sehepunkte 19 (2019), Nr. 3

Rezension: Die Protokolle der Weisen von Zion

Kaum eine Schrift aus der umfangreichen Bibliothek des Antisemitismus hat eine so verheerende, bis in die Gegenwart reichende und globale Wirkungsgeschichte wie die am Ende des 19. Jahrhunderts von reaktionären russischen Antisemiten aus französischen und deutschen fiktiven Erzählungen kompilierten "Protokolle der Weisen von Zion". Mit ihrer Entstehungsgeschichte steht dieser Urtext antisemitischer Verschwörungstheorien paradigmatisch für eine europäische histoire croisée der antisemitischen Paranoia. Die globale Wirkungsgeschichte dieser Schrift wiederum setzte in der Zeit ein, als aus dem Komplex von Krieg, Revolution und Konterrevolution am Beginn des Zeitalters der Extreme ein radikaler Antisemitismus hervorgegangen war. Zuvor allein in Kreisen der russischen Rechten rezipiert, wurde diese Schrift nun in eine Vielzahl von europäischen Sprachen übersetzt. Seine weltweite Wirkungsgeschichte setzte mit der Gleichzeitigkeit der Übersetzung ins Arabische sowie der massiven Verbreitung durch den Automobilunternehmer Henry Ford in den Vereinigten Staaten von Amerika ein.

Aber nicht nur die Schrift selbst und ihr Verbreitungsgrad machen diese Publikation zu einem Beispiel dafür, wie sehr die Geschichte des Antisemitismus eine europäische Verflechtungsgeschichte ist. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass es sich in Teilen um ein aus französischen Quellen aus den 1860er Jahren geschöpftes Plagiat handelt, die unmittelbar nach den ersten Übersetzungen der Korrespondent der britischen Times in Konstantinopel gewonnen hat. Dass andere Teile wiederum aus einem ebenfalls in den 1860er Jahren erschienenen Roman eines deutschen Schriftstellers stammte, der unter einem englischen Pseudonym veröffentlichte, hatte schon 1920 ein sozialdemokratischer Journalist aus Lübeck, Otto Friedrich, aufgedeckt.

Im Auftrag des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens hat dann im Jahr 1924 der aus Galizien stammende, in Wien und Berlin lebende und ungemein produktive Journalist Binjamin Segel eine grundlegende Abhandlung vorgelegt, in der er die Entstehungsgeschichte der "Protokolle" rekonstruierte, ihren Aufbau und ihre Aussagen akribisch dekonstruierte und diese Schrift - dem Gegenstand angemessen - in mitunter auch ironischem Stil und mit sarkastischer Sprache entlarvte. [1] Diese Demaskierung fiel so grundlegend aus, dass Segel seiner Abhandlung den markanten und treffenden Untertitel "Eine Erledigung" geben konnte. In seinem abschließenden Kapitel "Zur Psychopathologie des Antisemitismus" zeigt Segel, dass sich der Antisemitismus in den "Protokollen" am "idealsten dargestellt" hat, dass die "Protokolle" "der beste und vollendetste Kommentar zum ganzen Antisemitismus, ja zum ganzen vorantisemitischen Judenhaß" seien. (477)

Franziska Krah, die an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über die Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland promovierte, hat im Freiburger Verlag ça ira diese Schrift von Binjamin Segel neu herausgegeben. In ihrer erhellenden Einführung hat sie die internationale Verbreitung der "Protokolle" und ihre "fatale Attraktivität" vorgestellt sowie auf die bemerkenswerte Besonderheit hingewiesen, dass die Sprache des Rassismus nicht verwendet wurde. Darüber hinaus skizziert sie in ihrer Einleitung die Verbreitung der "Protokolle" nach dem Holocaust. In einem Nachwort gibt Krah schließlich einen aufschlussreichen biographischen Einblick in das breite journalistische Engagement des 1866 in Galizien geborenen und 1931 in der Tschechoslowakei gestorbenen Binjamin Segel, der für eine große Zahl von jüdischen Zeitschriften geschrieben und dabei nachdrücklich den Kampf gegen den Antisemitismus geführt hat.

