Rezension über:

Maria Christina Müller: Zwischen "Wahn" und "Wirklichkeit". Teufel, Gott und Magnetismus in der Psychiatrie Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Göttingen: Wallstein 2019, 592 S., 4 Kt., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3416-8, EUR 64,00
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Rezension von:
Christina Vanja
Universität Kassel
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Empfohlene Zitierweise:
Christina Vanja: Rezension von: Maria Christina Müller: Zwischen "Wahn" und "Wirklichkeit". Teufel, Gott und Magnetismus in der Psychiatrie Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Göttingen: Wallstein 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 5 [15.05.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/05/33534.html


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Maria Christina Müller: Zwischen "Wahn" und "Wirklichkeit"

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Seit der englische Historiker Roy Porter 1985 dazu aufgerufen hat, sich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive intensiver mit den Erfahrungen, Sichtweisen und Handlungen kranker Menschen auseinanderzusetzen, sind auch im deutschsprachigen Raum erkenntnisreiche Studien zur Patientengeschichte entstanden. Neben Briefen, Tagebüchern, Bittschriften und publizierten "Beobachtungen" stehen auch Krankenakten, insbesondere psychiatrische, im Zentrum der Forschung. Aufgrund der besonderen Geschichte psychiatrischer Leiden, die oft lange Klinikaufenthalte nach sich ziehen und die vielfach eine biografische Dimension besitzen, sind für viele Heil- und Pflegeanstalten überaus komplexe Krankenakten überliefert. Als historische Quellen bilden sie selbst für Lesegeübte keine einfache Materie, eröffnen allerdings, wie die Forschung in den vergangenen Jahren eindrucksvoll gezeigt hat, neue sozial-, rechts- und kulturhistorische Einblicke, die weit über das Medizinische hinausgehen.

In diese Forschungslinie reiht sich auch die nun im Druck vorliegende Augsburger Dissertation von Maria Christina Müller ein. Ihr Ziel ist es, am konkreten Beispiel einer psychiatrischen Anstalt die in Krankenunterlagen beschriebenen Wahnthemen über einen längeren Zeitraum hinweg zu analysieren. Müller hat sich hierbei für die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in Bayrisch-Schwaben entschieden. Diese psychiatrische Einrichtung wurde 1849 durch die königlich-bayerische Regierung zunächst für 80 Pfleglinge im ehemaligen Benediktinerkloster Irsee eröffnet und aufgrund wachsenden Bedarfs 1876 durch einen Neubau in Kaufbeuren um 140 Plätze erweitert. Die Krankenakten lagern noch heute im dortigen Bezirkskrankenhaus. Als "longue durée" für die Analyse nimmt Müller mit den Jahren von der Gründung bis zum Beginn der "Aktion T4" im Jahr 1939 eine Zeitspanne von rund neun Dezennien in den Blick. Für diesen Zeitraum zieht sie (aus einer nicht genannten Gesamtzahl) eine zufallsgenerierte Stichprobe von 2.800 Patientenakten. In rund einem Drittel, nämlich in 924 Krankenakten, findet sie Beschreibungen von "Wahn". Diese Akten wertet Müller quantitativ und qualitativ aus. Warum Müller die im Bundesarchiv zugänglichen Kaufbeurer Akten der "Aktion T4", Dokumente zu Krankenmordopfern, die meist viele Jahre in der Heil- und Pflegeanstalt gelebt hatten, nicht ebenfalls heranzieht, geht leider aus den Erläuterungen nicht hervor. Eine entsprechende Einbeziehung hätte möglicherweise in Bezug auf die untersuchte Anstalt die Frage klären können, welche Bedeutung die Diagnose "Wahn" für die Auswahl der Tötungsopfer hatte.

