Rezension über:

Walter Pohl / Clemens Gantner / Cinzia Grifoni et al. (eds.): Transformations of Romanness. Early Medieval Regions and Identities (= Millenium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. / Millenium Studies in the culture and history of the first millenium C.E.; Vol. 71), Berlin: de Gruyter 2018, XIII + 586 S., 8 s/w-Abb., eine Kt., ISBN 978-3-11-058959-7, EUR 129,95
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Rezension von:
Christian Scholl
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Christian Scholl: Rezension von: Walter Pohl / Clemens Gantner / Cinzia Grifoni et al. (eds.): Transformations of Romanness. Early Medieval Regions and Identities, Berlin: de Gruyter 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 1 [15.01.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/01/32840.html


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Walter Pohl / Clemens Gantner / Cinzia Grifoni et al. (eds.): Transformations of Romanness

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Nachdem sich die Frühmittelalterforschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten intensiv mit der ethnischen Identität "barbarischer" Völker auseinandergesetzt hat, steht aktuell die Frage im Vordergrund, was konkret es nach dem Ende des Westreiches im Jahr 476 bedeuten konnte, "Römer" bzw. "römisch" zu sein. Diese Frage steht im Zentrum des hier zu besprechenden Sammelbandes, der - wie zahlreiche Arbeiten zu den "barbarischen" gentes - aus den ungemein reichhaltigen Aktivitäten der Wiener Schule um Walter Pohl hervorgegangen ist. Der umfangreiche, durchgehend auf Englisch verfasste Band besteht aus 27 Artikeln, die in acht Kapitel gegliedert sind. Im Folgenden soll neben der ausführlichen Einleitung jeweils ein Beitrag aus jedem Kapitel kurz besprochen werden.

In seiner Einleitung stellt Walter Pohl heraus, dass Begriffe wie Romanus oder Romanitas bereits zahlreiche verschiedene Bedeutungen tragen konnten, solange das Römische Reich noch bestand, und dass die Bedeutungsvielfalt nach 476 um ein Vielfaches zunahm. So konnte die Zuschreibung "römisch" Pohl zufolge u.a. eine städtische, also auf die Stadt Rom bezogene Identität beschreiben, wie auch eine politische, rechtliche, militärische, territoriale, imperiale, kulturelle, religiöse und schließlich auch ethnische. Einen bedeutsamen Wandel in der Wortbedeutung sieht Pohl um das Jahr 600, als "Römischsein" nicht mehr primär von der Loyalität zum Kaiser abhing, sondern zunehmend vom 'rechten' Glauben.

Im ersten thematischen Beitrag des Bandes, der wie Pohls Einleitung dem Kapitel "Aspects of Romanness in the early Middle Ages" zugeordnet ist, befasst sich Guy Halsall mit der römischen Identität und ihren Wandlungen im frühmittelalterlichen Nordgallien. Ähnlich wie Pohl sieht auch Halsall eine entscheidende Änderung um das Jahr 600 einsetzen, indem er konstatiert, dass eine spezifisch römische Identität in der Region auch nach den Barbareneinfällen des fünften Jahrhunderts fortbestanden habe, dass diese aber mit den Justinianischen Kriegen und den danach einsetzenden Transformationsprozessen des 6. Jahrhunderts zum Erliegen gekommen sei. Halsalls Beitrag sticht aus der Sammlung von 27 Artikeln aus dem Grund besonders heraus, da er darin die bisherigen Arbeiten Walter Pohls kritisiert bzw. diese einer dekonstruktivistischen Lektüre unterzieht. So moniert Halsall, dass sich Pohls bisherige Arbeiten zu ethischen Identitäten im frühen Mittelalter auf die Gruppen bezogen hätten, die schon immer als ethnische Gruppierungen bezeichnet worden seien, nämlich die "Barbaren", wodurch die Gefahr eines Zirkelschlusses bestünde. Ob diese Kritik zutrifft, soll und kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Allerdings ist aus Sicht des Rezensenten lobend hervorzuheben, dass das Herausgebergremium einen derart kritischen Beitrag in den Band aufgenommen hat. Auf diese Weise werden zwei differierende Sichtweisen präsentiert, auf deren Grundlage jeder Leser/jede Leserin eigene Schlüsse ziehen kann, was deutlich produktiver ist, als abweichende wissenschaftliche Meinungen auszublenden oder mit Polemik zu überziehen.

