Rezension über:

Christopher Clark: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2018, 313 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04830-1, EUR 26,00
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Rezension von:
Hans-Ulrich Thamer
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Ulrich Thamer: Rezension von: Christopher Clark: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 6 [15.06.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/06/32614.html


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Christopher Clark: Von Zeit und Macht

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Nicht um Kontinuität und Wandel in der preußisch-deutschen Geschichte geht es Christopher Clark in seiner neuen Studie, sondern um die Strukturen von Macht und die Formen des Zeitbewusstseins, darum wie in einer bestimmten "Zeitlandschaft" Macht geschaffen und legitimiert wird. Zur Konzeptualisierung seines innovativen Ansatzes stützt sich Clark auf eine Kombination mehrerer theoretischer Tendenzen einer Soziologie der Zeit und fragt am Beispiel von vier verschiedenen Epochen preußisch-deutscher Geschichte nach der Zeitlichkeit politischer Macht; wie die jeweiligen "Begründungen der Macht als Ansprüche an die Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft Ausdruck fanden". (25) Denn dass diejenigen, die Macht ausübten oder beanspruchten, dabei ein spezifisches Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeigten, um damit ihre Herrschaftsansprüche oder -techniken zu legitimieren, ist die zentrale Annahme des in Cambridge lehrenden Historikers, die er an seinem ihm vertrauten Forschungsgebiet, der preußisch-deutschen Geschichte, exemplifiziert. Zur Legitimation ihrer Souveränität stützten sich die vier Machthaber auf sehr unterschiedliche Argumente und Verhaltensformen, die sich auf ein je unterschiedliches Bewusstsein von Zeitlichkeit zurückführen lassen. Diese Annahmen konnten in sprachlicher und schriftlicher Form vorgetragen werden, sie lassen sich aber auch an non-verbalen Ausdrucksformen in Gestalt von öffentlichen Ritualen oder von visueller und metaphorischer Kommunikation ablesen.

Wie immer sie vorgebracht werden, sie zeigen "eine ganz spezifische temporale Struktur." (12) Denn auch "Zeit als Dimension des menschlichen Bewusstseins" (13) ist nicht "homogen", sondern ist etwas, das als kollektive Erfahrung Veränderungen unterliegen kann und darum zeitgebunden ist. Der Wandel des Zeitbewusstseins hatte seine Ursachen in verschiedenen Entwicklungssträngen und führte dazu, dass das Bewusstsein einer Distanz zur Vergangenheit immer größer wurde, dass der Wandel als immer schneller wahrgenommen wurde. Zudem kann die zeitliche Ordnung durch bewusste politische Eingriffe zusätzlich verändert werden und zum Experiment eines neuen Zeitregimes führen. Unabhängig von solchen radikalen Eingriffen, wie sie etwa die Französische Revolution mit der Einführung eines Revolutionskalenders versucht hatte, können Veränderungen der Zeitlichkeit in politische Entscheidungen eingebunden sein.

