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Stephan Conermann: Islamische Welten: Neuere Forschungen zur Sklaverei und zu anderen Formen starker asymmetrischer Abhängigkeit I. Einführung, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 1 [15.01.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
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Islamische Welten: Neuere Forschungen zur Sklaverei und zu anderen Formen starker asymmetrischer Abhängigkeit I

Einführung

Von Stephan Conermann

Am 2. Januar hat das Bonner Exzellenzcluster "Beyond Slavery and Freedom. Asymmetrical Dependencies in Pre-modern Societies" seine Arbeit aufgenommen. Das interdisziplinär und vergleichend angelegte Cluster baut ein internationales Zentrum für Abhängigkeitsforschung (www.dependency.uni-bonn.de) auf. Bisher konzentrierten sich die Debatten über Formen der Knechtschaft und erzwungener Arbeit vornehmlich auf Sklaverei. Ferner prägten die Erfahrungen mit der transatlantischen Sklaverei, die eng mit der Herausbildung des modernen Westens verknüpft ist, bis heute unser Verständnis von Freiheit und Unfreiheit. Das Cluster wird diese dyadische Vorstellung "Sklaverei versus Freiheit" zu überwinden versuchen, indem es mit "asymmetrischer Abhängigkeit" ein neues Schlüsselkonzept entwickelt, das alle möglichen Arten von Dependenzen (etwa: Schuldknechtschaft, Zwangsarbeit, Dienstbarkeit, Leibeigenschaft, Hausarbeit, aber auch Lohnarbeit und einige Formen von Patronage) berücksichtigt. Dabei werden auch Epochen, Räume und Kontexte der Weltgeschichte bearbeitet, die nicht der europäischen Kolonisierung ausgesetzt waren (z.B. altorientalische Kulturen oder vormoderne Gesellschaften in Europa, Asien, Afrika und Amerika).

Im Rahmen des Clusters werden wir in regelmäßigen Abständen über Neuerscheinungen zur Sklaverei und zu anderen Formen starker asymmetrischer Abhängigkeit berichten. Dieses erste FORUM beginnt mit der Besprechung eines interessanten Sammelbandes. Jeff Fynn-Paul hat alle AutorInnen verpflichtet, ihre Fallstudien auf die von ihm 2009 entwickelte Theorie der "Slaving Zones" zu beziehen. Das haben alle BeiträgerInnen auch wirklich umgesetzt. Aus diesem Grund hinterlässt der Band trotz der thematischen Breite der einzelnen Artikel einen insgesamt runden Eindruck. (Conermann zu Fynn-Paul/Pargas) Es folgen fünf Abhandlungen zum Osmanischen Reich. 14 Beiträge finden sich in einem weiteren Sammelband, der sowohl die große inhaltliche und regionale Breite des Themas zeigt wie auch den Reichtum an Quellen: Stiftungsurkunden, Gerichtsakten, Nachlässe, Steuerregister, Rechtsgutachten, Reiseberichte und Briefe. Darüber hinaus wird auch deutlich, dass sich gegenwärtig eine große Zahl türkischer ForscherInnen mit verschiedenen Facetten der Sklaverei befasst. (Wagner zu Güneş-Yağcι/Yaşa)
Einen wichtigen Forschungsgegenstand bildet seit langer Zeit der Harem. Interessanterweise kam es nicht selten vor, dass Sklavinnen aus dem Palast freigelassen wurden. Anlass für ein solches Ereignis bot etwa ein Herrscherwechsel. Die an der Universität Marmara lehrende Historikerin Betül İpşirli Argιt befasst sich in einer spannenden Arbeit mit den Handlungsoptionen dieser finanziell in der Regel nicht schlecht ausgestatteten Frauen. Durch ihre vielfältigen Aktivitäten übten sie einen nicht unwichtigen Einfluss auf die osmanische Gesellschaft aus. (Wagner zu İpşirli Argιt) Da der Harem keinem Außenstehenden zugänglich war, entfachte dieser verbotene Ort bekanntlich die Phantasie vieler Europäer. So existieren etwa viele - wohl rein fiktive - Abbildungen der in westlichen Quellen "Roxelane" bezeichneten Hauptfrau (haseki sultan) von Süleyman I. (reg. 1520-66). Der Sultan hatte Hürrem, so ihr türkischer Name, freigelassen, nur um sie anschließend heiraten zu können. Eine neue Biographie skizziert anschaulich das Leben dieser politisch sehr aktiven und dadurch besonders auffälligen Frau. (Witzenrath zu Peirce) Neben den Frauen wohnten auch Eunuchen in dem Harem. Vor allem die Position des Obersten Haremseunuchen war lange Zeit mit sehr vielen Möglichkeiten, Einfluss auf die Regierungsgeschäfte zu nehmen, ausgestattet. Zusammen mit den Haremsfrauen, den Pagen und den weißen Eunuchen, die die Audienzräume des Sultans zu bewachen hatten, bildeten sie vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts den innersten Zirkel der Macht am osmanischen Hof. (Conermann zu Hathaway)
Ein weiteres interessantes Thema stellt die Verbindung von Piraterie und Sklaverei im östlichen Mittelmeer während des 16. und 17. Jahrhunderts dar. Zwar schloss das Osmanische Reich eine Reihe von Abkommen mit Venedig und anderen europäischen Mächten zur Bekämpfung der Piraterie, doch geht aus den Quellen hervor, dass die - juristisch wichtige - Problematik, zwischen kriminellen Korsaren und staatlich sanktionierten Freibeutern sauber zu unterscheiden, nie wirklich verschwand. Osmanische Rechtsgelehrte diskutierten darüber ausführlich in ihren gutachterlichen Stellungnahmen. (Şen zu White) Das östliche Mittelmeer steht auch im Zentrum eines weiteren Sammelbandes. Die einzelnen Beiträge widmen sich verschiedenen Aspekten der in diesem Raum weit verbreiteten Sklaverei und dem damit verbundenen Sklavenhandel. Da sich der behandelte Zeitraum vom 11. bis zum 16. Jahrhundert erstreckt, liegt der Schwerpunkt des Bandes auf den mannigfaltigen Beziehungen und Interaktionen zwischen dem Mamlukensultanat, den europäischen Seerepubliken und dem Schwarzmeergebiet. (Kollatz zu Amitai/Cluse) Eine Region, die bisher in der Sklavereiforschung eher am Rande behandelt wurde, ist Zentralasien. Zwar scheint in einer Neuerscheinung zu diesem Thema das Bemühen, die nach der russischen Annexion proklamierte Abschaffung der Sklaverei und das gleichzeitig verkündete Verbot des Sklavenhandels als Mythos zu enttarnen, nicht ganz zu überzeugen, doch bietet die Studie dennoch zahlreiche wertvolle Einsichten sowohl in den regionalen und überregionalen Sklavenhandel wie auch in die Lebensumstände der versklavten Personen zwischen 1750 und 1873. (Smolarz zu Eden)
Den Schlusspunkt in diesem FORUM bildet die Rezension einer sehr gelungenen Buches über die Geschichte der Sklaverei und deren Beendigung in Iran vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1929. Die Verfasserin kann sehr schön darlegen, dass Sklavenemanzipation in der Regel ein sehr komplexer Prozess ist, in dem viele Akteure mit sehr unterschiedlichen Interessen mitwirken. (Kollatz zu Mirzai)

Ich denke, das Thema wird uns noch weiter beschäftigen, zumindest in den kommenden sieben Jahren.

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