Im zweiten Abschnitt "The Late Antique and Byzantine Empire" geht M. Shane Bjornlie der Frage nach, wen Ammianus Marcellinus, einer der bekanntesten Historiographen der Spätantike, als "Römer" bzw. "Barbaren" definierte. Die Antwort fällt dabei recht klar aus: Als "Römer" bezeichnete Ammianus nur jemanden, der als Soldat in der Armee kämpfte, während die Feinde des Imperiums für ihn "Barbaren" waren. Ethnie oder Herkunft spielten folglich nur eine untergeordnete Rolle, denn Ammianus zufolge war - von einigen Ausnahmen abgesehen - ein Mann, der in der Armee diente, Römer, auch wenn er fränkischer, gotischer oder alemannischer Herkunft war.

Das dritte Kapitel handelt von der Stadt Rom. Rosamond McKitterick betont in ihrem Beitrag, dass römische Identität im Frühmittelalter zu einem großen Teil von der Religion bestimmt wurde. Dies zeigt sie daran, wie Liturgie, Rituale und liturgische Texte im Liber Pontificalis, der in Rom entstand und eine dezidiert christliche Geschichte der Stadt präsentiert, wiedergegeben werden. "Römer" waren demnach im frühen Mittelalter all diejenigen, die der "römischen" Liturgie folgten, so wie sie im Liber Pontificalis ihren Niederschlag fand. Indem sich die römische Liturgie gerade im Westen und Norden über das Gebiet des ehemaligen Römischen Reiches hinaus ausdehnte, wurden im Verlauf des Frühmittelalters Menschen zu "Römern", deren Herkunftsländer nie Teil des Reiches gewesen waren.

Annick Peters-Custot nimmt im folgenden Teil "Italy and the Adriatic" das byzantinische Süditalien des 9. bis 11. Jahrhunderts in den Blick. Darin stellt sie heraus, dass vom Zentrum Konstantinopel aus wenn überhaupt nur ein Teil der Einwohner Süditaliens als Römer betrachtet wurde; im 11. Jahrhundert galten die süditalienischen Reichsangehörigen gar nur als Halb-Römer und Halb-Barbaren. Wie Peters-Custot weiter ausführt, bezeichneten sich die zum Byzantinischen Reich gehörenden Süditaliener auch selbst nie als "Römer". Wenn in italo-byzantinischen Quellen von "Rom" bzw. "Römern" die Rede ist, sind damit - wie in den lateinischen Quellen Italiens - die Stadt Rom, ihre Einwohner oder der Papst gemeint.

Im nächsten Abschnitt "Gallien" widmet sich Stefan Esders dem römischen Recht als Identitätsmarker im Gallien des 5. bis 9. Jahrhunderts. "Römersein" war hier v.a. eine rechtliche Kategorie, sei es, dass man nach römischem Recht lebte oder als "Römer" in den Leges barbarorum erwähnt wurde. Auch nach Ende des Westreiches war es somit weiterhin möglich, rechtlich gesehen Römer zu werden. In Gallien lebte römisches Recht insbesondere im Süden fort, wo noch unter den Westgoten Gesetzessammlungen zusammengestellt wurden, die auf römischem Recht basierten und die explizit für den römischen Teil der Bevölkerung bestimmt waren. Gerade in Aquitanien galt römisches Recht auch in den folgenden Jahrhunderten unter den Franken, was den dortigen Bewohnern ein hohes Maß an Autonomie garantierte. Römischem Recht zu unterstehen konnte somit zu einem regionalen Identitätsmarker werden, aus dem nicht zuletzt handfeste politische Vorteile erwuchsen. In den nördlichen und östlichen Teilen des Frankenreiches, wo keine starke römische Rechtstradition überdauerte, wurden "Römer" dagegen eher Bürger zweiter Klasse, was sich in deutlich niedrigeren Wergeldraten für Römer zeigte.