Die Vielfalt zeitlicher Ordnungsvorstellungen äußert sich in reflektierten Annahmen oder in einem stärker intuitiven Empfinden über den Fortgang der Zeit und die Struktur der erlebten Zeit. Darum unterscheidet Clark zwischen Zeitlichkeit (Temporalität), die auf weniger reflektierten, eher spontanen Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beruht, und Geschichtlichkeit (Historizität), die durch ein ausgeprägtes Bewusstsein von zeitlichem Wandel charakterisiert ist. Was im Denken der Machthaber als dauerhaft oder vergänglich, als Bewegung oder als Stillstand verstanden wurde und wie sich dieses Empfinden in ihrem politischen Handeln und in ihren Formen von Repräsentation ausdrückte, das untersucht Clark an vier Beispielen verschiedener Herrschaftsformen in der preußisch-deutschen Geschichte, vom Großen Kurfürsten über Friedrich II. und Bismarck bis zu Hitler und den Nationalsozialisten. Die Herrschaft des Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelms von Brandenburg, war von den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges und den Auseinandersetzungen mit seinen Landständen geprägt, die ihm die Vergangenheit als Zeiten katastrophaler Gewalt und die Zukunft als Zeit großer Ungewissheit erschienen ließen; in der alles darauf ankam, die Fesseln der Tradition abzulegen, um eine für politische Optionen offene Zukunft zu gewinnen. Ganz anders Friedrich II., der als einziger preußischer Monarch selbst eine Geschichte seiner Herrschaftsgebiete schrieb, die von der Erfahrung der Stabilität und dem Bedürfnis nach Zeitlosigkeit bestimmt war, in der der Staat nicht Motor des Wandels, sondern Garant einer Stasis sein sollte. Noch einmal anders beschreibt Clark die Geschichtlichkeit Bismarcks, der irritiert von den Erfahrungen der Revolution von 1848 den Staatsmann als einen Entscheidungsträger sah, der vom Strom der Geschichte getrieben ist und zugleich immer die Verpflichtung zur Erhaltung bestehender politisch-gesellschaftlicher Bauformen verspürte. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit eines "zeitlosen Fortbestandes des Staates" und der flexiblen Reaktion auf die Wechselfälle von Politik und Gesellschaft, das den Steuermann des Staates immer wieder zwang, aktiv in den Gang der Geschichte einzugreifen, kam für den "Eisernen Kanzler" in der Metapher des Schachspiels zum Ausdruck. Die Karikatur der satirischen Zeitschrift "Kladderadatsch" aus dem Jahr 1875, die Bismarck während des Kulturkampfes gebeugt und angestrengt beim Schachspielen mit seinem Widersacher, Papst Pius IX., zeigt, analysiert Clark sehr überzeugend und originell als symbolische Repräsentation eines charakteristischen Politik- und Geschichtsverständnisses und demonstriert damit die Erkenntnismöglichkeiten, die sich aus der Analyse von Quellen visueller bzw. symbolischer Kommunikation zusätzlich oder als Ersatz für fehlende verbale Festlegungen ergeben können.

Noch eindrücklicher nutzt Clark dieses Verfahren beim vierten Themenfeld, dem Geschichtlichkeitsregime der Nationalsozialisten. Sie behaupteten einen radikalen Bruch mit Vorstellungen des 19. Jahrhunderts und auch mit Bismarcks Historizität, auch wenn die NS-Propaganda, was Clark nicht erwähnt, den Nationalsozialismus gleichzeitig immer wieder als Vollendung des Bismarckschen Nationalstaates darstellte. Auch gab es in der NS-Führung, das sollte man ergänzen, Verfechter eines traditionellen wilhelminisch-imperialen Geschichtsbildes und Politikverständnisses, wie etwa Hermann Göring. Das Diffuse und Widersprüchliche in den Zeitlichkeits-Vorstellungen der Nationalsozialisten, das den permanenten Konkurrenz- und Kompetenzkonflikten innerhalb ihrer Führungsclique entsprach, macht es schwierig, überhaupt einigermaßen repräsentative Quellen für ihre Vorstellungswelt zu finden. Dessen ist sich auch Christopher Clark bewusst, und er bemüht sich daher darum, in den widersprüchlichen politisch-ideologischen Repräsentationen und propagandistischen Aktivitäten der Nationalsozialisten die "zeitlichen Texturen" herauszufinden, von denen er offenbar annimmt, dass diese besser auf das Spezifikum des nationalsozialistischen Zeit- und Politikverständnisses verweisen. Den ideologischen Kern, vor allem von Hitlers Geschichts- und Politikverständnis, sieht er mit guten Gründen in einer Identität zwischen der Gegenwart und einer fernen, gleichsam vorhistorischen Vergangenheit, die zugleich die Orientierung für eine ferne Zukunft bietet, die den Strom des ewigen Wandels stoppen würde. Dass diese ahistorische Utopie eines tausendjährigen Reiches, die Hitler vermutlich aus dem Ideenschutt des 19. Jahrhunderts zusammengetragen hat, eine Reaktion auf den Zusammenbruch des Bismarckschen Reiches im Jahre 1918 sein könnte, muss bezweifelt werden. Es könnte eher eine Reaktion auf die grundsätzliche Erfahrung der Moderne und ihre ungebremsten Veränderungspotentiale sein. Welche Rolle diese Überzeugungen für Hitlers politisches Handeln, das von einer großen taktischen Flexibilität und einem spezifischen Opportunismus bestimmt war, tatsächlich spielten, bleibt hingegen offen und wird auch nicht von Clark angesprochen. Die nationalsozialistischen Vorstellungen von Zeit und Geschichte möchte der Verfasser schließlich aus den Ausstellungsprojekten des Regimes entschlüsseln; zu allererst aus den improvisierten Revolutionsmuseen, die nach der "Machtergreifung" an einigen Orten entstanden, und bald von aufwändigen Propaganda-Großausstellungen abgelöst wurden, die freilich von unterschiedlichen, teilweise miteinander rivalisierenden Entscheidungsträgern des Regimes ausgerichtet wurden, teilweise auch unter Mitwirkung von deutsch-national orientierten Fachvertretern der Geschichtswissenschaft, die nicht alle die Positionen des rassenbiologistischen Denkens des harten Kerns der NS-Ideologen teilten. Das gehört zu der Pluralität und auch der Ungleichzeitigkeit von Zeit- und Geschichtsbildern, die der Verfasser zwar als Faktum anspricht, gerade im Falle des Nationalsozialismus aber nicht weiter ausführt, was sicherlich ein lohnendes Unterfangen wäre.