Im Deutschland der Jahre nach 1933 war der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gezwungen, den Abwehrkampf gegen die antisemitischen Unterstellungen und die judenfeindlichen Wahnvorstellungen vom angeblichen Streben der Juden nach der Weltherrschaft abzubrechen. Nicht so in der Schweiz. Hier konnten Vertreter jüdischer Gemeinden wirkungsvoll juristisch gegen die "Protokolle" vorgehen. Im Juni 1933 hatten der Schweizerische Israelische Gemeindebund zusammen mit der Israelitischen Kultusgemeinde Bern Strafanzeige gegen Angehörige rechtsextremer Organisationen wegen Verbreitung der "Protokolle" gestellt. Juristischer Aufhänger war ein nur im Kanton Bern bestehender Paragraph gegen die Herstellung und Verbreitung von "Schundliteratur". Doch ging es denjenigen, die diesen Prozess anstrengten nicht nur um den Nachweis, dass es sich bei den "Protokollen" um "Schundliteratur" handele, und um die Verurteilung derjenigen, die dieses Werk verbreiteten. Sie wollten vielmehr vor Gericht den Nachweis führen, dass die "Protokolle" eine Fälschung seien. Im November 1933 wurde dieser von einer breiten Öffentlichkeit verfolgte Prozess eröffnet. Nach zwei weiteren Verhandlungen im Oktober 1934 und von April bis Mai 1935 fällte das Gericht sein Urteil: Die "Protokolle" seien ein Plagiat, und es handele sich um "Schundliteratur". Zwei der Beklagten wurden verurteilt, drei weiteren konnte keine Schuld nachgewiesen werden; das Gericht sprach sie frei. Die beiden Verurteilten gingen in Revision, und die Richter dieser Instanz bezweifelten nun, dass es sich bei den "Protokollen" um "Schundliteratur" im Sinne des Berner Gesetzes handele. Sie sprachen die Angeklagten im November 1937 frei. Die Kläger ebenso wie die Beklagten boten in diesem Prozess eine große Zahl von Experten auf, wobei es den Anwälten der jüdischen Gemeinden insbesondere darum ging nachzuweisen, dass es sich bei den "Protokollen" um eine Fälschung handele.

Der Historiker Michael Hagemeister, der schon mehrfach zur Entstehung und Verbreitung der "Protokolle" publiziert hat, legt nun eine umfangreiche Gesamtdarstellung vor, inklusive einer umfassenden Chronik des Berner Prozesses sowie einem Dokumentenanhang. Sein Interesse lag vor allem darin, die simplifizierende Erzählung über die Entstehung der Protokolle zu hinterfragen, derzufolge sie in einer Pariser Fälscherwerkstatt der russischen Geheimpolizei entstanden seien.

In seinem einleitenden Kapitel zum Stand der Forschung rekapituliert Hagemeister konzise die reichhaltige Literatur zu den "Protokollen" und weist darauf hin, dass der Berner Prozess trotz seiner enormen Bedeutung für die öffentliche Auseinandersetzung um die "Protokolle" im vorliegenden Schrifttum "zumeist nur knapp behandelt oder beiläufig erwähnt" wird. (19)

Aus diesem Prozess ist ein ungemein umfangreicher Aktenbestand hervorgegangen, der heute im Berner Staatsarchiv deponiert ist, und den Hagemeister minutiös aufgearbeitet hat. Darüber hinaus hat er eine große Zahl von weiteren Archiven in der Schweiz durchforstet. Über diese Quellenbestände hinaus ist er allen nur erdenklichen Querverweisen und archivalischen Bezügen nachgegangen. So hat er nicht nur umfangreiche Recherchen in der Alfred Wiener Sammlung der Universität Tel Aviv durchgeführt, sondern auch zahlreiche Archive in den USA, zumeist von russischen Emigranten angelegte Sammlungen, konsultiert. Schließlich hat er Archive in Deutschland, Großbritannien und Frankreich besucht sowie kleinere Bestände in Österreich, Dänemark und Südafrika durchgesehen. Zugute kamen dem in der Slavistik ausgewiesenen Hagemeister vor allem seine ausgezeichneten Russischkenntnisse, so dass er umfangreiches Material aus russischen Archiven - nicht zuletzt auch private Familiennachlässe - auswerten konnte. Aber damit nicht genug, Hagemeister ist zugleich auch allen Hinweisen über verschollene Archive und Nachlässe nachgegangen. Darüber informiert er ebenfalls in seinem einleitenden Kapitel zur Quellenlage.

In seiner breit angelegten Einleitung stellt Hagemeister zunächst den Inhalt und die frühe Verbreitung dar, geht dann sorgsam den ersten Veröffentlichungen - besondere Relevanz hatte dabei die von dem konservativen Publizisten Sergej Nilus 1904 herausgegebene Ausgabe - und der weltweiten Verbreitung nach. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht vor allem, dass die "Protokolle" im zarischen Russland kaum beachtet wurden. "Ihr weltweiter Siegeszug begann in der krisengeschüttelten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution in Russland, als sie im Gepäck russischer Emigranten in den Westen gelangten." (45) Eine besondere Facette der vielschichtigen Geschichte der "Protokolle" ist deren Resonanz unter deutschen Nationalsozialisten, die Hagemeister von der frühen Rezeption Hitlers in seinem "Mein Kampf" bis zum vehementesten Apologeten der "Protokolle", Alfred Rosenberg, verfolgt.

