Rezension über:

Thomas Sandkühler / Horst Walter Blanke (Hgg.): Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag (= Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 39), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 272 S., ISBN 978-3-412-50407-6, EUR 39,00
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Rezension von:
Thomas Martin Buck
Institut für Politik- und Geschichtswissenschaft, Pädagogische Hochschule Freiburg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Martin Buck: Rezension von: Thomas Sandkühler / Horst Walter Blanke (Hgg.): Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 10 [15.10.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/10/32542.html


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Thomas Sandkühler / Horst Walter Blanke (Hgg.): Historisierung der Historik

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Es mutet seltsam an, ein Buch zu rezensieren, das mit einem Charlie-Brown-Zitat einsetzt, das man noch aus der eigenen Studienzeit kennt. Ich habe es in der Vorlesung von Ernst Schulin erstmals gehört, einem Freiburger Historiker, der viel über die Geschichte der Geschichtswissenschaft gearbeitet hat. Schulin hatte das Zitat von Jörn Rüsen übernommen, mit dem er wissenschaftlich eng verbunden war und den er auch zu Vorträgen nach Freiburg einlud. So habe ich als Student über Schulin mittelbar Rüsen kennen gelernt. An der Freiburger Universität wurde Rüsen allerdings eher als Geschichtstheoretiker denn als Historiker wahrgenommen.

Das vorliegende, von Thomas Sandkühler und Horst Walter Blanke herausgegebene Buch mit dem Titel "Historisierung der Historik" soll Rüsens Lebenswerk zu seinem 80. Geburtstag würdigen. Zu den vier Festschriften, die es bereits gibt (siehe hierzu die bibliographischen Angaben auf Seite 263), kommt also noch eine fünfte hinzu. Das Sammelwerk umfasst acht Beiträge. Voran steht ein Vorwort (7-9). Beschlossen wird das Buch von einem aktualisierten Schriftenverzeichnis (201-270) und knappen Biogrammen der Beiträgerinnen und Beiträger (271-272). Der Titel macht bereits deutlich, worum es geht: Die Neubegründung der Droysenschen Historik durch Rüsen soll "historisiert", also historisch gewürdigt und wissenschaftsgeschichtlich eingeordnet werden.

"Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug", wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den "Grundlinien der Philosophie des Rechts" formulierte. Historische Betrachtung ist zur Retrospektion verurteilt. Neues wird alt. Rüsens Historik, die in den 1980er Jahren noch etwas durchaus Innovatives war, ist nun selbst Geschichte. Das heißt nicht, dass sie ein 'altes Eisen' ist. Aber es gibt doch eine merkliche Entfremdung. Das sieht jeder, der Einführungen in die Geschichtsdidaktik zur Kenntnis nimmt. Da zählt Rüsen zwar nach wie vor zum Standard. Ich nenne nur die vier Typen historischen Erzählens, die heute in jeder Vorlesung genannt und für die Klausur auswendig gelernt werden. Die schmalen drei Bände der Historik (1983-1989) dürften aber kaum noch gelesen werden. Schon die komplexe Sprache muss für moderne Studierende übersetzt und erklärt werden. Es ist auch die Frage, ob das, was Rüsen geschaffen hat, tatsächlich an die Intention heranreicht, die Johann Gustav Droysen einst mit seiner "Historik" verfolgte. Dessen "Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" sollte den Hörern seiner Vorlesung seit 1858 ja ursprünglich nur als knappes pragmatisches Manuale ("Heftchen") dienen. Rüsens Historik dagegen ist ein elaboriertes Werk, eine geschichtsdenkerische, man möchte fast sagen, philosophische Leistung, die in der Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik bis heute ihresgleichen sucht. [1]

Das ist wohl auch der Grund, warum Rüsen zum fünften Mal eine Festschrift erhält. Es geht weniger um den 'Klassiker', der dieser Würdigung gar nicht mehr bedarf, als vielmehr um die Selbstverständigung der 'Epigonen'. Denn Rüsens Werk, obwohl er seine Gedanken stets weiterentwickelt hat, kann - und das haben die Herausgeber trotz aller Kanonizität erkannt - heute nur noch als wissenschaftshistorische Quelle gelten. Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft sind über sein Werk längst hinweggegangen. Die Fragen, die wir an die Geschichte und die Vergangenheit richten, sind andere geworden. Eine "Festschrift", die ihren Blick dezidiert "zurück nach vorn" (8) richten will, muss sich jenseits von 'Heldenverehrung' mithin die Frage gefallen lassen, wo das, was Rüsen entworfen hat, noch aktuell und für die Gegenwart unserer historischen Disziplin relevant ist.

Wenn man die vorliegenden Beiträge unter dieser Perspektive betrachtet, fällt auf, dass diese Festschrift, was ihre Komposition anbelangt, thematisch einen etwas disparaten Eindruck hinterlässt. Es gibt von jedem etwas: Wissenschaftsgeschichte, Geschichtstheorie und Geschichtskultur. Die acht Beiträge verfolgen methodisch und inhaltlich ganz unterschiedliche Ansätze und stehen relativ unverbunden nebeneinander. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Beiträge dürfte die intellektuelle Verbundenheit mit dem Geehrten und den von ihm entwickelten Theorien und Konzepten sein.