Auch wenn gerade im Falle der totalitären Ideologiebewegungen des 20. Jahrhunderts noch manches zu untersuchen und miteinander zu vergleichen wäre, hat Clark eine kluge und kenntnisreiche wie richtungsweisende Untersuchung vorgelegt, die zu einem vertieften bzw. erweiterten Verständnis von politischem Handeln in der Geschichte der Neuzeit beitragen wird.

Dass Historiker als Propheten der Vergangenheit ihre Fragen an die Geschichte oft aus ihren Wahrnehmungen der Gegenwart entwickeln oder gerne aktuelle Bezüge herstellen, ist legitim und vielfach versteckt in ihren Publikationen angedeutet. In seinem Epilog geht Clark damit noch sehr viel offener um und nutzt seine historischen Erkenntnisse, um die vergangene Berufung auf eine ferne Zeitlandschaft, die er an seinen Fallbeispielen entdeckt hat, auf die gegenwärtige politische Gegenwart und deren widersprüchliche Zukunftsvisionen zu beziehen. Der Nachhall der britischen Brexitkampagne findet sich in der Bemerkung, dass dies einer Berufung auf eine "idealisierte Vergangenheit" entspräche, und auch anderswo, in Ungarn wie in den USA, konstruierten Machthaber "neue Vergangenheiten", um bestehende Zukunftsvorstellungen zu verdrängen. Auch wenn diese Erfahrungen nicht nur für Clark teilweise bedrängend sind, bleibt es fragwürdig, aber auch anregend, über solche Vergleiche nachzudenken. Sehr spekulativ ist es allerdings, in der Politik des französischen Präsidenten Macron die Politik des Großen Kurfürsten wiederzuentdecken. Auf jeden Fall macht ein solcher Bezug zur Aktualität darauf aufmerksam, dass auch in unserer Gegenwart die Berufung auf gedachte Zeitlandschaften ein gängiges Verfahren politischer Kommunikation und Legitimation sein kann. Dies in seiner anregenden und gut lesbaren historischen Abhandlung exemplarisch vorgestellt zu haben, ist die Leistung von Christopher Clarks "Von Zeit und Macht" .

Hans-Ulrich Thamer