströmischen Reiches, der Azteken, von Tang-China und zum Kollaps der Staaten der späten Bronzezeit im Mittelmeerraum in einem Band vereint und unter einer Fragestellung in Beziehung zueinander gesetzt.

Dennoch wäre es lohnenswert gewesen, Abweichungen von den entworfenen Szenarien und Situationen, in denen es auf friedfertigem Wege zu einem Rückgang ökonomischer Ungleichheit gekommen ist, näher zu beleuchten. So sieht auch Scheidel die Welt der griechischen Stadtstaaten als nur in vergleichsweise geringem Maße von ökonomischer Ungleichheit geprägtes System an (192-198). Als Hauptgrund dafür sieht Scheidel den hohen Grad an militärischer Mobilisierung der Gesellschaften an. Diese sei vor allem mit den politischen Institutionen und Vorstellungen von Egalität in den Stadtstaaten verknüpft gewesen, was aber als eine reduktionistische Sichtweise zu gelten hat. Es ist äußerst fraglich und umstritten, wie stark die griechischen Poleis, vor allem abseits der Hegemonialmächte Athen und Sparta, auf den Krieg ausgerichtet waren, und ob wirklich ein so enger Zusammenhang zwischen der politischen Organisation und der Mobilisierung der Bürger zu sehen ist, wie Scheidel postuliert. Auch thematisiert Scheidel nicht die in Griechenland entwickelten und durchaus erfolgreichen Methoden zur friedfertigen Beseitigung sozialen Unfriedens aufgrund zunehmender ökonomischer Ungleichheit. Zu denken wäre etwa an die von Solon im archaischen Athen durchgeführte Schuldentilgung (seisachtheia).

Daneben wird für vormoderne Gesellschaften wohl auch zu wenig berücksichtigt, dass von den Reichen häufig erwartet wurde, beträchtliche Teile ihres Kapitals in die Gesellschaft zu investieren, um den sozialen Frieden zu wahren. Auch so wurde ökonomische Ungleichheit zumindest teilweise begrenzt. Entsprechend musste, wer in der römischen Kaiserzeit ein städtisches Amt übernehmen wollte, dafür nicht nur einen gewissen Betrag in die Stadtkasse einzahlen, sondern sich zusätzlich noch als Euerget betätigen. Diese und andere Formen der Redistribution in vormodernen Gesellschaften tauchen in Scheidels Buch aber kaum auf.

Scheidels Arbeit beeindruckt nichtsdestoweniger und hinsichtlich der großen Linien der Entwicklung ökonomischer Ungleichheit in Laufe der Menschheitsgeschichte liegt er sicher richtig. In den Details tuen sich nach Meinung des Rezensenten aber Möglichkeiten zur einer friedlichen Nivellierung ökonomischer Unterschiede auf, die Scheidel zu wenig berücksichtig. Indes ist "The Great Leveler" ein wichtiger Beitrag zur Geschichte ökonomischer Ungleichheit, an dem kein zukünftiger Forscher vorbeikommen wird.


Anmerkungen:

[1] Anthony Atkinson: Inequality. What Can Be Done?, Cambridge, MA 2015; Branko Milanovic: Global Inequality. A New Approach for the Age of Globalization, Cambridge, MA 2016; Thomas Piketty, Le capital au XXIe siècle, Paris 2013.

[2] Walter Scheidel (ed.): Rome and China. Comparative Perspectives On Ancient World Empires, Oxford 2009; Walter Scheidel (ed.): State Power in Ancient China and Rome, Oxford 2015.

Lennart Gilhaus