Horst Walter Blanke und Andreas Pigulla weisen darauf hin, welche Rolle Geschichte und Kultur Chinas in der Entwicklung einer aufklärerischen Universalgeschichte spielten (11-30). Friedrich Jaeger rekonstruiert am Beispiel der amerikanischen Presse des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine "Kommunikationsrevolution" (52), die die Grundlagen der bürgerlichen Öffentlichkeit verändert hat (31-52). Hans-Jürgen Lüsebrink widmet sich dem Verhältnis von Geschichte und Fiktion im Bereich historischen und historiographischen Erzählens (69-86). Thomas Sandkühler arbeitet sich wissensgeschichtlich an Rüsens "disziplinärer Matrix der Geschichtswissenschaft" (unter Einbezug der Historik in der DDR) ab (87-125). Holger Thünemann untersucht die Konjunktur des Begriffs "Geschichtskultur" und versucht, eine kritische Bilanz zu ziehen (127-149). Wulf Kansteiner thematisiert mit der sprachwissenschaftlichen beziehungsweise narratologischen Erforschung nicht-fiktionaler (also auch historiographischer) Erzähltexte ein Forschungsdesiderat.

Aus Platzgründen soll hier nur auf zwei der vorliegenden Arbeiten näher eingegangen werden, und zwar aus theoretisch-epistemologischen und didaktisch-bildungstheoretischen Gründen. Es handelt sich dabei um zwei wichtige, aber nicht selten unterbelichtete Dimensionen historischen Denkens, die Rüsen in seinem Werk stets kongenial verknüpft hat.

Angelika Epple, Professorin in Bielefeld, äußert sich - nach dem postcolonial turn - noch einmal theoretisch elaboriert zur "Wahrheitsfrage", das heißt, zum "Faktenbezug der Wissenschaften" (53) und welcher Wahrheitsanspruch damit verbunden wird. Epple stellt die berechtigte Frage, ob Wahrheit vor dem Hintergrund der von ihr beschriebenen Entwicklungen nur noch "partikulär, kultur- und kontextabhängig" (55) definiert werden kann. Ich kann hier nicht auf alle Einzelheiten eingehen, aber Epple macht im Ausgang von Paul Boghossians Buch "Fear of Knowledge" (2006) deutlich, dass es absolute Tatsachen gibt, dass diese Tatsachen aber unterschiedlich beschrieben werden können.

Michaela Maria Hänke, Studiendirektorin und Fachleiterin in Bielefeld, wirft einen ebenso kritischen wie mutigen Blick auf die aktuelle Ausbildungsrealität bundesrepublikanischer Lehrpersonen. Es geht ihr um den ebenso virtuosen wie empörungsbereiten "Diskurs der Hochsensibilität" beziehungsweise der "Hypersensitivität" (173, 170), der das aufklärerische Ideal des Selbstdenkens im Bereich der Pädagogik zunehmend konterkariert, lasse er doch - aus falsch verstandener 'political correctness' - jene jungen Menschen allein, die Lehrerinnen und Lehrern anvertraut sind. Erziehung zu Autonomie, Mündigkeit und Aufbruch werde eher verhindert als unterstützt. Vor diesem von ihr als "reaktionär" (181) gezeichneten Hintergrund entwickelt sie in ihrem (auch sprachlich sehr luziden) Beitrag ein über Rüsen auf Kant rekurrierendes bildungstheoretisches Ideal, das - normativ - den "Ausgang aus unserer selbst verschuldeten Unmündigkeit" fordert. Die Arbeit von Hänke ist in vielerlei Hinsicht exzeptionell. Sie ist ein klassischer Akt von aufklärerischem, öffentlichem Vernunftgebrauch. Schade, dass man solcherart kritisches Denken an Schulen und Universitäten aktuell nur noch äußerst selten vor Augen geführt bekommt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich - bei aller (vielleicht nicht vermeidbaren) inhaltlichen Disparatheit - lohnt, den ästhetisch ansprechenden und sorgsam redigierten Band genau und aufmerksam zu lesen. Vieles von dem, was Rüsen an- beziehungsweise vorgedacht hat, wird hier zwar nicht zu Ende, aber doch auf vielfältige und teilweise beeindruckende Weise weiter- und umgedacht, so dass historisch denkende und lernende Menschen mit Charlie Brown doch vielleicht hoffen dürfen "that yesterday will get better".


Anmerkung:

[1] Von der älteren Geschichtsdidaktik reicht meines Erachtens allenfalls Hans-Jürgen Pandel in dieser Hinsicht an Jörn Rüsen heran. Alle seine Werke sind theoretisch, epistemologisch und philosophisch fundiert. In der modernen Geschichtsdidaktik wäre unter anderem Jörg van Norden zu erwähnen, der in der Tradition Rüsens mit großer analytischer Tiefe über Geschichte und Geschichtsbewusstsein nachdenkt.

Thomas Martin Buck