Aufgrund der Analyse der ausgewählten Krankenakten stellt Müller die (Wahn-)Themen "Technik", "Religion", "Fernwirkung" (zum Beispiel: Okkultismus) sowie "Gift" heraus und geht deren Erwähnung in Artikeln der "Augsburger Neuesten Nachrichten", der meistgelesenen Tageszeitung der Region, nach. Ihren Vergleich zwischen Krankenakten und Zeitungsartikeln ordnet Müller zudem nach "Stadt" und "Land", "Geschlecht" und "Konfession" und unterscheidet die Jahrzehnte vor und nach 1900, was angesichts des Modernisierungsschubs um die Jahrhundertwende auch sinnvoll erscheint. Juden, die häufig spezifische Vorbehalte gegenüber einem Anstaltsalltag ohne koschere Speisen hatten, bleiben in der Untersuchung leider unberücksichtigt; hierzu kündigt Müller jedoch eigene Studien an. Insgesamt wird deutlich, dass die in den Akten notierten Wahnvorstellungen ein breites Spektrum zeitgenössischen Wissens aufgriffen. Religiöse (vor allem in volksfrommer Tradition stehende) Wahnthemen spielten durchgängig eine Rolle - und traten nach 1900 bis in die 1930er Jahre hinein verstärkt auf. Sie finden sich erwartungsgemäß insbesondere auf dem Land. Dagegen existierten Befürchtungen, durch neue Technologien wie Telegrafie, Elektrizität oder Fotografie beobachtet und ferngesteuert zu werden, vor allem bei Städtern. Die bei den Kranken verbreitete Angst, vergiftet zu werden, setzte sich in den Vorbehalten gegenüber der in der Anstalt verabreichten Kost und den dort applizierten Medikamenten fort. Wie bei den anderen Themen bildeten auch hier Zeitungsnachrichten, die über die Folgen mangelnder Hygiene, über Toxisches sowie über schädliche Medikamente berichteten und vermutlich auch andere Menschen beunruhigten, ein Pendant zu entsprechenden Wahnvorstellungen. Dieser Teil der Studie ist durchaus überzeugend und dürfte zu entsprechenden Analysen für andere Aktenbestände anregen. Wünschenswert wäre darüber hinaus eine Fortführung des Vergleichs für weitere Themen, darunter insbesondere die Spiegelung politischer Nachrichten in den Wahndarstellungen, denn im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in den Vorkriegsjahren der nationalsozialistischen Herrschaft veränderte sich die Gesellschaft ebenfalls deutlich. Auch hätte man gerne mehr über die bildlichen Darstellungen und die oft kunstvoll gestalteten Briefe der an "Wahn" Leidenden erfahren (99).

Ein dritter, recht umfangreicher Teil der Arbeit widmet sich dem psychiatrischen Fachdiskurs zum Thema "Wahn" vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit um 1930. Diese Darstellung, die ebenfalls zur Interpretation der Krankenakten beitragen soll, lässt die Rezensentin allerdings etwas ratlos zurück. Die Zahl der von Müller zitierten Publikationen ist enorm, aber die Autorin fügt Aussagen ganz unterschiedlicher Provenienz zusammen. Neben historischen Lehrbüchern stammen sie vielfach aus soziologischen und philosophischen und nicht aus quellennahen historischen Fachdisziplinen. Ausgewertet werden unter anderem die Fachperiodika "Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin" (ab 1844) und "Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten" (ab 1869), in denen vor allem Universitätsprofessoren schrieben. Dass die Anstaltspsychiater mit vielen dieser gelehrten Diskurse nichts anfangen konnten, hat für das Werk von Wilhelm Griesinger, das heute als Zeichen einer psychiatrischen Wende gilt, bereits Kai Sammet gezeigt [1]. Wenig Anklang fanden später auch die Freud'sche Psychoanalyse und die Phänomenologie von Karl Jaspers, wie Müller zutreffend darstellt. Bedeutend dagegen wurden die Diagnose- und Prognoseschemata von Emil Kraepelin, der selbst Anstaltsarzt gewesen war. Es fragt sich also, auf welcher Basis die Ärzte in Kaufbeuren ihre Entscheidung trafen, ob bei einem neuen Patienten ein - und, wenn ja, welcher - "Wahn" vorlag. Es scheint, dass sich Müller hier Diskursen anschließt, die (im Gefolge von Michel Foucault) von der "Deutungsmacht" des (psychiatrischen) Arztes ausgehen. Schon die in der Einleitung von der Autorin vorgestellte Krankengeschichte aus dem Jahr 1925 macht jedoch deutlich, dass Aufnahmevorgang und Diagnosefindung sehr komplex waren und, wie Salina Braun und Stefanie Coché [2] zeigen konnten, stets unter Vorbehalt erfolgten. Vor allem die Angehörigen, die in der überwiegenden Zahl der Fälle den Aufnahmeantrag gestellt hatten, prägten demnach durch ihre Erzählungen, die zugleich auf das gesamte Verhalten der betreffenden Person Bezug nahmen, die Diagnose und die weitere Krankengeschichte der Patienten.