Im sechsten Kapitel zur Iberischen Halbinsel setzt sich Javier Arce mit der Frage auseinander, wer sich im spanischen Westgotenreich als Römer bezeichnete bzw. wer als solcher bezeichnet wurde. Obwohl Arce zufolge kein Zweifel daran besteht, dass auch nach der Einwanderung der Westgoten im 6. Jahrhundert der Großteil der Bevölkerung aus lateinsprachigen Hispano-Römern bestand, lassen sich diese in den schriftlichen Quellen der Westgotenzeit kaum nachweisen. Anhand einiger Beispiele zeigt Arce auf, dass Hispano-Römer wichtige Funktionen in der Armee oder am königlichen Hof einnehmen konnten, ihnen aber der Zugang zum Königsthron verwehrt blieb, da dieser Mitgliedern der gens Gothorum vorbehalten war. Wenn in Quellen des Westgotenreiches von "Römern" die Rede ist, sind damit in den meisten Fällen die byzantinischen Truppen gemeint, die Justinian nach Spanien entsandt hatte und die ca. 70 Jahre im Süden der Halbinsel stationiert blieben.

Im Abschnitt "Northern Peripheries: Britain and Noricum" beschäftigt sich Ingrid Hartl mit dem im Frühmittelalter neu entstandenen Ethnonym "Walchen", das im Germanischen zunächst die benachbarten Römer bezeichnete. Später fand das Wort als "Vlachen" Eingang in slawische Sprachen oder als "wealh" ins Altenglische. Bei diesen Wörtern handelte es sich meist um Fremdbezeichnungen, die in Kontaktzonen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen von der politisch-kulturell dominanten Mehrheit für die Minderheit verwendet wurde.

Im achten und letzten Kapitel "From Roman Provinces to Islamic Lands" stellt Roland Steinacher die Frage, was es bedeutete, als Römer im antiken und frühmittelalterlichen Nordafrika zu leben. In der Antike, so Steinacher, gab sich die lokale Aristokratie betont "römisch", was sich u.a. in Sprache, Verhalten und Erscheinungsbild zeigte, um sich von niedriger gestellten Einheimischen abzugrenzen. Mit der Herrschaftsübernahme der Vandalen 429 änderten sich auch die Zuschreibungen dessen, was als "römisch" galt. Dies zeigt sich beispielsweise im Werk des Prokopius von Caesarea, dem zufolge sich die Vandalen wie dekadente Römer benahmen, während er die lateinsprachigen Bevölkerungsteile, die in vorvandalischer Zeit als Römer galten, als Libyer bezeichnet. Da für Prokop diejenigen "Römer" waren, die dem Kaiser in Konstantinopel gehorchten, wurden diese "Libyer" nach der Eroberung des Vandalenreiches unter Justinian wieder "Römer".

Insgesamt ist der vorliegende Band für alle Forscher*innen, die sich mit Identitäten, Prozessen der Selbst- und Fremdwahrnehmung oder ethnischen Gruppierungen im frühen Mittelalter beschäftigen, uneingeschränkt zu empfehlen. Durch die Beiträge, die eine Vielzahl von Regionen Europas bzw. der Mittelmeerwelt abdecken, wird hier erstmals ein breiter Überblick darüber gegeben, was es alles bedeuten konnte, nach dem Untergang Westroms "Römer" bzw. "römisch" gewesen zu sein. Nach zahlreichen Arbeiten zu den "Barbaren" und "barbarischen" Identitäten ist es überfällig gewesen, endlich auch die "Römer" des frühen Mittelalters in den Blick zu nehmen. Dass mit diesem einen Band nicht alle Fragen zur römischen Identität sowie zum Bedeutungsgehalt des Wortes "Römer" beantwortet sind, ist selbsterklärend. Daher ist es umso erfreulicher, dass die Herausgeber im Vorwort einen ähnlich gelagerten Band für die nahe Zukunft ankündigen, in dem auf der Grundlage archäologischer Funde der Frage nachgegangen werden soll, was in Spätantike und Frühmittelalter als "römisch" galt.

Christian Scholl