Wenn auch die Quellen, aus denen die "Protokolle" in Teilen abgeschrieben worden sind, bald nach den ersten Neuveröffentlichungen in den 1920er Jahren aufgedeckt werden konnten, umgab diese Schrift bald ein Kranz von Legenden über Herkunft, Alter und Verfasser. Mitgestrickt haben daran nicht zuletzt die Herausgeber und Kommentatoren. Die nachhaltigsten Wirkungen hatte die in diesem Kontext von selbsternannten Augenzeugen erzählte Geschichte, das Buch sei im Auftrag des Pariser Büros des russischen Auslandsgeheimdiensts zusammengestellt worden.

Neben diesen Einblicken in die Entstehungs-, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der "Protokolle" gibt Hagemeister in seiner Einleitung eine Rekonstruktion des Berner Prozesses. Die Anwälte der Kläger, so Hagemeister, "hatten sich zur Aufgabe gemacht, die Entstehung der 'Protokolle' möglichst lückenlos" zu dokumentieren, sie wollten dabei "alles auf die russische Fährte" schieben. (88) In einem Überblick über die Entwicklung des rechtsextremen Lagers in der Schweiz stellt er im nächsten Schritt dessen Akteure und Aktivisten vor. Minutiös beleuchtet er auch die wichtigsten Akteure auf Seiten der Kläger und liefert in diesem Kontext ein beeindruckendes Porträt eines zwielichtigen Kronzeugen der Kläger.

Auch wenn in den Plädoyers der Kläger bisweilen politische Intentionen stärker im Vordergrund standen als die genaue Aufdeckung der Entstehungsgeschichte der "Protokolle" kam der Richter zu dem Urteil: "Die Protokolle sind eine Fälschung, sie sind ein Plagiat", und es handelt sich um Schundliteratur. (114)

In seinem Fazit kommt Hagemeister zu dem ernüchternden Ergebnis, dass es sich bei der von den Klägern präsentierten Geschichte von der Entstehung der Protokolle in einer Pariser Fälscherwerkstatt des russischen Geheimdiensts "in weiten Teilen" um ein "mit Hilfe zweifelhafter Zeugen sowie durch Selektion und Manipulation der Quellen verfertigtes Konstrukt" handelt. Er zitiert die resignierte Beobachtung des von den Klägern als Zeugen aufgerufenen Leiters des russischen Revolutionsarchivs von 1938, der betonte, dass zwar in keiner Weise bezweifelt werden könne, dass die "Protokolle" eine Fälschung seien, "doch über die Umstände, unter denen dieses gefälschte Dokument verfertigt wurde, über die Personen, die an dieser Fälschung massgeblich beteiligt waren [...], wissen wir auch heute nur sehr wenig".

Nach dieser überaus fundierten Einleitung, in der Hagemeister auch den persönlichen Beziehungen der in der Editionsgeschichte der "Protokolle" sowie der am Prozess beteiligten Personen nachgeht, gibt er eine über dreihundertseitige Chronologie des Berner und des Basler Prozesses, es folgt ein Dokumententeil mit acht für die Forschung über die "Protokolle" relevanten Quellen, von denen drei im französischen Original, vier in einer deutschen Übersetzung aus dem Russischen sowie eines in englischer Sprache abgedruckt sind.

Was diese Publikation von Michael Hagemeister so erhellend macht, sind aber nicht nur die an sich schon überaus verdienstvollen Rekonstruktionen des Berner Prozesses, sondern auch seine Ausführungen über die antisemitische Internationale in der Zwischenkriegszeit, ihre Netzwerke und die von ihr organisierten Internationalen Antisemitenkongresse. Antisemitische Aktivisten aus nahezu allen europäischen Ländern hatten an diesem Netzwerk teil, und unter diesen spielten nicht zuletzt emigrierte russische Antisemiten eine herausragende Rolle. Zahlreiche Akteure auf Seiten der Beklagten gehörten ebenso zu diesen Netzwerken wie die an der publizistischen Erfolgsgeschichte der "Protokolle" beteiligten Personen. So machen diese Ausführungen noch einmal deutlich, wie sehr die "Protokolle" für eine europäische histoire croisée des Antisemitismus stehen.


Anmerkung:

[1] Online einsehbar in der Sammlung Freimann: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/150252

Rezension über:

Binjamin Segel: Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet. Eine Erledigung. Herausgegeben und kommentiert von Franziska Krah, Freiburg: ça ira-Verlag 2017, 517 S., ISBN 978-3-86259-123-7, EUR 29,00

Michael Hagemeister : Die «Protokolle der Weisen von Zion» vor Gericht. Der Berner Prozess 1933-1937 und die «antisemitische Internationale» (= Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte der ETH Zürich; Bd. 10), Zürich: Chronos Verlag 2017, 645 S., ISBN 978-3-0340-1385-7, EUR 54,00

Rezension von:
Ulrich Wyrwa
Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Wyrwa: Die Protokolle der Weisen von Zion (Rezension), in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 3 [15.03.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/03/31694.html


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