In den noch kleinen Anstalten Mitte des 19. Jahrhunderts (so auch in Kaufbeuren-Irsee) konnten die Anstaltsärzte zweifellos die Patienten über längere Zeiträume beobachten und sich ein eigenes Bild von ihnen machen. Mit der neuen Sozialgesetzgebung, mit Industrialisierung und Urbanisierung waren die Mediziner der ländlichen Heil- und Pflegeanstalten jedoch zunehmend damit überfordert, sich individuell den Insassen zuzuwenden, wie Bernd Walter für Westfalen eindrücklich gezeigt hat [3]. In der täglichen psychiatrischen Praxis spielten neben dem Wissen um die jeweilige Vorgeschichte wohl insbesondere Erfahrungswissen und Menschenkenntnis (die auch aus belletristischer Lektüre gewonnen werden konnte) eine große Rolle. Dass es den Anstaltsärzten vor allem um die Profilierung des eigenen Faches ging (37), ist eine These Müllers, die ohne weiteren Nachweis nicht überzeugt [4]. Das hohe Ansehen der Anstaltsdirektoren, die nicht selten mit ihren Familien innerhalb der Einrichtungen lebten und die ihr ärztliches Handeln als Leben für die Kranken verstanden, ist zumindest für das 19. Jahrhundert bekannt [5]. Gerne hätte man statt der umfassenden Diskursgeschichte mehr, als es der kurze biografische Anhang zu einem Teil der Ärzte vermag [6], über die Mediziner in Kaufbeuren-Irsee, ihre Bibliothek sowie ihren kollegialen Austausch auf Fachtagungen und ihre Publikationen erfahren. Dieses Interesse gilt nicht zuletzt dem seit 1929 amtierenden Anstaltsdirektor Valentin Faltlhauser, der während der NS-Zeit nicht nur "T4"-Gutachter wurde, sondern auch seine eigenen Patienten durch systematischen Essensentzug verhungern ließ.

Die Gesamtbeurteilung der Studie Müllers fällt zwiespältig aus. Der Vergleich zwischen Krankenakten und Zeitungsnachrichten ist innovativ und überzeugt mit der These, dass Wahnvorstellungen eng mit der Lebenswirklichkeit der Protagonisten und den Diskussionsthemen der Zeit verbunden waren. Bei der Darstellung des akademischen Wahndiskurses hingegen hätte die Rezensentin eine eigene kritische Meinung der Autorin mit deutlicherem Bezug auf den Untersuchungsbereich und die Quellen der Arbeit erwartet. Der Anspruch, "Ärzte als Akteure des Wissens" (28), die über "Wahn" oder "Normalität" der Patienten entscheiden, zu zeigen, hätte, unter Ausschluss anderer Einflüsse (der Familien, der Gemeinden und Gerichte, aber auch des Pflegepersonals), eines genauen Nachweises aus den Krankenakten selbst bedurft.


Anmerkungen:

[1] Kai Sammet: Über Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland. Wilhelm Griesinger im Streit mit der konservativen Anstaltspsychiatrie 1865-1868, Hamburg 2000.

[2] Salina Braun: Heilung mit Defekt. Psychiatrische Praxis an den Anstalten Hofheim und Siegburg 1820-1878, Göttingen 2008; Stefanie Coché: Psychiatrie und Gesellschaft. Einweisungspraxis im "Dritten Reich", in der DDR und der Bundesrepublik 1941-1963, Göttingen 2017.

[3] Bernd Walter: Fürsorgepflicht und Heilungsanspruch: Die Überforderung der Anstalt?, in: Franz-Werner Kersting / Karl Teppe /Bernd Walter (Hgg.): Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993, 66-97.

[4] So hat Irmtraut Sahmland bereits für das 18. Jahrhundert ganz ähnliche ärztliche Untersuchungsmethoden aufzeigen können: "Welches ich hiermit auf begehren Pflichmäßig attestiren sollen". Geisteskrankheiten in Physikatsgutachten des 18. Jahrhunderts, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 25 (2006), 9-58.

[5] Gerald Dobler: Von Irsee nach Kaufbeuren. Die Erweiterungsplanungen der Kreisirrenanstalt ab 1865 bis zum Neubau der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren 1872, Irsee 2013.

[6] Es werden nur drei Personalakten aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv zitiert, die Frage, ob weitere überliefert sind, bleibt offen.

Christina Vanja